# taz.de -- Ein Jahr nach dem „Wir schaffen das“: Die neue Form der Flücht… | |
> 2015 halfen Ehrenamtliche beim Ankommen, heute ermöglichen sie das | |
> Bleiben. Drei Erfahrungsberichte. | |
Bild: Heute brauchen Geflüchtete vor allem Hilfe beim Deutschlernen oder bei B… | |
## „Die Scheu vor der Sprache überwinden“ | |
Ich konnte mir die Zeit für das Ehrenamt neben Studium und Job frei | |
einteilen. Seit Anfang Januar war ich zweimal die Woche in der | |
interkulturellen Begegnungsstätte Allerweltshaus in Köln-Ehrenfeld, als | |
Unterstützung für einen Deutschkurs. Ich hatte früher schon Nachhilfe | |
gegeben und kann gut erklären, wie Sprachen funktionieren. | |
Da stand ich nun, zwölf Augenpaare auf mich gerichtet. Ich improvisierte. | |
Erst die Vorstellungsrunde. „Hallo, ich heiße Martina, ich bin 25 Jahre alt | |
und ich bin Studentin. Wie heißt du?“ Eben hatte der junge Mann mit den | |
lockigen Haaren noch lautstark mit seinem Sitznachbarn auf Arabisch | |
gesprochen. Jetzt klang er vorsichtig. „Ich heiße Jamil, ich komme aus | |
Ägypten. Ich bin in Deutschland seit vier Monaten.“ | |
Es ging reihum, die Männer stammten aus Syrien, Algerien, Ghana, Nigeria, | |
Marokko. Nach der Stunde steuerte einmal ein bulliger Mann direkt auf mich | |
zu. „Ich gehe“, rief er. „Du gehst. Wir?“ „Gehen.“ Ich musste lache… | |
stützte mich auf Kurshefte aus den Schulbuchverlagen. Oft kam es zu | |
kreativen Worterfindungen. „Ich habe früher als Auto gearbeitet … als | |
Automechaniker!“ | |
Am letzten Kurstag holten wir Kuchen. Die Verkäuferin wartete, bis der Satz | |
„Ich hätte gerne vier Nussschnecken“ stand. Perfekt lief es mit der Sprache | |
noch nicht; aber die erste Scheu vor dem Deutschen, der Behördensprache, | |
war weg. Wenn ich wieder in Köln bin, würde ich gerne weiter unterrichten. | |
Martina Kollross, 25 Jahre, ist Journalistin aus Köln | |
## „Patenschaften sind zeitintensiv“ | |
Ich war schon länger Mitglied bei Pro Asyl. Vor zweieinhalb Jahren habe ich | |
mit der Freiwilligenarbeit angefangen, in einem Übergangswohnheim bei mir | |
in der Nähe in Teltow bei Potsdam. Ich fand Mitstreiterinnen, wir boten | |
einmal in der Woche offenen Deutschunterricht für alle mit Kaffee und | |
Kuchen an. | |
Ich lernte meine Muttersprache neu kennen, fing an, schwierige Wörter zu | |
singen, wurde Profi der pantomimischen Darstellung von Begriffen, Farben, | |
Gefühlen. Aus den Treffen entwickelten sich persönliche Beziehungen, die zu | |
verbindlichen Kontakten führten. Wir machen Ausflüge, kochen, essen und | |
tanzen mit Gästen. So entstanden Patenschaften für ein paar junge Männer, | |
im Alter meiner erwachsenen Söhne. | |
Ich begleitete sie in der Vorbereitung der Anhörung beim Bundesamt für | |
Migration, gab Einzelnachhilfe, ging mit ihnen zur Ausländerbehörde, zum | |
Jobcenter, ins Krankenhaus. Die Patenschaften sind zeitintensiv, ich nehme | |
mir wöchentlich einen Nachmittag Zeit, hinzu kommen die Termine bei den | |
Ämtern und die Nachhilfe. Einer meiner Schützlinge fand durch mich einen | |
Ausbildungsplatz. | |
Die Freiwilligenarbeit hat sich mit der Lebenssituation der Flüchtlinge | |
entwickelt und verändert. Jetzt sind die Hauptthemen der Familiennachzug, | |
die Finanzierung von Deutschkursen und natürlich die Wohnungssuche. | |
Jutta Henglein, 58 Jahre, ist bildende Künstlerin aus Kleinmachnow in | |
Brandenburg | |
## „Gemeinsam schrauben geht auch ohne Worte“ | |
Es haben sehr viele Menschen spontan Hilfe angeboten, als im August 2015 | |
die Notunterkunft bei uns in der Nachbarschaft eröffnet wurde. Das Gebäude | |
hatte einige Jahre leergestanden. Binnen einer Woche lebten 1.000 Menschen | |
aus 21 Nationen dort. Mit der Fahrradwerkstatt fingen wir rund zehn Tage | |
nach Eröffnung an. Zunächst zu dritt, mit ein paar Fahrradtaschen voller | |
Werkzeug, um vor einer leeren Garage mit Bewohner*innen an gespendeten | |
Fahrrädern zu werkeln. Gemeinsam schrauben geht auch ohne Worte. | |
Zu unserem einjährigen Bestehen schauten wir auf eine voll ausgestattete | |
Werkstatt und ein Team von rund 20 deutschen Helfer*innen, vom 18-jährigen | |
Abiturienten bis zum 74-jährigen Rentner. Gut 500 Räder haben wir | |
ausgegeben. Wir haben Preise und Fördergelder bekommen, planen die nächsten | |
Jahre, wollen die Werkstatt langfristig der Regie der Bewohner*innen | |
übergeben. Wir haben Familien und einzeln Reisende kennengelernt. Wir haben | |
uns gefreut, wenn wieder eine Familie aus der Unterkunft aus- und in eine | |
Wohnung einziehen konnte. | |
Manche Beziehungen sind tiefer geworden, andere an der Oberfläche | |
geblieben. Wir können das nicht erzwingen. Aber wir sind da, jeden Mittwoch | |
und jeden Sonntag. Wenn ich am S-Bahnhof ein bekanntes Gesicht sehe, dann | |
begrüßen wir uns mit Handschlag. Das ist doch was. Genug? Nein. Aber etwas, | |
was wir als Nachbarn tun können und wollen. | |
Bernd Pickert, 50 Jahre, ist Journalist aus Berlin | |
30 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Bernd Pickert | |
Jutta Henglein | |
Martina Kollross | |
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