# taz.de -- Debatte Türkei und Kurden: Fluchtursache Widerstand | |
> Die EU schweigt zu den Verbrechen der Türkei an den Kurden und produziert | |
> so neue Flüchtlinge. Doch der kurdische Widerstand lebt. | |
Bild: Der kurdische Widerstand lebt – hier in Frankfurt am Main | |
Es gibt viele gute Gründe, sich gegen den „EU-Türkei-Flüchtlingsdeal“ zu | |
stellen, allen voran menschenrechtliche und ethische. Was in der Diskussion | |
über dieses fragwürdige neue Abkommen bislang unterbelichtet blieb, ist | |
noch ein anderer schwerwiegender Aspekt: Der Deal, der Menschen von Europa | |
fernhalten soll, produziert zugleich neue Flüchtlinge aus den türkischen | |
und syrischen Kurdengebieten. Vor allem aber hat er die Verbrechen des | |
türkischen Staates im laufenden Krieg gegen die KurdInnen, der | |
Hunderttausende Menschen in die Flucht getrieben hat, überhaupt erst | |
ermöglicht, | |
Trotz jahrelanger offizieller Absichtserklärungen hat die AKP-Regierung die | |
Verhandlungen mit der kurdischen Seite – also der verbotenen | |
Untergrundorganisation PKK und ihrem Überbau KCK, ihrem inhaftierten | |
Gründer Öcalan und der prokurdischen linken Partei HDP – über eine Lösung | |
der kurdischen Frage einseitig beendet. Auslöser waren der Wahlerfolg der | |
HDP bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 und die Durchbrechung der | |
Isolation des Kantons Kobani in Rojava im kurdischen Nordsyrien. | |
Die KurdInnen wurden mit dem Konzept der „Demokratischen Autonomie“ sowohl | |
in der Türkei als auch in Syrien zum Motor einer für breite Massen | |
greifbaren linken und demokratischen Alternative. Die AKP versteht diese | |
neue Alternative als Haupthindernis für ihr Bestreben, zur beherrschenden | |
Regionalmacht zu werden. | |
So trat am 24. Juli 2015 die AKP den bis heute andauernden Krieg im | |
kurdischen Teil der Türkei los. Allein in den ersten fünf Wochen wurden | |
laut dem türkischen Menschenrechtsverein IHD über 2.500 Menschen | |
festgenommen, über 10.000 Hektar Wald durch das türkische Militär | |
niedergebrannt und mehrere Dutzend Zivilisten gezielt getötet. | |
## Unerwartete Kritik | |
Etwas unerwartet haben viele führende deutsche PolitikerInnen diesen Krieg | |
und die Repressionen öffentlich kritisiert; darunter Abgeordnete sowohl der | |
Oppositionsparteien Grüne und Linke wie auch der Regierungsparteien. Dies | |
hat viele in Kurdistan positiv gestimmt, da die großen deutschen Parteien | |
in den 90er Jahren weitgehend den Krieg des türkischen Staates mit Waffen | |
und dem PKK-Verbot in Deutschland unterstützt hatten. | |
Doch als ab August 2015 Hunderttausende Flüchtlinge über die Türkei nach | |
Europa kamen, änderte sich alles abrupt. Die EU – mit besonderem Einsatz | |
von Angela Merkel – suchte die „Lösung“, um den Flüchtlingsstrom in eng… | |
Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung zu stoppen. Neben Geld, der | |
Belebung des EU-Beitritts-Prozesses und Visumfreiheit verlangte die AKP | |
inoffiziell, dass zu ihrem Krieg gegen die widerständige kurdische | |
Bevölkerung geschwiegen werde. Die EU stimmte dem in den Vorverhandlungen | |
im September und Oktober 2015 zu. Und auch die USA hielten sich aus | |
Rücksicht auf die Verhandlungen zurück. Die EU und die USA sind noch immer | |
die wichtigsten strategischen Partner der Türkei, die keineswegs ein | |
weitgehend unabhängiger regionaler Akteur ist. | |
Als auch die Wahlen vom 1. November 2015 für die AKP erfolgreich verliefen, | |
waren sämtliche Schranken eines Rechtsstaates gefallen. Der Staat schoss | |
wahllos auf bewohnte Wohnhäuser und verhängte Ausgangssperren. Die | |
Bevölkerung sollte ihre Wohnungen verlassen, damit alle Orte des kurdischen | |
Widerstandes dem Erdboden gleichgemacht werden konnten. | |
Als nach Wochen heftigen Beschusses Abgeordnete der HDP zwei Wochen lang | |
vergebens mit der Regierung über freies, sicheres Geleit für Hunderte in | |
Kellern von Cizre eingeschlossene Zivilisten verhandelten, regte sich in | |
den westlichen Medien nichts. Anwälte der Eingeschlossenen reichten in | |
diesen Tagen Eilklagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte | |
(ECHR) ein. Das ECHR lehnte mit der Begründung ab, dass es den Zusagen der | |
AKP-Regierung traue, alle notwendigen Maßnahmen für die Sicherheit von | |
Zivilisten zu treffen. Auch die letzten Menschen in Kurdistan verloren nach | |
diesem Beschluss ihre Hoffnung auf die EU. | |
## Verbrechen höchsten Ausmaßes | |
Anschließend ereignete sich ein Verbrechen höchsten Ausmaßes: Etwa 180 | |
Zivilisten wurden in den Kellern von Cizre bei lebendigem Leibe von dem | |
Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidaten Türkei verbrannt. Damit kamen seit | |
Beginn des Krieges mehr als 620 Zivilisten ums Leben. Bislang sind die | |
Vorfälle in Cizre nur in einem detaillierten Bericht der | |
Menschenrechtsorganisation IHD dokumentiert. Dass nun auch die UN das | |
Geschehen untersuchen will, ist ein Schritt, vor dem die EU sich bisher | |
scheute. | |
In insgesamt sieben umkämpften Orten wurden nach Angaben der betroffenen | |
Kommunalverwaltungen mehr als 10.000 Gebäude so stark beschädigt, dass sie | |
unbewohnbar sind. Ganze Stadtteile sehen aus wie Aleppo, Kobani oder Homs. | |
Die Gesamtzahl der zumindest zeitweise vertriebenen Menschen beträgt nach | |
Angaben lokaler NGOs etwa 700.000. Noch leben über 350.000 Menschen | |
verstreut in Kurdistan, schätzungsweise bis zu 120.000 werden nach | |
Aufhebung der Ausgangssperren keine beziehbare Wohnung mehr finden können. | |
Bislang kann die lokale Zivilgesellschaft alle Flüchtlinge mit eigenen | |
Kapazitäten versorgen. Wenn aber der Krieg härter werden sollte, können | |
weitere Hunderttausende auch aus Dörfern vertrieben werden. | |
Die EU sollte sich bewusst sein, dass sie mit ihrer Politik die | |
Zerschlagung der demokratischen Opposition und unabhängiger Medien in der | |
Westtürkei unterstützt. Insbesondere seit dem IS-Massaker auf der | |
Friedensdemonstration am 10. Oktober 2015 in Ankara, bei dem es 102 Tote | |
gab, regt sich kaum noch Protest in der Türkei gegen Krieg und Repression. | |
## Wichtig für die Demokratie | |
Wenn die Demokratiebewegung im kurdischen Teil der Türkei weitgehend | |
zerschlagen werden sollte, würde sich das auch negativ auf die | |
demokratische Option in Syrien auswirken. Wichtigste Akteure eines | |
demokratischen Syrien sind inzwischen die KurdInnen, die in Rojava vor vier | |
Jahren eine Revolution begannen. Sie sind nach dem erfolgreichen Widerstand | |
gegen den IS in Kobani dabei, mit den nichtislamistischen Kräften ein | |
breites demokratisches Bündnis aufzubauen. Rojava wurde schon vor dem Krieg | |
um Kobani aktiv von den türkischen KurdInnen unterstützt. Ohne sie gäbe es | |
nicht dieses politische System, das sich an multikulturellen, | |
direktdemokratischen, Frauenbefreiungs- und ökologischen Prinzipien | |
orientiert und gegen das chauvinistisch-repressive Baath-Regime und die | |
islamistisch-rassistischen Kräfte positioniert. | |
Ohne diesen selbstbestimmten dritten Weg wird Syrien nur zwischen zwei | |
reaktionären Seiten weiter zerstört oder politisch in einem Abkommen | |
aufgeteilt werden. Eine deutlich geschwächte Gesellschaft in | |
Türkisch-Kurdistan hätte nicht mehr die Kraft, Rojava mit Ideen, | |
Fachkräften, Technik und Medizin zu unterstützen. Auf absehbare Zeit werden | |
Angriffe des türkischen Staates auf verschiedener Ebene gegen Rojava nicht | |
aufhören. Um die Angriffe abwehren zu können, ist eine engagierte und stark | |
politisierte Gesellschaft auf der nördlichen Seite der Grenze nötig. | |
Die EU muss sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass sie für den Stopp | |
des sogenannten Flüchtlingsstroms nach Europa Verbrechen und Vertreibung | |
von Hunderttausenden Menschen nicht nur in Kauf nimmt, sondern aktiv | |
unterstützt. | |
## Der Widerstand geht weiter | |
Es ist außerdem vorschnell, zu glauben, dass Recep Tayyip Erdoğan und seine | |
Regierung unerschütterlich im Sattel sitzen. Denn der politische Widerstand | |
der meisten KurdInnen geht weiter. Dieser hat in der jüngeren Geschichte | |
bewiesen, dass er hartnäckig ist und eine große Hoffnung für die Demokratie | |
in der gesamten Türkei darstellt. Doch in dieser Phase benötigt der | |
Widerstand auch die Solidarität von Menschen in Deutschland. | |
Die Kurden erwarten eine gesteigerte und offensive Kritik an dem Deal mit | |
der türkischen Regierung. Der Flüchtlingsdeal ist angreifbar – das zeigen | |
die letzten Diskussionen. Dass seine Aufhebung eine ähnliche | |
Flüchtlingswelle wie im Sommer 2015 auslösen könnte, darf kein Grund sein, | |
sich zurückzuhalten. Es geht hier um grundsätzliche demokratische | |
Prinzipien und Rechte, was auch die Aufnahme von Menschen in Not | |
beinhaltet. Die Aufhebung des Deals würde vielmehr die Behinderungen des | |
demokratischen Kampfs in Türkisch-Kurdistan und im syrischen Rojava | |
beenden. Das kann sich kurz- und mittelfristig auf die Menschenrechtslage | |
im Mittleren Osten auswirken und somit auch Fluchtursachen bekämpfen. | |
5 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Ercan Ayboga | |
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