# taz.de -- Politischer Pop aus Kurdistan: Klangkunst und Aktivismus | |
> Die Produzentin Antye Greie hat einen Sampler aufgenommen, der die | |
> Kämpferinnen im kurdischen Rojava zu Wort kommen lässt. | |
Bild: Kämpferinnen der kurdischen Kampfeinheit YPG in Kobanê | |
Die Geschichte dieses Musiksamplers beginnt am 13. November 2015. Nicht nur | |
Paris, ganz Europa ist an diesem Tag der Anschläge voller Trauer. Für die | |
Musikproduzentin Antye Greie ist der Abend ein Schlüsselmoment. Greie, die | |
in Ostdeutschland aufgewachsen ist und sich in der internationalen | |
Clubszene einen Namen gemacht hat, will mehr über die Hintergründe der | |
Attacken erfahren. | |
„Ich arbeite öfter in Paris“, erzählt sie ein knappes halbes Jahr später… | |
Skype-Gespräch, während sie gerade auf Tour ist. „Kurz zuvor war ich noch | |
mit meiner Tochter in Paris gewesen. Der Krieg kam gefühlt näher. Die | |
furchtbare Situation der vielen Emigranten, die im Mittelmeer ertrinken, | |
hat mich beschämt.“ Greie will sich ein Bild machen von der | |
unübersichtlichen Lage in Syrien. Sie will verstehen, wie der IS dort | |
agiert. Und wer ihn bekämpft. | |
Noch in der Nacht der Anschläge – sie ist mal wieder auf Tour, in Japan – | |
verfolgt sie jeden Tweet im Netz. Über den Hashtag #twitterkurds liest sie | |
Berichte vom Kampf der Kurden gegen den IS, gegen al-Nusra und andere | |
Kriegsparteien. „Drei Monate lang habe ich mich dann in diesen Konflikt | |
vertieft“, sagt sie, „ich wollte mir klar darüber werden, wo ich politisch | |
stehe.“ | |
Greie, Jahrgang 1969, versteht sich als feministische Künstlerin. Mit der | |
Band Laub und als AGF (für ihren früheren Namen Antye Greie-Fuchs) wurde | |
sie in der elektronischen Szene bekannt. Greie ist ein Kind der Berliner | |
Neunziger. Zusammen mit female:pressure, einem internationalen Netzwerk | |
weiblicher DJs, kämpft sie für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der | |
elektronischen Musikkultur. | |
## „Lichtschimmer“ Rojava | |
Die Musikerin beginnt sich für den Kampf der kurdischen Frauen zu | |
interessieren. Sie liest Berichte darüber, wie Frauen im Kriegsgebiet | |
verfolgt, vergewaltigt und versklavt werden. Und sie liest von jenen, die | |
auf Seiten der Verteidigungseinheiten YPG und YPJ kämpfen. Greie hört nun | |
auch zum ersten Mal den Namen einer Region, die sie nun im Gespräch einen | |
„Lichtschimmer“ nennt: Rojava. | |
Rojava (gesprochen „Roschahwa“, „der Westen“ als Westen des kurdischen | |
Siedlungsgebiets) nennen die Kurden drei an die Türkei grenzende Kantone im | |
Norden Syriens (Efrîn, Cîzîre und Kobanê). | |
Im Westen bekannt ist vor allem die Stadt Kobanê, die eine Zeitlang | |
mehrheitlich vom IS besetzt war und die die YPG – mit der Unterstützung | |
anderer Truppen – Anfang 2015 zurückeroberte. Das gesamte nördliche | |
Grenzgebiet wird heute überwiegend von kurdischen Kräften gehalten. | |
Faktisch sind die drei Kantone Rojavas, in denen etwa 4,6 Millionen | |
Menschen leben, kurdisches Autonomiegebiet. | |
Von der „Rojava Revolution“ wurde gesprochen, als kurdische Organisationen | |
hier von Ende 2013 an nach eigenem Verständnis eine staatenlose Demokratie | |
aufbauen wollten – multiethnisch, multilingual, selbstverwaltet. | |
Das Modell Rojava wird bis heute als „Revolution der Frauen“ bezeichnet. | |
Nicht nur, weil Soldatinnen hier in Verteidigungsarmeen gegen den IS und | |
andere Kriegsparteien kämpfen. Auch, weil in diesen drei Regionen für | |
Frauen, die Gewalterfahrungen hinter sich hatten, Schutz- und Freiräume | |
entstanden sind – Zentren und Dörfer für Kurdinnen, Jesidinnen, | |
Araberinnen, Turkmeninnen und assyrische Christinnen. | |
## Gesampelte O-Töne | |
„Wer hätte gedacht, dass die Revolution in einem arabischen Kriegsgebiet | |
beginnt?“, fragt Antye Greie nun, als sie Ende April vor einer Webcam in | |
einem Hotel in London sitzt. Sie hat zusammen mit [1][female:pressure] | |
einige Monate darauf verwendet, [2][die Kompilation „Music, Awareness & | |
Solidarity with Rojava Revolution“] zu kuratieren. Zwölf international | |
gefragte Produzentinnen – allesamt Frauen – haben dafür Tracks mit | |
elektronischer Musik aufgenommen. | |
Elektronisches Knistern und Klackern, Beats und Bässe unterlegen darauf | |
zumeist gesampelte O-Töne kurdischer Frauen, die von ihrer Situation im | |
Krieg berichten. Einem der entstandenen Frauendörfer im Gebiet Rojava – | |
„The Village Project“ – kommen die Erlöse zugute. | |
Nach den „Paris Attacks“, wie die zwischen Englisch und Deutsch switchende | |
Greie die Anschläge nennt, nahm die Idee für den Sampler Konturen an. Die | |
Bloggerin Dilar Dirik, die als Doktorandin in Cambridge zu der Situation | |
der kurdischen Frauen forscht und im Netz über diese berichtet, sei wichtig | |
gewesen auf dem Weg dorthin, sagt Greie. | |
„Mir fiel auf, dass über Syrien in den meisten Medien nur aus der | |
männlichen Sicht berichtet wird. Sie aber schildert den Krieg aus | |
weiblicher, aus feministischer Perspektive.“ Greie gelang es, im Netz einen | |
direkten Kontakt zu den Frauen von Rojava herzustellen. Greie sprach mit | |
Kämpferinnen, skypte mit Frauen im Kriegsgebiet; sie selbst, die seit | |
einigen Jahren auf der finnischen Insel Hailuoto lebt, war bislang noch | |
nicht dort. | |
Einen weiteren Schlüsselmoment gab es dann, als Greie einen Artikel auf der | |
Internetplattform Open Democracy las. Eine dort interviewte | |
Rojava-Aktivistin äußerte nur eine einzige Bitte: „Berichtet über uns! Die | |
Welt weiß nichts von uns.“ | |
## Kompilation für Pussy Riot | |
Bereits 2013 hatte female:pressure, das aus 1.700 Frauen besteht, eine | |
Kompilation zugunsten von Pussy Riot zusammengestellt – warum nicht nun für | |
einen anderen Zweck? Mitte Dezember startete Greie einen Rundruf über den | |
Verteiler des Netzwerks. | |
Ein Kern von zehn Musikerinnen und Interessierten bildete sich. Das erste | |
Stück nahm Anfang des Jahres Sky Deep auf. Die US-amerikanische Produzentin | |
ist privat mit einer kurdischen Kämpferin befreundet. In dem Song hört man, | |
wie diese von der Situation der kurdischen Frauen berichtet – dazu | |
erklingen Beats und elektronische Geräusche. | |
„Dieser Track hat uns alle gekickt“, sagt Greie. Es habe sie schon lange | |
gereizt, Klangkunst und Aktivismus zu verbinden. Greie selbst nahm nun auch | |
ein Stück auf: „Thoughts on Rojava“, in dem unter anderem Bloggerin Dirik | |
von Gender Equality, Ökologie und „radikaler“ Demokratie spricht. | |
Ganz unumstritten war das Engagement für Rojava bei female:pressure nicht. | |
Nicht alle halten Rojava für ein basisdemokratisches Projekt: Die PKK-nahe | |
Kurdenpartei PYD und ihre militärischen Arme – die YPG und YPJ – sind die | |
bei weitem einflussreichsten Kräfte in Rojava und folgen streng der | |
ideologischen Linie Abdullah Öcalans. | |
Nach Berichten von Human Rights Watch und Amnesty soll es 2014 und 2015 | |
seitens der YPG/YPJ immer wieder zu willkürlicher Gewalt gegenüber | |
politischen Gegnern und zu Kriegsverbrechen gekommen sein, auch der Einsatz | |
von Kindersoldaten wurde genannt. Die Vorwürfe halten an, derzeit ist etwa | |
von Zwangsrekrutierungen von Frauen die Rede. Nicht PKK-nahe Kurden seien | |
geflohen, sagen Journalisten vor Ort. | |
## Wichtige Debatte | |
„Wir haben diskutiert, was wir von der PKK oder der kurdischen Frage halten | |
sollen. Einige wussten nicht, wie sie sich zur Gewalt, die von vielen | |
verschiedenen Parteien ausgeht, positionieren sollen“, sagt Greie. „Ich | |
verstehe das und finde die Debatte super wichtig.“ Nur wenige Musikerinnen | |
habe die unklare politische Lage zum Rückzug veranlasst. Für sie selbst | |
stehe die Solidarität mit den Frauen im Vordergrund. | |
Einige Verdienste um die Gleichberechtigung in der Region sind | |
unbestritten: In Rojava strebt man derzeit zum Beispiel in den | |
Kantonsverwaltungen einen Frauenanteil von 40 Prozent an. | |
Führungspositionen sollen paritätisch und doppelt besetzt werden. | |
Es gibt eine eigene Nachrichtenagentur für Frauen (JINHA), in der Schule | |
ein Fach namens „Jeneoloji“ („die Wissenschaft der Frau“) sowie | |
Frauenzentren, Schulen, Sport- und Kulturangebote. Zuvor undenkbar für die | |
Frauen in dieser Region. | |
Der Sampler wurde schließlich im Frühjahr pünktlich zum Frauentag fertig. | |
Er bildet mit dieser Art Feldforschungs-Pop fast ein eigenes Genre. In | |
einem Track etwa hört man die Musikerin, Lyrikerin und Aktivistin Viyan | |
Peyman singen, [3][das Sample ist aus einem tausendfach geklickten | |
YouTube-Video, in dem sie das völlig zerstörte Kobanê besingt.] | |
Peyman ist inzwischen im Kampf gegen den IS gefallen. Nicht nur in diesem | |
Fall ist die Musik vom persisch-syrischen Kulturraum beeinflusst, auch in | |
den Beats des Songs „Ishtar“ (Zoe McPherson aka Empty Taxi), in | |
Geigensamples oder in den Rhythmen ist der musikalische Input aus dieser | |
Region hörbar. Der Sound – mal rhythmisch, mal rauschend, mal technoid, | |
dann dubbig– klingt äußerst up-to-date, die DJs und Produzentinnen zählen | |
zu den derzeit Spannendsten ihrer Zunft. | |
Das Album wurde bislang zwar schon 35.000 Mal gehört, hat aber über die | |
Bezahldownloads erst gut 800 Euro eingespielt. „Die Leute kaufen lieber | |
Sneakers und trinken Kaffee“, sagt Greie spöttisch. Die zwölf Stücke zeigen | |
jedenfalls, dass der Pop sich angesichts der weltpolitischen Situation | |
zunehmend (re)politisiert. Und sie sind fast als Aufforderung zu verstehen, | |
sich mit der Situation im syrischen Norden auseinanderzusetzen. | |
1 Jun 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.femalepressure.net/ | |
[2] http://femalepressure.bandcamp.com/ | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=VCziYTEcOg8 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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