# taz.de -- Debatte um EU-Beitritt der Türkei: Ein sehr privilegierter Partner | |
> Plötzlich ist wieder von der Aussicht auf einen EU-Beitritt der Türkei | |
> die Rede. Doch das ist reine Augenwischerei. Denn den will in | |
> Wirklichkeit niemand. | |
Bild: Wurde kürzlich unter Zwangsverwaltung gestellt: die türkische Zeitung Z… | |
Man sieht sich im Leben immer zweimal. Das wird sich der türkische | |
Präsident Tayyip Erdoğan gedacht haben, als er das [1][EU-Treffen mit der | |
Türkei in Brüssel] aus der Ferne verfolgt hat. Denn die Regie des Gipfels | |
dürfte ganz seinen Vorstellungen entsprochen haben. Endlich darf sein Land | |
die wichtige Rolle spielen, die es in seinen Augen ohnehin verdient hat, | |
als Teil einer gemeinsamen Achse mit Berlin und Athen. Parvenü war gestern. | |
Seit die Türkei an die Tür der EU klopft, wurde sie in Brüssel meist wie | |
ein lästiger Bittsteller empfangen. Selbst mit dem Beginn der | |
Beitrittsverhandlungen vor über zehn Jahren hat sich daran wenig geändert. | |
Schon vorab wurden die Hürden für eine Aufnahme so hoch gehängt wie bei | |
keinem anderen Kandidaten – so dass es fast demütigend wirkte. | |
Immer wieder wurden die Türken vertröstet, oder es wurde auf bestehende | |
Defizite im Bereich der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und dem Schutz | |
von Minderheiten verwiesen, die einem EU-Beitritt der Türkei prinzipiell im | |
Wege stünden. Und nun plötzlich, obwohl sich die Lage in den letzten Jahren | |
in all diesen Bereichen nicht verbessert hat, soll davon keine Rede mehr | |
sein? | |
## Keine Sorge | |
Selbstbewusst fordert der türkische Premier Ahmet Davutoğlu als Dank für | |
das Entgegenkommen in der Flüchtlingsfrage, endlich weitere Kapitel in den | |
stockenden Beitrittsverhandlungen zu eröffnen. Und die EU scheint dazu | |
bereit. Zu dem Skandal, dass kurz vor dem Gipfel [2][die größte unabhängige | |
Tageszeitung des Landes unter staatliche Kontrolle gebracht wurde], kommt | |
aus Brüssel kaum ein Wort der Kritik. | |
Ein schlechterer Zeitpunkt, um über einen EU-Beitritt der Türkei zu | |
verhandeln, ist kaum vorstellbar: Die Rückschritte im Bereich der | |
Meinungsfreiheit sind unübersehbar, von einer unabhängigen Justiz ist die | |
Türkei weit entfernt, und im neu entflammten Krieg zwischen der Armee und | |
der PKK im Südosten des Landes bleiben die Menschenrechte auf der Strecke. | |
Aber keine Sorge: Die Aussicht auf rasche Verhandlungen über einen | |
EU-Beitritt der Türkei sind nicht ernst gemeint. Und zwar von beiden Seiten | |
nicht. Einem Egomanen wie Erdoğan, der die Türkei in ein Präsidialsystem | |
umbauen will, das ihm noch mehr Vollmachten einräumt, liegt nichts ferner, | |
als irgendwelche Vorrechte an Brüssel abzugeben. | |
Und in Brüssel und Berlin, wo man schon genug Probleme mit Querköpfen wie | |
Viktor Orbán oder den Nationalkonservativen in Polen hat, dürfte man | |
ebenfalls wenig Neigung verspüren, sich mit Erdoğan einen weiteren | |
Problemfall ins Haus zu holen. Zumal dessen Land schon allein aufgrund | |
seiner schieren Größe die bisherige Kräfteverteilung in der EU aus der | |
Balance bringen würde. | |
## Eine EU-Grenze an Bürgerkriegsländern? Eben. | |
Hinzu kommt, dass es schönere Aussichten gibt, als direkt an | |
Bürgerkriegsländer wie Syrien und den Irak anzugrenzen. Und welchen Sinn | |
sollte eine Einigung mit der Türkei über eine Arbeitsteilung in der | |
Flüchtlingsfrage haben, wenn das Land in die Europäische Union soll? Eben. | |
Das Gerede von einem EU-Beitritt der Türkei ist deshalb bloß leere | |
Rhetorik, es ist reine Augenwischerei. Angela Merkel beeilte sich deshalb | |
schon am Montag, zu betonen, dass sich an ihrer Einstellung dazu nichts | |
geändert habe: Das Thema stehe nicht auf der Tagesordnung. Und für die | |
Türkei hat die Forderung nur symbolischen Charakter: Sie will die | |
Genugtuung auskosten, endlich von der EU auf Augenhöhe empfangen zu werden. | |
Ansonsten dienen die Beitrittsverhandlungen als Verhandlungsmasse, um | |
andere Konzessionen herauszuschlagen. | |
Dabei wären ernsthafte Verhandlungen über einen EU-Beitritt das Beste, was | |
den Menschen in der Türkei derzeit passieren könnte. Nur dadurch ließen | |
sich überhaupt noch Fortschritte im Bereich der Menschenrechte und der | |
Meinungsfreiheit in der Türkei erzielen. Die so wichtigen | |
Beitrittsverhandlungskapitel über Justiz und Grundrechte oder über die | |
Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurden zum Beispiel noch gar nicht | |
geöffnet. Viel mehr Einflussmöglichkeiten hat Europa da ohnehin sonst | |
nicht. | |
Zunächst aber ist die Türkei für Europa nun das, was sie nach Merkel | |
Meinung und der vieler Konservativer möglichst auch bleiben sollte: ein | |
äußerst privilegierter Partner. | |
8 Mar 2016 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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