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# taz.de -- Ein Jahr nach „Wir schaffen das“: In der Welt der einander Frem…
> Abschied von Vertrautheiten: Wie andere Menschen und Kulturkreise uns ein
> neues gesellschaftliches Verhältnis zum Vertrauten suchen lassen.
Bild: Lebt von der Öffnung für andere Kulturkreise: der Karneval der Kulturen…
Lange Zeit habe ich dieser Gesellschaft überhaupt kein Stück vertraut; und
ich weiß, dass ich damit nicht allein gewesen bin. Gnadenlose
Rüstungsspiralen, Anti-AKW-Straßenschlachten, im intellektuellen Gepäck
philosophische Entfremdungsszenarien und Kafkas Seekrankheit auf dem Lande
– klar war, dass nur den Alternativen zum Bestehenden und Etablierten zu
trauen war. Vor allem, man hatte auch einfach keine Lust, dieser
Gesellschaft zu vertrauen; Vertrauen und Misstrauen sind ja nicht einfach
die Reflexe äußerer Erfahrungen, es gibt in ihnen auch etwas subjektiv
Gewolltes.
Von heute aus gesehen erscheint das Leben in der alten Bundesrepublik so
grundsolide und sicher, und es gibt schon Umfragen, nach denen die Mehrheit
der Deutschen sich wieder in die Zeit vor 1989 zurücksehnt. Damals aber
erschien vieles vor allem seltsam – phony, wie es im „Fänger im Roggen“
heißt – und eng. Und dahinter rumorten, mindestens bis zur Weizsäcker-Rede
zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, noch Zweiter Weltkrieg und Holocaust.
Irgendetwas mit diesem Land und seiner Normalität konnte nicht stimmen.
Bald ein Jahr ist es her, dass Angela Merkel den längst legendären Satz
„Wir schaffen das“ sagte, und es mag zunächst seltsam wirken, jetzt nicht
gleich mit den dramatischen Debatten in einem durch die sogenannte
Flüchtlingskrise, wie Herfried und Marina Münkler nun in „Die neuen
Deutschen“ schreiben, „gespaltenen Land“ zu kommen, sondern mit dem
Vertrauensthema und mit Erinnerungen an die 80er Jahre. Aber erstens, was
ist Merkels Satz anderes als die Aufforderung: Vertrau mir! Und zweitens
gibt es eine große Falle. Man muss aufpassen, nicht in das Denkschema eines
durch die jüngsten Ereignisse hervorgerufenen Vertrauensverlusts zu
verfallen. Als ob alles im Lot gewesen wäre und nur durch die vielen
Flüchtenden an unseren Grenzen die große Verunsicherung über uns
hereingebrochen sei. In Wahrheit war gesellschaftliches Vertrauen immer
unsicher und wird immer unsicher sein.
Um noch einmal den Bogen zurückzuschlagen, meine systematische
Vertrauensunlust verschwand erst, als im Umfeld der Hamburger Hafenstraße
klar wurde, dass die Obrigkeit wegen besetzter Häuser keinen richtigen
Bürgerkrieg riskieren würde, und als ein paar Jahre später, nach
anfänglichem Zögern, die Zivilgesellschaft deutlich gegen die Pogrome in
Rostock-Lichtenhagen und anderswo Stellung bezog. Kurz, als die
Fundamentalliberalisierung unserer Gesellschaft wirklich durchgekommen war
und auch im größer und wieder eine Nation gewordenen Deutschland gegen
nationalistische Umtriebe verteidigt wurde.
## Das Fremde und Feindliche
Wenn jetzt also gesagt wird, dass gesellschaftliches Vertrauen mit der
Öffnung unserer Gesellschaft für andere Menschen und Kulturkreise auf dem
Spiel steht, muss gesagt werden, dass für viele Menschen gesellschaftliches
Vertrauen durch solche Öffnungen überhaupt erst möglich geworden ist. Die
Öffnungen treffen sich darin, Deutsche sein zu können, ohne so furchtbar
deutsch sein zu müssen.
Wie entsteht gesellschaftliches Vertrauen? Der Soziologe Niklas Luhmann
sagt mit dem ihm eigenen kühlen Blick über das Vertrauen in der modernen
Gesellschaft: „Vertrautheit und Vertrauen müssen […] ein neues Verhältnis
wechselseitiger Stabilisierung suchen, die nicht mehr in der unmittelbar
erlebbaren, traditionell bestimmten Nahwelt gründet, also nicht mehr durch
eine Grenze zum Unvertrauten und daher Fremden und Feindlichen abgesichert
werden kann.“ Das Zitat stammt aus Luhmanns Schrift „Vertrauen“, die man
als Hintergrundlektüre der gegenwärtigen Debatten empfehlen kann. Nicht
weil sie Patentrezepte zur Herstellung von Vertrauen enthalten würde;
sondern weil es in ihr etwas über die Bedingungen gesellschaftlichen
Vertrauens zu lernen gibt.
„Grenze zum Unvertrauten“ – zunächst einmal ist das Zitat ein Prunksatz
gegen die AfD, die ja gerade behauptet, Vertrauen durch angeblich
vertraute, da traditionelle Nahwelten (Abendland, deutsche Sprache) und
Abgrenzung zum Fremden (Islam) herstellen zu können. Wohin das im Zweifel
führen würde, hat man auf den Fotos aus Nizza gesehen: zu Polizisten, die
Frauen am Strand bedrängen, ihre Burkinis auszuziehen. Ein lächerlicher
Anblick. Ganz abgesehen davon, dass Traditionen nie unhinterfragt
vorhanden sind und auch in den einheitlichen Nahwelten deutscher Dörfer
ziemlich viel Zwist herrschen kann – mit Homogenitätsforderungen und
Abgrenzungen kann man vielleicht Gehorsam und Unterwerfung fördern, aber
kein Vertrauen.
Das Zitat enthält aber auch eine Botschaft an alle liberalen und
aufgeschlossenen Kreise. Denn es beschreibt auch, wie schwierig es ist,
Vertrauen zu erzeugen, und dass es ohne Vertrautheit eben doch nicht geht.
Die wahren Ursachen hinter solchen Phänomenen wie Populismus und
Protestparteien sehen viele Beobachter in Abstiegsängsten und
gesellschaftlichem Auseinanderdriften; der „kleine Mann“ werde nicht
beachtet. Zumindest mit ins Kalkül ziehen sollten sie, dass der Abschied
von Vertrautheiten immer Veränderungsstress erzeugt, und seien es imaginäre
Vertrautheiten. Wenn es einen rationalen Kern hinter dem Populismus gibt,
dann liegt er, glaube ich, eher in solchen Veränderungskrisen.
Vertrautheit und Vertrauen müssen ein neues Verhältnis suchen – von da aus
wird Luhmann beim Systemvertrauen landen, das allerdings (Stichwort
„Lügenpresse“) derzeit massiv infrage gestellt wird. Wie abhängig man nic…
nur davon ist, dass die Leute bei öffentlichen Krisen nicht gleich
durchdrehen und in die Schützengräben springen, sondern auch vom
Funktionieren der Institutionen des Systems, hat die Flüchtlingskrise
zumindest auch gezeigt. Wo sie versagten, wie beim Lageso in Berlin, konnte
man sich nur in gelähmtes Entsetzen flüchten; oder in Eigeninitiative, die
keineswegs nur deshalb betrieben wurde, weil sie, wie zu lesen war, „hipp“
gewesen sei, sondern vielmehr deshalb, weil sie etwas Anständiges gewesen
ist. Jedenfalls, auch wenn das Systemvertrauen nicht immer da ist, gibt es
doch immerhin in weiten Kreisen der Bevölkerung einen Wunsch zu ihm hin.
## Burka und Burkaverbot
Interessant an dem Zitat ist auch das Wort „suchen“. Ein Philosoph wie
Jürgen Habermas, in vielem Luhmanns Gegenspieler, sieht Vertrauen letztlich
nur dann begründbar, wenn die Gesellschaft sich eine vernünftige Ordnung
gegeben hat – auf die man, jetzt wieder mit Luhmann gesprochen, lange
warten kann, sehr lange. Für Luhmann dagegen ist Vertrauen ein Mechanismus
der Subjekte, mit der „Tatsache“ umzugehen, „dass man in einer
überkomplexen Welt ohne zureichende Erkenntnis handeln und sich handelnd
engagieren muss“ (so wie, nebenbei gesprochen, Angela Merkel an jenem 31.
August 2015, als sie ihren Satz sagte). Wenn Kontrolle unmöglich ist, ist
doch Hoffnung besser.
Nun sind wir bei der Einschätzung von Talkshows und Debatten in den
sozialen Medien erst einmal alle Habermasianer: Unvernünftig sind immer die
anderen. Aber vielleicht kann man mit ein wenig Luhmann’scher Distanz doch
etwas hoffnungsvoller darauf gucken: denn Reden schafft Vertrauen.
Was dem einen vertraut ist und der anderen nicht, das prallt in den
sozialen Netzwerken aufeinander. Klar ist das anstrengend und kommt viel
rhetorischer Mist dabei heraus. Aber es kommt auch zu Einsichten in die
Kompliziertheit der Lage. Der Tweet, dass man gleichzeitig gegen die Burka
und gegen das Burkaverbot sein kann, ging gerade erst bei Twitter herum.
Das war wenigstens für mich ein Moment, in dem Vertrautheit und Vertrauen
ein neues Verhältnis auch gefunden haben.
31 Aug 2016
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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