Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 20 Jahre Medibüro für Nichtversicherte: „Wir wollen uns überfl…
> Seit 20 Jahren vermittelt das Medibüro medizinische Hilfe für
> nichtversicherte Menschen. Mitstreiter Burkhard Bartholome über Ziele,
> Erfolge und Rassismus.
Bild: Hier wird behandelt, auch ohne Papiere!
taz: Herr Bartholome, das Medibüro vermittelt nichtversicherte MigrantInnen
an Ärzte, die sie kostenlos behandeln. Am heutigen Freitag feiern Sie
20-jähriges Bestehen. Aber eigentlich gibt es gar keinen Grund zum Feiern,
oder?
Burkhard Bartholome: Genau. Wir haben von Anfang an gesagt, dass es unser
Ziel ist, unsere Arbeit überflüssig zu machen. Dass der Staat die Aufgabe
übernehmen muss, das Recht auf Gesundheit für jeden wahr zu machen. Bisher
sind wir diesem Schritt nicht wirklich näher gekommen.
Wie viele Menschen kommen pro Monat zu Ihnen?
Im vorigen Jahr haben wir etwa 1.500 Menschen an Ärzte vermittelt. Aber der
Bedarf ist sicherlich größer. Ich erwarte auch, dass viele der neu in die
Stadt Geflüchteten im Laufe der nächsten Zeit abgeschoben werden sollen und
untertauchen werden – und dann vermehrt bei uns auftauchen.
Wie viele Ärzte machen bei Ihnen mit?
Wir kooperieren mit etwa 150 Einrichtungen. Fast alle Fachrichtungen sind
vertreten. Aber wir haben einen permanenten Mangel, vor allem an Zahn-,
Haut- und Augenärzten. Auch die Allgemeinärzte sind sehr stark belastet.
Vor Kurzem wurde das Asylrecht dahingehend verschärft, dass Flüchtlinge mit
Traumatisierungen einfacher abgeschoben werden können. Merken Sie schon
Auswirkungen?
Wir haben schon immer relativ viele Leute, die psychische Probleme haben,
und die wir in psychotherapeutische Einrichtungen verweisen. Wir werden
auch oft gefragt, ob wir Gutachten für Menschen mit posttraumatischen
Belastungsstörungen beauftragen können, weil sie in Gefahr sind,
abgeschoben zu werden. Obwohl eine Abschiebung für diese Menschen oft
höchst dramatisch ist, werden immer wieder PatientInnen abgeschoben – trotz
psychologischer Gutachten, die auf die hohen Risiken hinweisen. Durch die
Asylrechtsnovelle wird diese Situation weiter verschärft, weil die
Anerkennung der Gutachten noch schwerer wird.
Es gibt ja auch Verbesserungen wie die elektronische Gesundheitskarte, die
jetzt in Berlin nach Hamburger und Bremer Modell eingeführt wurde.
Das haben wir seit Jahren gefordert. Aber erst jetzt, da die Bürokratie mit
den Flüchtlingen überfordert war, ist das möglich geworden. Nur: Diese
Verbesserung betrifft lediglich Asylsuchende – und wir haben ja im Medibüro
noch andere Klientengruppen: die Illegalisierten und die EU-Bürger ohne
Krankenversicherung.
Derzeit gibt es viel ehrenamtliche Hilfe für Flüchtlinge. Manche
kritisieren, dass die freiwilligen Helfer Aufgaben übernehmen, die Sache
der öffentlichen Hand sind. Dieses Dilemma gilt auch für das Medibüro.
Das ist ein ständiges Thema für uns und der Grund, warum wir uns am Freitag
in der Veranstaltung kritisch mit dem Ehrenamt und unserer eigenen Rolle
auseinandersetzen wollen. Wir kritisieren den Staat für sein Versagen – und
ebenjener Staat verweist auf uns und sagt, die Leute sind ja versorgt! Und
gibt uns dafür auch noch Preise! Aber es ist ja ein Unterschied, ob
Menschen auf unsere humanitäre Hilfe angewiesen sind oder ob sie ein Recht
auf eine Gesundheitsversorgung haben. In dem Zusammenhang spielt auch der
Rassismus der Helfenden eine Rolle. Das mag in vielen
Willkommensinitiativen kein Problem sein. Aber zum Teil schimmert es schon
durch, dass manche nur bestimmten Leuten helfen möchten, den Syrern
vielleicht, aber eben nicht allen.
Das sagen auch einige Oranienplatz-Leute: Wir bekommen nichts von der
Hilfsbereitschaft ab, weil wir politische Forderungen stellen – und die
Deutschen lieber dankbaren, weißen Flüchtlingen helfen.
Ja, aus diesem Umfeld kommt auch das Statement, dass sich die
weiße-Mittelklasse-Unterstützer-Schicht freut, dass sie helfen kann – es
aber nicht mag, wenn sie auf grundsätzliche Probleme in unserem System
gestoßen wird, die dieses ganze Elend erst produzieren. Dass wir alle durch
das Leben in dieser Gesellschaft die Fluchtursachen erst schaffen, sei es
durch Waffenexport, Leerfischen der Meere für unsere Tiefkühltruhe oder
Freihandelsabkommen, die das wirtschaftliche Ungleichgewicht aus
Kolonialzeiten zementieren. Eigentlich müsste man da ansetzen. Aber das
können wir gut ausblenden, wenn wir nur karitative Unterstützungsarbeit
machen. Wir helfen den Leuten – und müssen nichts an der Gesamtsituation
verändern. Das finde ich ein sehr interessantes Argument.
Welches Motiv haben die ÄrztInnen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten?
Das ist sehr unterschiedlich. Manche tun das aus politischen Gründen
ähnlich den unseren, andere haben eher einen berufsethischen oder
humanitären Ansatz. Zum Teil gibt es da auch Beschwerden, wenn
PatientInnen als zu fordernd wahrgenommen werden. Nach dem Motto, die
sollen doch dankbar sein, dass sie unentgeltlich behandelt werden! Wir
versuchen dann in Gesprächen die Position zu vermitteln, dass diese
Menschen den gleichen Anspruch auf Gesundheitsversorgung haben wie alle
anderen.
Was sind Ihre konkreten politischen Forderungen: Soll jeder, der hier lebt,
eine normale Krankenversicherungskarte bekommen?
Das ist letztlich unsere Forderung und auch das, was der UN-Pakt über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 besagt, den
Deutschland unterzeichnet hat: Jeder Mensch soll die medizinische und
soziale Versorgung bekommen, die in dem Land, in dem er lebt, möglich ist.
Das bedeutet: Für EU-Leute muss das EU-Sozialrecht so angepasst werden,
dass sie sich hier versichern können. Für Asylsuchende haben wir jetzt zwar
in manchen Kommunen und Bundesländern die Chipkarte, aber zusätzlich sollte
das Asylbewerberleistungsgesetz abgeschafft werden
… weil das nur die Behandlung akuter Krankheiten erlaubt!
Man kann schon einiges mehr darüber abrechnen. Aber das Gesetz verunsichert
viele Ärzte, sodass sie oft Behandlungen, die medizinisch sinnvoll wären,
doch nicht machen. Tatsächlich wurde allerdings in der letzten
Asylrechtsverschärfung die etwas erweiterte medizinische Versorgung erneut
eingeschränkt, so dass die Leistungen de facto auf akute Erkrankungen und
Schmerzzustände beschränkt werden. Und für Papierlose muss die
Übermittlungspflicht weg …
… die besagt, dass das Sozialamt, das Krankenscheine ausstellt, die
Ausländerbehörde informieren muss.
Genau. Eine pragmatische Lösung, die wir hierzu seit Jahren fordern, ist
ein anonymer Krankenschein. Dazu gibt es gerade ein Pilotprojekt in
Hannover und Göttingen. Papierlose Menschen werden bei einer Anlaufstelle
unter ärztlicher Aufsicht registriert. Damit dürfen diese Daten nicht an
die Ausländerbehörde weitergeleitet werden, weil sie unter die ärztliche
Schweigepflicht fallen.
Kritiker wenden ein: Ein Krankenschein für alle ist nicht bezahlbar und ein
„Pull-Faktor“, also ein Anreiz für Flüchtlinge, nach Deutschland zu komme…
Was erwidern Sie darauf?
Es gab erst kürzlich wieder eine Studie, die nachweist, dass die ärztliche
Versorgung nach Asylbewerberleistungsgesetz teurer ist als eine normale
Versorgung. Für den angeblichen Pull-Faktor gilt: Es gibt haufenweise
Untersuchungen, die zeigen, dass der keinerlei Rolle spielt. Leute kommen
nicht hierher, weil sie soziale Leistungen bekommen oder die medizinische
Versorgung gut ist. Umgekehrt haben Asylrechtsverschärfungen noch keinen
abgehalten zu kommen. Auch jetzt war nur entscheidend, dass die Grenzen
dicht gemacht wurden – mit der Folge, dass die Leute wieder über das
Mittelmeer kommen und ertrinken.
22 Apr 2016
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
Flüchtlinge
Ärzte
Krankenkassen
Krankenversicherung
Niedersachsen
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
Schwerpunkt Flucht
Bremen
Ehrenamt
Kreuzberg
Flüchtlinge
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gesundheit und Armut: Selbständig ohne Krankenschutz
Soziale Initiativen beklagen die Not von Menschen ohne Krankenversicherung
in Deutschland. Betroffen sind auch verarmte Selbstständige.
Ohne Krankenversicherung in Berlin: Gesundheit für fast jeden
Eine neue Anlaufstelle hilft Menschen ohne Krankenversicherung: Doch der
anonyme Krankenschein für Illegalisierte kommt erst ab 2019.
Anonymer Krankenschein: Ohne Papiere keine Medizin
Niedersachsen stampft die Finanzierung anonymer Krankenscheine ein – zu
Lasten papierloser Menschen. Kritik von Ärzten und Flüchtlingsrat.
Anonymer Krankenschein in Berlin: Keine Angst mehr vorm Arztbesuch
Menschen ohne Papiere trauen sich oft nicht zum Arzt. Initiativen fordern
schon lange die Einführung des anonymen Krankenscheins – jetzt soll er
kommen.
Krankenschein für Papierlose: Legal krank
Nach Niedersachsen will auch Berlin den anonymen Krankenschein einführen
und damit die Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere erleichtern.
Keine Medizin für Menschen ohne Papiere: Humanität ausgesetzt
Das Gesundheitsamt Bremen hat die „Humanitäre Sprechstunde“ geschlossen –
ohne Ankündigung und ersatzlos. Papierlose sind auf die Hilfe angewiesen
Soziale Rechte versus Mildtätigkeit: „Ehrenamt braucht Kritik“
Helfen ist gut, aber der neoliberale Staat missbraucht die Freiwilligen
bewusst, sagt Maria Ebert von der Gewerkschaft für Ehrenamt und freiwillige
Arbeit.
Zwei Jahre Räumung Oranienplatz: Die unsichtbaren Flüchtlinge
Die meisten Flüchtlinge, die einst den Platz besetzt hatten, kämpfen immer
noch um legalen Aufenthalt – und nicht wenige verzweifeln daran.
Initiative zeigen für Flüchtlinge: Das Gefühl, willkommen zu sein
Viele wollen Flüchtlingen helfen, wissen aber nicht, wie, wo und was
sinnvoll ist. Ein Abc von Augenhöhe bis zu Hause.
Oranienplatz-Flüchtlinge: Die Allerletzten in der Schlange
Der Senat verweigert den Flüchtlingen vom Oranienplatz reguläre
medizinische Hilfeleistungen – obwohl sie laut Gesetz einen Anspruch darauf
hätten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.