# taz.de -- Debatte Gewalteskalation in der Türkei: Erdoğans Angst vor Kurdis… | |
> Die Zukunft der Türkei entscheidet sich in Syrien und im Irak. Noch nie | |
> war die Chance der Kurden auf Unabhängigkeit so groß wie heute. | |
Bild: Ein türkischer Kurde beobachtet aus der Ferne Kobani | |
Fast täglich explodieren Bomben in der Türkei. Entweder als Anschlag des | |
sogenannten Islamischen Staates (IS) oder aber der kurdischen | |
Arbeiterpartei PKK. Als Motiv gibt die PKK an, Rache für die Zerstörung in | |
den Städten des kurdischen Südostens nehmen zu wollen, in denen Armee und | |
Polizei monatelang brutal gegen kurdische Aufständische vorgegangen sind. | |
Während die Regierung um Präsident Recep Tayyip Erdoğan darauf mit einer | |
immer schrilleren Kriegsrhetorik antwortet, werden andernorts bereits die | |
nächsten Anschläge vorbereitet. Drohen in der Türkei syrische Verhältnisse? | |
Kündigt sich gar ein Bürgerkrieg an? | |
Die Bilder von zerstörten Häusern und Straßenzügen in kurdischen Städten | |
der Türkei erinnern an Aleppo oder Homs. Doch tatsächlich wird das Ausmaß | |
von Gewalt und Zerstörung kaum syrische oder irakische Dimensionen | |
erreichen – dafür ist die Türkei denn doch im Vergleich sehr viel stabiler, | |
wirtschaftlich entwickelter und letztlich auch immer noch pluralistischer | |
und demokratischer, als es Syrien oder der Irak je waren. | |
## Erdoğans Großmachtambitionen | |
Dennoch: Ganz abwegig ist die Frage nach den syrischen Verhältnissen nicht, | |
denn die Türkei wird immer mehr Teil des irakisch-syrischen Kriegsgebiets. | |
Nicht nur wegen der Flüchtlinge oder weil der IS mit selbstgebastelten | |
Raketen über die Grenze schießt, sondern weil die türkische Regierung aktiv | |
in den Krieg im Nachbarland eingreift. | |
Ankaras Einmischung hat zwei Ursachen: zum einen die Ambitionen der | |
Erdoğan-Regierung, bei der Neuordnung auf dem Gebiet des ehemaligen | |
Osmanischen Reiches wieder zu einer regionalen Großmacht zu werden. Unter | |
dem Vorwand, Schutzmacht für die bedrängten Sunniten in Syrien, im Irak und | |
im Libanon zu sein, will Erdoğan zum entscheidenden Player der Region | |
werden. Die zweite Ursache sind die Kurden. Der drohende Zerfall des Irak | |
und Syriens bietet den Kurden in diesen Ländern die beste Chance auf | |
Unabhängigkeit oder mindestens substanzielle Autonomie, die sie seit dem | |
Zerfall des Osmanischen Reiches vor gut hundert Jahren je hatten. | |
Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Kurden im Südosten der Türkei. | |
Das Menetekel dafür war der Kampf um Kobani. Die Schlacht um diese syrische | |
Stadt direkt an der türkischen Grenze im Herbst 2014 hat die kurdische | |
Frage in der Türkei dramatisch verändert. | |
War der Umgang mit der ethnischen Minderheit bis dahin ein innenpolitisches | |
Problem, ist es seitdem Teil des regionalen Konflikts. Der Erfolg der | |
syrischen Kurden gegen den IS, die Vertreibung der Islamofaschisten mit | |
Unterstützung der türkisch-kurdischen PKK und der Großmacht USA, hat die | |
Lage grundlegend verändert. | |
## IS als geringeres Übel | |
Im Nachhinein betrachtet ist der kurdische Sieg in Kobani einer der | |
Schlüssel zum Verständnis des Desasters, das seit den Wahlen im Juni | |
letzten Jahres immer mehr um sich greift. Als der Kampf um Kobani im Herbst | |
2014 eskalierte, führte die Regierung Erdoğan noch Friedensgespräche mit | |
der PKK. Offiziell wurden diese Gespräche zwar erst im Sommer 2015 beendet, | |
doch Kobani brachte bereits den Bruch. | |
Bis dahin verhandelte Erdoğan aus einer Position der Stärke. Die PKK hatte | |
zwei Jahre zuvor, nicht zuletzt auf Druck ihres inhaftierten Führers | |
Abdullah Öcalan, einen Waffenstillstand akzeptiert. Die kurdische | |
Bevölkerung im Südosten war längst kriegsmüde. Erdoğan hatte durch | |
kulturelle Zugeständnisse und Investitionen in die Infrastruktur des | |
Südostens viele Kurden für sich gewonnen. | |
Als der Krieg um Kobani eskalierte, stand Erdoğan vor einer weitreichenden | |
Entscheidung. Er hätte die Kurden gegen den nahezu weltweit geächteten IS | |
unterstützen können. Das hätte den Friedensprozess auf eine neue Ebene | |
gebracht, gleichzeitig aber auch bedeutet, dass die Türkei die | |
Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden akzeptiert – mit der Folge, dass | |
auch die Kurden in der Türkei ihre Autonomieforderungen präzisiert hätten. | |
Das wollten und wollen Erdoğan und die türkischen Nationalisten auf gar | |
keinen Fall. | |
Mit der stillschweigenden Unterstützung des IS hoffte Erdoğan die PKK zu | |
schwächen. Die Folge dieser Entscheidung war ein völliger Verlust des | |
sowieso nur rudimentären Vertrauens zwischen der PKK und der Regierung. | |
Daraus wiederum folgte ein Anti-Erdoğan-Wahlkampf der kurdisch-linken HDP, | |
der bei den Wahlen vor einem Jahr mit sensationellen 13 Prozent belohnt | |
wurde. | |
Doch weder Erdoğan noch die PKK-Führung wollten den Erfolg der HDP als das | |
akzeptieren, was er war: eine Aufforderung zur friedlichen Lösung der | |
kurdischen Frage. Erdoğan will erst wieder mit der PKK reden, wenn sie | |
militärisch geschwächt ist, und die PKK hält sich für stark genug, um den | |
Erfolg von Kobani auch auf die Türkei übertragen zu können. | |
## Ankara ärgert die US-Hilfe | |
Mit dem verheerenden Attentat auf kurdische und türkische | |
Wiederaufbauhelfer für Kobani in Suruc im Juli letzten Jahres brach der | |
Krieg zwischen dem Staat und der PKK wieder offen aus. Seitdem dreht sich | |
die Spirale der Gewalt immer schneller. | |
Erdoğan setzt seitdem völlig aufs Militär und hofft, die PKK so weit | |
schwächen zu können, dass sie auch regional als militärischer Faktor | |
ausfällt. Deshalb ärgert ihn die Zusammenarbeit der USA mit den | |
syrisch-kurdischen YPG-Milizen im Kampf gegen den IS maßlos, weil das | |
indirekt auch der PKK nützt. | |
Seit auch Russland die DYP-YPG unterstützt, steht Erdoğan Syrienpolitik vor | |
dem völligen Scheitern. Statt schwächer zu werden, setzen die syrischen | |
Kurden mit Unterstützung der PKK und der USA ihren militärischen Vormarsch | |
fort und stehen, allen Drohungen Erdoğan zum Trotz, kurz davor, die Lücken | |
zwischen ihren drei Kantonen zu schließen. | |
Es ist jetzt an Erdoğan, die syrische Realität hinzunehmen und auf dieser | |
Grundlage mit der PKK neu zu verhandeln. Andernfalls wird er die Türkei | |
wirklich in einen Bürgerkrieg führen. Akzeptiert er, dass in Syrien, wie | |
zuvor im Irak, ein kurdisches Autonomiegebiet entsteht, hätten auch | |
Friedensgespräche in der Türkei wieder eine Perspektive. | |
16 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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