# taz.de -- PKK in Deutschland und der Türkei: Ein Leben auf Schleichwegen | |
> Noch immer geben junge Menschen alles auf, um für die kurdische | |
> Arbeiterpartei zu kämpfen. Eine Recherche im Untergrund. | |
Bild: Kämpfer der PKK Anfang März in Nusaybin in der Türkei | |
Diyarbakir/Simmerath taz | Hüseyin muss Deutschland verlassen. So schnell | |
wie möglich. In wenigen Tagen wird er in ein Auto steigen. Man wird ihn von | |
Grenze zu Grenze schleusen, über die Türkei bis in den Nordirak, zu den | |
Ausbildungslagern der PKK in den Kandil-Bergen. | |
Hüseyin ist untergetaucht. Sein Versteck: Eine Studentenwohnung irgendwo in | |
Nordrhein-Westfalen. Wo genau, darf niemand wissen. Es ist Ende Januar | |
2016, Kälte strahlt von den Wänden ins Esszimmer. Ein roter Stern in einem | |
gelben Kreis, umrandet von einem grünen Ring schmückt die ansonsten kargen | |
Wände – das Symbol der PKK. Mobiltelefone liegen im Nebenzimmer. Akkus und | |
SIM-Karten sind ausgebaut. | |
Er, der sich nur in Deutschland Hüseyin nennt, gehört zum Kader der PKK, | |
der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei. Deutsche Behörden hatten ihn im | |
vergangenen Sommer enttarnt. Wenn sie ihn kriegen, kommt er in | |
Untersuchungshaft. | |
Die PKK gilt in Deutschland noch immer als Terrororganisation. Sie kämpft | |
für die Rechte der kurdischen Minderheiten in der Türkei, in Syrien, im | |
Iran und im Irak. Und für eine kurdische Autonomieregion. Recep Tayyip | |
Erdoğan, der Präsident der Türkei, erklärte im Juli 2015 die | |
Friedensverhandlungen mit der PKK für gescheitert, seitdem ist wieder Krieg | |
im Südosten der Türkei. InDiyarbakir, dem Zentrum der türkischen Kurden, | |
gilt seit Dezember 2015 eine Ausgangssperre. | |
Auf dem Herd pfeift ein Teekessel, Hüseyin nimmt ihn herunter. Er humpelt, | |
schleift sein rechtes Bein mit. Erst füllt er das Wasser in die Teegläser, | |
dann die bernsteinfarbene Schwarztee-Essenz. Der Geruch erinnert ihn an die | |
Türkei, den Krieg. „Ich muss zurück“, sagt er. „Werde ich kämpfen? Ich | |
hoffe es.“ | |
## Deutschland, die „kapitalistische Moderne“ | |
Hüseyin ist im kurdischen Gebiet der Türkei geboren. Mit Anfang 20 schloss | |
er sich der PKK an. Er sah damals, in den 1990er Jahren, wie die türkische | |
Armee Dörfer niederbrannte, Menschen folterte und hinrichtete. Er sah auch, | |
wie die PKK Bomben in Touristenorten explodieren ließ. Nun ist er knapp 40, | |
seine Haare sind leicht ergraut, ein paar Falten durchziehen die Wangen. | |
Die PKK bildete Hüseyin für den Krieg aus. Dort will er hin, raus aus | |
Deutschland, der „kapitalistischen Moderne“. Wenn da nicht sein Bein wäre. | |
Als er vor zwei Jahren in Syrien und im Irak gegen die Terrormiliz | |
Islamischer Staat kämpfte, explodierte eine Granate neben ihm, ein Splitter | |
rammte sich in seinen Oberschenkel. Die Militärführung der PKK versetzte | |
ihn Anfang 2014 zu Genesung nach Deutschland. Europa, der „Ruhe- und | |
Rückzugsraum“ der PKK – so beschrieb es der Verfassungsschutz 2015. | |
Hüseyin arbeitet hier weiter. Seine Aufgabe: kurdische Studierende an | |
deutschen Universitäten für die Ziele der PKK radikalisieren. Im besten | |
Fall sollen sie in die Kandil-Berge reisen und sich dort in den Lagern der | |
PKK ausbilden lassen. Im Sektor Mitte, in Nordrhein-Westfalen und Hessen, | |
ist er der Ansprechpartner – der erste Knotenpunkt einer Reise, die für | |
manche bedeutet, alles hinter sich zu lassen: Freunde, Familie, Besitz. | |
Einen Monat nach dem ersten Treffen ist Hüseyin weg. Das Handy funktioniert | |
nicht mehr. Wer ihn finden will, muss nachDiyarbakir reisen, dem Drehkreuz | |
der PKK. Revolutionstouristen landen hier, Sympathisanten, Journalisten, | |
Parteikader und Guerillas. | |
*** | |
Vor der Zentrale der prokurdischen Demokratischen Partei der Regionen (DBP) | |
inDiyarbakir. Oktober 2014. Ruß hat die Straße schwarz gefärbt. Es riecht | |
nach verbrannten Autoreifen und Asche der Holzbarrikaden vom Vorabend. | |
Reste von Tränengas beißen sich in die Lunge. Jugendliche, etwa zwölf Jahre | |
alt, türmen Holzbalken auf. Daneben spielen ihre Freunde Fußball, mit | |
leeren Tränengaskanistern als Pfosten. | |
Vom ersten Stock der Zentrale aus schaut Mirza auf den Vorplatz. Mirza ist | |
25, er nutzt hier gelegentlich ein Computerzimmer für seine Arbeit als | |
PKK-Jugendkader. „Der Feind hat drei Freunde festgenommen. Zwei andere | |
haben die Islamisten von Hüda Par erschossen“, sagt er. „Die Nacht war | |
nicht gut.“ | |
In Mirza sah die Parteiführung keinen Kämpfer, sondern einen Organisator. | |
Seine Haare sind streng zur Seite gekämmt, das karierte Hemd knöpft er | |
immer bis zum vorletzten Knopf zu. Ein ruhiger Typ. Doch manchmal, wenn er | |
an früher denkt, wird er wütend: Türkische Antiterroreinheiten | |
verschleppten seinen Onkel, Mirza sah ihn nie wieder. Der Vorwurf: Der | |
Onkel soll Guerillas versteckt haben. Mirza erinnert sich auch daran, wie | |
sein Vater die Familie einfach verließ, zwölf Kinder in Armut zurückließ. | |
Mirza war der Jüngste. Als er alt genug war, schloss er sich der PKK an. Um | |
zu kämpfen und auch, um neuen Halt zu finden. | |
## „Wir wollen in die Berge. Kämpfen.“ | |
Zwei Jungen betreten Mirzas improvisiertes Arbeitszimmer und setzen sich. | |
Sie wirken nervös. „Heval Hüseyin hat uns geschickt“, sagt einer der | |
beiden. Genosse Hüseyin aus Deutschland. „Wir wollen in die Berge. Kämpfen. | |
Kannst du uns helfen?“ Sie erzählen, dass sie in Köln wohnen und dort für | |
die „Partei“ gearbeitet haben. Sie sammelten Spenden für die belagerte | |
Stadt Kobane und organisierten Proteste gegen das PKK-Verbot. Ihre Eltern | |
und Freunde wissen nicht, dass sie hier sind. Besser so. Nur Hüseyin kennt | |
die Details. | |
Die beiden sprechen Kurdisch mit deutschem Akzent. Mirza fragt, ob sie | |
einen Zettel dabei hätten. Sie nicken. Er überlegt kurz und sagt: „Meine | |
Freunde, seid ihr euch sicher? So eine Entscheidung lässt sich nicht | |
einfach rückgängig machen. Euch muss bewusst sein, dass nur die Partei | |
weiß, was eure Aufgabe sein wird.“ | |
Dann schreibt Mirza einen kleinen Zettel. In Zigarettenfolie verschweißt | |
sollen sie ihn in ihrer Hose einnähen. Wenn die Polizei sie findet, sollen | |
sie den Zettel essen, wenn nicht, sollen sie ihn einem Kader in Erbil | |
geben, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak – die letzte | |
Station vor den Ausbildungslagern der PKK im Kandil-Berge. | |
*** | |
So ist das hier. Die Partei weiß es am besten. Dieses Verständnis teilen | |
alle, die sich ihr anschließen. Jeder ist ein Rädchen, jeder hat seine | |
Aufgabe. Als Jugendkader kümmert sich Mirza um die neuen Rekruten, die in | |
den Bergen zu Guerillas werden wollen. Die PKK-Jugend bekommt ihre Aufgaben | |
zwar von der Führung, darf aber selbst entscheiden, wie sie sich intern | |
organisiert. Ohne sie ginge nichts. | |
Etwa zwanzig Jugendkader kommen täglich in die Zentrale. Sie sind der | |
Mittelbau der Organisation, schreiben für die Jugendzeitschrift Yurtsever | |
Genclik (Patriotische Jugend) zetteln Aufstände an, unterstützen die | |
militante Jugendorganisation YDG-H logistisch mit Verstecken und | |
Molotowcocktails. Oder sie bringen die Bewohner dazu, sogenannte | |
Volkskomitees zu gründen, um lokale Probleme in einer Art Selbstverwaltung | |
zu lösen. Sie leben im Untergrund und wechseln ständig ihre Namen. | |
Vor der Tür raucht Songül, eine junge Frau ausKahramanmaraş. Neonleuchten | |
erhellen den Gang. Gebeugt sitzt Songül da, zwei schwarze Locken verdecken | |
ihr Gesicht. Sie reibt sich die Augen. Ab und zu nippt sie an ihrem | |
Schwarztee – ihre achte Tasse heute. Mit der Glut ihrer Zigarette zündet | |
sie einen Zettel an, nur der Absender und sie dürfen wissen, was auf ihm | |
stand. | |
Songül ist für die Europäer zuständig, die nach Rojava wollen, die | |
kurdische Autonomieregion in Nordsyrien. Linke Autonome, Altkommunisten, | |
Internationalisten und Feministen. Manche wollen zerstörte Gebäude | |
wiederaufbauen, andere wollen Verletzte versorgen. | |
## Zuallererst ist Songül Kurdin | |
Songül ist seit 2012 bei der PKK, sie schätzt sie. Ihre Familie lebt an der | |
westlichen Grenze des kurdischen Siedlungsgebiets. Dort, wo die Kurden am | |
assimiliertesten sind, wo sie eine Mischung aus kurdischen Dialekten und | |
Türkisch sprechen. Songüls Familie definiert sich vor allem über ihre | |
Religion, sie sind Aleviten. Sie selbst aber fühlt, dass sie zuallererst | |
Kurdin ist. Als solche, glaubt sie, muss sie für „die Partei“ arbeiten. | |
Vor Kurzem hat Songül eine Delegation aus Simmerath in Nordrhein-Westfalen | |
betreut. Hüseyin hat ihr Studenten geschickt, die nach Rojava fahren | |
sollen. | |
*** | |
Frühsommer 2014. Eine Pension am See, in der Nähe von Simmerath. Vereinzelt | |
stehen Einfamilienhäuser auf der gewellten Hochfläche der Nordeifel. Auf | |
dem See spiegelt sich der Mond, am Ufer zeichnen sich unter Planen Kanus | |
ab. Ein Ort für „Outdoorfans“ und „Romantiker“, wie ein Prospekt für | |
Familienurlauber wirbt. | |
Aus dem Aufenthaltsraum der Pension kommt laute Musik. Junge Menschen | |
tanzen eingehakt im Kreis zu kurdischen Liedern. Eine Frau führt sie an, | |
sie wirbelt ein gelb-grün-rotes Tuch herum. Die Farben der PKK, für viele | |
auch die Farben Kurdistans. | |
Abseits der Tanzenden klatscht Hüseyin zur Musik. Den Takt trifft er nicht, | |
lächelt verlegen. „Wir sollten anfangen“, flüstert er Veit zu, einem | |
Deutschen, der eigentlich anders heißt, so wie alle in dieser Geschichte. | |
„Bringt eure Handys in die Zimmer. Aber lasst Akkus und SIM-Karten drin. Es | |
ist verdächtig, wenn neun Handys gleichzeitig aus dem Netz fliegen.“ | |
Nur eine geschlossene Tür trennt die Tanzenden im Aufenthaltsraum von der | |
Großküche. Dort versammeln sie sich. Neun junge Menschen, vor allem | |
kurdische Studierende, geboren und aufgewachsen in Deutschland. Aber auch | |
zwei aus der Autonomen Szene Marburgs – „Biodeutsche“ wie Veit. Sie planen | |
ihre Reise nach Rojava. Dort wollen sie die Strukturen der PKK | |
kennenlernen. Manche überlegen sich, zu bleiben und zu kämpfen. | |
## Ein Blick, der einschüchtert | |
Hüseyin hat Veit die Organisation übertragen. „Nur weil Deutschland ein | |
außenpolitisches Interesse daran hat, mit der Türkei zu kooperieren, wird | |
die kurdische Bewegung kriminalisiert. Das regt mich auf“, sagt Veit, | |
millimeterkurze braune Haare, kantiges Gesicht, breites Kreuz. Und ein | |
Blick, der einschüchtert. | |
Veit studiert Politik. An der Uni gab es eine Podiumsdiskussion der | |
kurdischen Studierendenorganisation YXK. Das Thema: die Aufhebung des | |
PKK-Verbots. Veit ging hin, Mitglieder der YXK sprachen ihn an, er las sich | |
ein, dann übernahm er die Leitung der Organisation an seiner Uni. | |
Die Studenten in der Großküche sind angespannt, warten auf Hüseyins Worte. | |
Es riecht nach gebratenem Hühnchen und Spülmittel. „Ihr werdet euch | |
inDiyarbakir treffen. Von dort fahrt ihr nach Erbil, wo ihr mit einer | |
anderen Delegation zusammenkommt. Dann geht es über die syrische Grenze | |
nach Rojava. Unsere Freunde erwarten euch dort.“ | |
Rojava – ein Sehnsuchtsort, eine Utopie. Nachdem Assads Regierungstruppen | |
aus der Region in Nordsyrien abgezogen waren, um das Kernland des Regimes | |
an der Küste zu verteidigen, konnten die Kurden das Machtvakuum schließen. | |
2012 riefen sie ihre Autonomie aus. Die PKK half den Kurden dort, ein | |
föderatives System zu etablieren, das aus Kommunen und Räten besteht und | |
der Ideologie von Abdullah Öcalan folgt, dem Führer der PKK, der seit 1999 | |
im Gefängnis sitzt. | |
## „Spione sind überall“ | |
Kader der PKK organisieren regelmäßig solche Reisen, meistens | |
nachDiyarbakir, seit 2012 aber auch nach Rojava. Viele erhoffen sich, dort | |
die Revolution in der Praxis zu sehen. Immer sind junge Linke dabei, | |
infiziert von der hochpolitischen Stimmung und der Idee, Revolutionäre zu | |
sein. Zu sehen gibt es: Kämpferinnen gegen die Terrormiliz Islamischer | |
Staat, Räteversammlungen und Landwirtschaftskooperativen. Kurdischer | |
Widerstands-Pop. PKK-Öffentlichkeitsarbeit. | |
Jemand fragt, wie sicher es in Rojava gerade ist. „Wir befreien jeden Tag | |
mehr Dörfer vom IS. Die Lage ist gut. Trotzdem dürft ihr niemandem von der | |
Reise erzählen. Spione sind überall“, sagt Hüseyin. Veit fällt ihm ins Wo… | |
und fragt: „Hat uns jeder seinen Sicherheitskontakt gesagt?“ Alle nicken. | |
Sollte jemand festgenommen, verletzt oder getötet werden, ruft Veit diese | |
Person an. | |
Dann klingelt Hüseyins Handy. Er muss weiter. Seine Aufgabe ist hier | |
erledigt. Der Kontakt zwischen der Delegation und den PKK-Kadern in der | |
Türkei und in Rojava steht. Veit und die anderen müssen es jetzt allein | |
dorthin schaffen. | |
*** | |
Diyarbakir. Es ist dunkel, die Straßenlaternen sind ausgefallen. Katzen | |
suchen in den offenen Mülltonnen nach Essen. Der Weg ist nicht geteert, | |
viele Häuser sind aus unverputzten Ziegelsteinen und Wellblech. An | |
Häuserwänden hängen Plakate der prokurdischen HDP, der Demokratischen | |
Partei der Völker, die bei den vergangenen Parlamentswahlen knapp 11 | |
Prozent geholt hat. Sie warnen vor Drogen, Sexismus, Gewalt und Rassismus. | |
In großen Buchstaben steht „Aşîtî“ darauf: Frieden. | |
Männer vertreiben sich ihre Zeit in Cafés, spielen Karten oder Rummikub um | |
Geld. Nicht selten liefern sich vor dem Café junge PKK-Anhänger | |
Straßenschlachten mit Polizisten. Dann schließt einer im Café einfach die | |
Tür zu. Vor allem, wenn gerade ein wichtiges Fußballspiel läuft. | |
Aus der Ferne nähert sich dröhnend-knatternder Lärm, der jedes andere | |
Geräusch übertönt. Wenige Sekunden später fliegt ein türkischer Kampfjet | |
über die Häuser. „Der fliegt nach Kandil“, sagt Ciwan, ein Jugendkader, d… | |
an diesem Abend mit Mirza unterwegs ist. „Instinktiv rennen die Menschen | |
auf ihre Balkone, wenn sie Jets hören. Wie früher im Krieg. Es wiederholt | |
sich. Aber diesmal haben wir das Volk hinter uns.“ | |
## Für viele sind die Kader der PKK Befreier | |
Im Gegensatz zum Krieg in den 1990er Jahren, in dem Zehntausende Menschen | |
starben und umgesiedelt wurden, genießen die Kämpfer der PKK heute einen | |
starken Rückhalt. Und der steigt, je mehr die türkischen | |
Antiterroreinheiten Häuser bombardieren, Jugendliche erschießen und | |
Journalisten festnehmen. Für viele Kurden sind die Kader und Guerillas der | |
PKK Befreier. | |
Wenn Mirza und Ciwan sich durchDiyarbakir bewegen, biegen sie oft in | |
Schleichwege ab, gehen schnell über Hügel und durch Büsche. Vielleicht | |
werden sie beschattet. Sie wissen genau, wo Kameras sind und umgehen sie. | |
Als zwei andere Kader ihren Weg kreuzen, grüßen sie nicht. | |
Mirza und Ciwan klopfen an der Tür einer unbekannten Familie. Hier kommen | |
sie erst mal unter. Ein anderer Kader hat ihnen den Weg beschrieben. Genaue | |
Adressen werden nie weitergegeben, aus Angst, die Familien könnten vom | |
Geheimdienst beschattet werden. Und um sich selbst vor Fehlern zu schützen. | |
Spionageabwehr: Nicht jeder muss alles wissen. | |
Seit der Gründung der PKK 1978 knüpfen die Kader ein Netz aus | |
Unterstützern, das bis nach Europa reicht. Nach Schweden, Frankreich, | |
Belgien, Österreich und Deutschland. Es besteht aus PKK-Sympathisanten: | |
Familien, deren Angehörige Guerillas sind. Oder Familien, deren Angehörige | |
von türkischen Polizisten eingesperrt, gefoltert oder getötet wurden. | |
Diyarbakir ist eines der dichtesten Netze. Ohne die Unterstützung der | |
Familien würden die Kader in Städten nicht überleben: Bei ihnen können sie | |
ihre Kleider waschen, duschen, sie bekommen ein warmes Abendessen und einen | |
Schlafplatz. | |
## Kurden leben mit der Sonne | |
Am nächsten Tag um fünf Uhr morgens klingelt bei Mirza und Ciwan der | |
Wecker. Kurden leben mit der Sonne. Die Nacht bringt Unheil. Vor allem die | |
späte. Das ist die Zeit, in der die türkischen Antiterroreinheiten auch bei | |
dem geringsten Verdacht Wohnungen stürmen. | |
So wie Ciwan und Mirza eingeschlafen sind, so stehen sie morgens auf, mit | |
der Kleidung vom Vortag. Mirza hat seine Zahnbürste in der Brusttasche | |
stecken. Auch das hat er in den Ausbildungscamps der PKK gelernt. Sie | |
müssen immer bereit sein. | |
Die Mutter des Hauses ist schon vor ihnen wach. Aus der Küche duftet es | |
nach schwarzem Tee mit Nelken. Und nach Börek mit Kartoffeln, gedünsteten | |
Zwiebeln und Chiliflocken. Sie eilt in das Zimmer, in dem Mirza und Ciwan | |
geschlafen haben, will die Betten machen. Früher schliefen hier ihre | |
eigenen Kinder, fünf hatte sie. Mirza nimmt ihr die Decke weg und sagt: | |
„Mama, ich mach das für dich.“ Sie küsst ihn auf die Stirn. | |
Im ehemaligen Kinderzimmer steht nur ein Schreibtisch. Darauf stehen noch | |
Fotos aus Kinderzeiten, von Abschlussfeiern und solche, die die Kinder des | |
Hauses in Guerilla-Uniformen der PKK zeigen: olivgrün, beige-braune Schuhe | |
und eine Kalaschnikow an der Schulter. | |
## Fotos getöteter Kämpfer | |
Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, kurdische Nachrichten von Stêrk TV, | |
einem PKK-nahen Propagandasender. Bilder von Kämpferinnen und Kämpfern, sie | |
feuern mit Maschinengewehren auf Panzer, laufen von einer Deckung zur | |
nächsten. Am Ende der Sendung werden Fotos getöteter Kämpfer gezeigt. Jeden | |
Tag sieht die Mutter sich die Sendung an und hofft, niemanden zu erkennen. | |
Zweimal war eines ihrer Kinder dabei. | |
Um nicht nur zu trauern, hilft sie jungen PKK-Kadern wie Mirza und Ciwan, | |
behandelt sie wie ihre Söhne. So gehen viele kurdische Mütter mit ihrem | |
Schmerz um – und unterstützen so gleichzeitig die Strukturen der PKK. | |
Mirza und Ciwan müssen los. Die anderen Kader warten. Die Mutter drückt | |
ihnen ein Päckchen mit Börek in die Hände. Mirza fragt, ob Kader weiterhin | |
von Zeit zu Zeit kommen dürften. Sie antwortet: „Was soll ich denn allein | |
sonst tun?“ | |
*** | |
In Hüseyins Versteck in Nordrhein-Westfalen. Auch Hüseyin reiste früher von | |
einem Sektor zum nächsten, schlich sich an türkische Kasernen heran, | |
verteidigte auf Hügeln die Stellung mit Waffen und seinem Leben. „Der Krieg | |
ändert alles“, sagt er. Für ihn als kurdischen Jugendlichen hieß es damals: | |
entweder Jurastudium oder Kalaschnikow. Bei Mirza und Ciwan war das | |
ähnlich. | |
Jetzt muss Hüseyin planen, wie er aus dieser Studentenwohnung in | |
Deutschland rauskommt. Er reißt einen Zettel aus einer Zeitschrift. In | |
winziger Schrift notiert er darauf letzte Anweisungen für seine Rückkehr, | |
zerknüllt das Papier und verschweißt es dann in Zigarettenfolie.Es | |
klingelt. Hüseyin sieht durch den Türspion. Sein Bote ist da. Er reicht ihm | |
den Zettel, umarmt den jungen Mann und sagt leise: „Wir werden uns | |
wiedersehen, mein Freund.“ Beide wissen, wie unwahrscheinlich das ist. | |
20 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Bahoz Destan | |
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