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# taz.de -- Türkei vor der Parlamentswahl: Die Kinder von Adıyaman
> Seit den jüngsten Anschlägen ist das Land verunsichert und zerstritten.
> Ein Besuch in der Stadt, aus der viele der Attentäter stammen.
Bild: Geschlossene Gesellschaft: Die Radikalisierung der Attentäter hat den t�…
Adıyaman taz | An der Glastür hängt eine Notiz: Das Geschäft steht zum
Verkauf. Die Firma für Reklameschilder konnte sich offenbar nicht halten.
Auch die anderen Läden in der Straße stehen leer. Opfer der schwächelnden
türkischen Wirtschaft.
Späht man durch die Gitter vor den Fenstern, sieht man noch Werkzeug auf
dem Tisch liegen. Einen Hinweis auf das „Teehaus Islam“ gibt es nicht.
Dabei hatten sich in diesen Räumen bis Februar Islamisten getroffen. Mehr
noch: In diesem Café haben drei Attentäter viel Zeit verbracht, die in den
vergangenen Monaten insgesamt 139 Menschen getötet haben.
Am Sonntag wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt. Und das, obwohl
die letzte Wahl gerade mal fünf Monate her ist. Im Juni verlor die AKP ihre
absolute Mehrheit. Weil die Koalitionsverhandlungen scheiterten, beschloss
Präsident Recep Tayyip ErdoğanNeuwahlen. Das Attentat in Ankara im Oktober,
bei dem 102 Menschen umkamen, überschattet den Wahlkampf.
Wer Adıyaman besucht, will Antworten darauf, welche Zukunft dem türkischen
Staat bevorsteht.
Adıyamanist eine Stadt mit 225.000 Einwohnern, 90 Kilometer sind es zur
syrischen Grenze. Die Stadt ist bekannt für ihre Tabakproduktion. Touristen
besuchen sie, um den Berg Nemrut zu sehen. Nach dem Attentat in Ankara
veröffentlichte die Regierung eine Liste von 21 Verdächtigen. 19 der 21
Menschen stammen aus Adıyaman.
## Zwei Brüder, 135 Tote
„Sie pflegten gute Dinge über den Islam zu sagen”, erinnert sich ein Mann,
der neben der „Teestube Islam“ auf einem Schemel sitzt. Er isst Fladenbrot
und trinkt Tee. Ein Kurde, 81 Jahre alt. Seinen Stock hat er an die Wand
gelehnt. „Wir dachten, sie wären gute Leute, aber dann hörten wir, dass sie
sich in die Luft gejagt hatten.”
Wie man jetzt weiß, ist Yunus Emre Alagöz einer der beiden
Selbstmordattentäter von Ankara. Er war Geschäftsführer des „Teehauses
Islam“. Sein jüngerer Bruder Seyh Abdurrahman Alagöz hatte sich am 20. Juli
im südtürkischen Suruç in die Luft gesprengt. 33 Menschen hat er mit in den
Tod gerissen – Anhänger einer regierungskritischen Jugendorganisation.
Geplant wurden beide Attentate wohl vom Islamischen Staat. Am Mittwoch
teilte die Staatsanwaltschaft in Ankara mit, dass die Befehle direkt aus
Syrien kamen. Ziel der Attentate war wohl, Unruhe zu stiften. Und die
bevorstehende Neuwahl am Sonntag zu sabotieren, sagt die
Staatsanwaltschaft.
„Die Polizei wusste, was geschah, weil Eltern den Beamten gemeldet hatten,
wie sehr sich ihre Kinder radikalisiert hatten“, sagt Osman Süzen,
Rechtsanwalt der Menschenrechtsorganisation İnsan Hakları Derneği, der
betroffene Angehörige rechtlich vertritt. Doch der Staat schritt nicht ein.
## Attentat in Diyarbakir
Eine der Familien, die sich an die Behörden gewandt hatten, ist die von
Orhan Gönder. Ihm wird das Zünden zweier Bomben auf einer kurdischen
Demonstration in Diyarbakıram 5. Juni zur Last gelegt. Auch dieses Attentat
soll der IS geplant haben. Vier Menschen wurden dabei getötet, fast 100
verletzt.
Orhan Gönder ist noch am Leben. Er ist im Sincan-Gefängnis außerhalb
Ankaras inhaftiert. Auch Gönder war häufig im „Teehaus Islam“.
Drei Kilometer östlich des Teehauses hat sein Cousin Ercan Gönder eine
Bäckerei. Er ist 34, 14 Jahre älter als Orhan. Der Jüngere half als
Kassierer aus, wenn die Geschäfte gut liefen. Seit bekannt wurde, dass
Orhan Gönder der Attentäter sein soll, hat sein Cousin Hunderte Interviews
gegeben. Er möchte den Fall öffentlich machen, sagt er.
Orhan Gönders Radikalisierung begann vor etwa drei Jahren, während seines
Studiums. Er sagte seiner Familie, dass er einen religiösen Traum hatte. Er
las den Koran, betete fünfmal täglich und weigerte sich plötzlich, neben
Frauen zu sitzen.
Am Montag, den 13. Oktober 2014, brennt er durch. In dieser Zeit wird
gerade die kurdisch-syrische Region Rojava vom Islamischen Staat bedroht.
Gönder lässt einen Abschiedsbrief zurück. Er schreibt, dass er sich auf den
Weg nach Syrien mache, um einem Angriff der PKK zu entgehen. „Es gab keinen
solchen Angriff“, sagt sein Cousin heute. „Das war eine Erfindung, um die
jungen Männer zum Islamischen Staat zu bringen.“
## Die Familie verteilte Flugblätter
Zwei Monate nach Orhan Gönders Verschwinden besucht Premierminister Ahmet
Davutoğlu, AKP-Mitglied, die Stadt. Die Gönders und drei weitere Familien,
deren Kinder zum Islamischen Staat gegangen sind, bekommen eine Audienz bei
ihm. „Der Premierminister sagte, dass er die Namen unserer Kinder an den
Nationalen Nachrichtendienst weiterleitet. Der würde sich des Problems
annehmen”, sagt Ercan Gönder.
Am 7. Januar ruft Orhan Gönder seine Verwandten zu Hause an. Er weint. Die
Familie fleht ihn an, nach Hause zu kommen. Der Polizei gelingt es, den
Anruf zurückzuverfolgen. Sie lokalisieren ihn in Tel Abyad, einer syrischen
Stadt direkt an der türkischen Grenze, die zu diesem Zeitpunkt vom
Islamischen Staat kontrolliert wird.
Ercan Gönder fährt daraufhin mit anderen Verwandten nach Akçakale, dem
türkischen Nachbarort Tel Abyads. „Wir hatten gehört, dass Orhan in
Akçakale gesehen wurde, wie er Internetcafés besucht und eingekauft hat.”
Vor Ort verteilt die Familie Flugblätter mit Orhans Foto. Finden können sie
ihn nicht. „Wenn der Staat sich bemüht hätte, dann hätten sie ihn fangen
können“, sagt Ercan Gönder heute.
Das nächste Mal hört die Familie erst wieder von Orhan, als man ihn wegen
des Bombenattentats sucht. Er wird mithilfe von Telefondaten und Aufnahmen
der öffentlichen Überwachungskameras identifiziert.
Ercan Gönder macht zwei Gruppen für die Radikalisierung seines Cousins
verantwortlich: die Islamisten, die ihm eine Gehirnwäsche verpasst haben.
Und den türkischen Staat, der seinen Cousin nicht in Gewahrsam genommen
hat.
## Vorwürfe an die Polizei
Der Bürgermeister von Adıyaman, Hüsrev Kutlu, weist jede Verantwortung von
sich. Kutlu, der im März 2014 gewählt worden ist, gehört wie
Premierminister Davutoğluzur AKP. „Wir haben alles getan, was wir konnten”,
sagt Kutlu. „Die Behörden konnten nicht eingreifen, weil die Kinder schon
verschwunden waren, als sich ihre Eltern beschwerten.“
Das bestreitet Ercan Gönder. Als seine Familie sich erstmals an die Polizei
wandte, sei Orhan noch zu Hause gewesen: „Offen gesagt: Die Polizei hat
sich einfach nicht dafür interessiert”
Bürgermeister Kutlu sagt, dass er erst im Februar registriert habe, dass
der Islamische Staat junge Männer in Adıyamanrekrutiert. Zu diesem
Zeitpunkt war der Premierminister längst zu Gast gewesen. Der hatte mit den
betroffenen Familien bereits im Dezember gesprochen.
„Keine der Familien beklagte sich, dass ein gewisser Soundso ihre Kinder
einer Gehirnwäsche unterzogen hätte. Wenn die Familien Namen genannt
hätten, hätten die Behörden etwas unternommen.”
Der Menschenrechtsaktivist Osman Süzen findet, dass nicht nur die Behörden
in AdıyamanVerantwortung tragen. „Die Regierung hat diese Gruppe von
Militanten erstarken sehen, doch hat sie ignoriert.” Premierminister
Davutoğluargumentiert, dass der Staat die 21 Verdächtigen auf der Liste
nicht habe festnehmen können, solange sie kein Verbrechen begangen haben.
Die Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppe sei bereits ein
Verbrechen, hält Süzen dagegen. In anderen Fällen handelt der Staat früher.
„Der Sicherheitsapparat hatte weder die Sorge noch die Weitsicht, um zu
erkennen, wozu diese Gruppe fähig ist.”
1 Nov 2015
## AUTOREN
Jasper Mortimer
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Schwerpunkt Türkei
Parlamentswahl Türkei 2015
Attentat
„Islamischer Staat“ (IS)
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