# taz.de -- Soziale Rechte versus Mildtätigkeit: „Ehrenamt braucht Kritik“ | |
> Helfen ist gut, aber der neoliberale Staat missbraucht die Freiwilligen | |
> bewusst, sagt Maria Ebert von der Gewerkschaft für Ehrenamt und | |
> freiwillige Arbeit. | |
Bild: Wenn der Staat versagt: Freiwillige HelferInnen in Hamburg sortieren Klei… | |
taz: Frau Ebert, die Gewerkschaft für Ehrenamt und freiwillige Arbeit ist | |
ein Zusammenschluss von ehrenamtlich Tätigen – und kämpft letztlich für die | |
Abschaffung des Ehrenamts. Warum? | |
Maria Ebert: Die Gewerkschaft wurde im September von einigen Ehrenamtlichen | |
gegründet, weil viele von uns die Erfahrung gemacht haben, dass wir unsere | |
Arbeit, auf die andere Menschen angewiesen sind, aufgrund von Zeit- oder | |
Geldknappheit nicht gut machen können. Zum Beispiel beim Medibüro Berlin, | |
das illegalisierten Personen und solchen ohne Krankenversicherung | |
medizinische Versorgung vermittelt: Da können schon mal Operationen nicht | |
realisiert werden oder ein Diabetiker bekommt seine Medikamente nicht, weil | |
das Geld nicht reicht oder die Ärzt*innen, die mit uns kooperieren, keine | |
Zeit haben. Diese Dinge passieren, weil Ehrenamt von Spendengeldern, Zeit | |
und Motivation der Freiwilligen abhängt. | |
Trotzdem ist Ehrenamt doch wichtig. | |
Ja, und es übernimmt wichtige Funktionen für das Zusammenkommen von | |
Menschen, die schon lange hier leben, und neu Angekommenen, wie etwa bei | |
den Deutschkursen oder Pat*innenschaften, die die Willkommensinitiativen | |
organisieren. Wenn die Gewerkschaft sagt, wir wollen das Ehrenamt | |
überflüssig machen, heißt das nicht, wir wollen es komplett abschaffen. | |
Aber es sollte ein Add-On sein, etwas Schönes, das man machen kann – nicht | |
etwas, das notwendig ist, um gesellschaftliche Ausschlüsse aufzufangen. | |
Wo kann man die Grenze ziehen? Was kann vom Ehrenamt gemacht werden und was | |
nicht? | |
Das muss eben diskutiert werden. Die Willkommensinitiativen, die MediNetze, | |
die Rechtsberatungsstellen und viele einzelne Freiwillige fangen ja gerade | |
erst an, sich als Gewerkschaft zu organisieren und zu verhandeln, welche | |
Forderungen in einzelnen Situationen gestellt werden müssen. Andererseits | |
ist die Debatte nicht neu und es gibt soziale Grundrechte, zu denen das | |
Recht auf gesundheitliche Versorgung, auf angemessene Wohnung, auf Arbeit, | |
Bildung und kulturelle Teilhabe zählen, die nicht von ehrenamtlicher | |
Bereitschaft abhängen dürfen. | |
Was ist mit Deutschkursen? Sie nannten Sie als positives Beispiel. Aber ist | |
das nicht auch etwas, das der Staat machen sollte? | |
Beides ist richtig. Ich nannte sie als Beispiel für die positiven Effekte | |
von Ehrenamt. Letzten Sommer, als viele Geflüchtete ankamen und es recht | |
chaotisch war, kam es dazu, dass Deutschkurse von Freiwilligen übernommen | |
wurde. Das hatte dann eben auch die schöne Funktion, dass Beziehungen | |
entstanden und sich unterstützende Netzwerke bildeten. Langfristig sollten | |
das aber ausgebildete und bezahlte Lehrkräfte übernehmen. Die Gewerkschaft | |
kritisiert nicht, dass Freiwillige Deutschkurse geben, sondern dass sie das | |
tun müssen, weil es sonst niemand macht beziehungsweise niemand bezahlt. | |
Sie sagen, der Staat nutzt die engagierten Leute aus, um Geld zu sparen? | |
Unsere Kritik geht noch weiter: Das Ehrenamt wird gezielt gefördert seit | |
Jahrzehnten. Die Zivilgesellschaft wird gefordert und als Ressource bewusst | |
genutzt. Das ist Teil der neoliberalen Politik. | |
Man könnte aber auch sagen, Sie bauen einen Schein-Gegensatz auf: Hier der | |
Staat, der für alles sorgen soll, dort seine BürgerInnen, die sich um | |
nichts kümmern müssen. Warum sollen sich die beiden Seiten nicht ergänzen? | |
Die Gewerkschaft erklärt die aktuelle Notwendigkeit des Ehrenamts damit, | |
dass der Sozialstaat abgebaut ist und die Ressource „Gemeinschaft“ gezielt | |
in den Dienst genommen wird. Das heißt nicht, dass wir zurück wollen zum | |
Alten oder es eine Utopie gibt, in der der Staat alles macht. Es gibt in | |
der Gewerkschaft Gruppen, die sich lieber weiterhin selbst organisieren | |
wollen, weil sie dann ihre Arbeit nach ihren Vorstellungen gestalten | |
können. Unsere gemeinsame Forderung als Gewerkschaft ist nur, dass es | |
anders sein muss als jetzt gerade, wo Menschen, die sich das nicht | |
ausgesucht haben, nur noch Leistungen zweiter Klasse oder sogar gar keine | |
Leistungen bekommen. | |
Also mehr Staat, weniger Ehrenamt? | |
Weniger Notwendigkeit des Ehrenamts. Weniger Willkür. Mit der Organisation | |
der Gewerkschaft versuchen wir, das karitative Helfen, diesen Gedanken der | |
Wohltätigkeit, zu politisieren. Und uns zu vernetzen, um zu Protestieren, | |
die Missstände aufzuzeigen und gemeinsam Lösungsvorschläge für bestimmte | |
Bereiche zu erarbeiten. | |
Am Montag machen Sie eine Demo zum Deutschen Theater, wo der Deutsche | |
Ehrenamtspreis verliehen wird. Finden Sie, man sollte so einen Preis nicht | |
annehmen? | |
Nein, solche Formen von Anerkennung sind unter den gegebenen Bedingungen | |
richtig. Wir wollen die Veranstaltung an sich nicht schlecht machen, | |
sondern ergänzen durch unseren Protest, damit das Ehrenamt nicht einseitig | |
dargestellt wird. Es braucht die Kritik an den Bedingungen, die das | |
Ehrenamt notwendig machen. | |
3 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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