Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- HDP-Chef zur Situation seiner Partei: „Wir sind kein Anhängsel d…
> HDP-Chef Selahattin Demirtaş über seine drohende Haftstrafe, den Zugang
> zu kurdischen Jugendlichen, das Verhältnis seiner Partei zur PKK und
> Erdoğans Ziele.
Bild: Könnte bald im Gefängnis sitzen: 87 Ermittlungsverfahren laufen gegen H…
taz.am wochenende: Herr Demirtaş, wann rechnen Sie damit, ins Gefängnis zu
gehen?
Selahattin Demirtaş: Noch ist die Verfassungsänderung, die die Aufhebung
der Immunität erlaubt, nicht in Kraft; das wird wohl in der kommenden Woche
geschehen. Danach hat die Staatsanwaltschaft 15 Tage Zeit, eine Anklage bei
Gericht einzureichen.
Rechnen Sie also ernsthaft damit, in Untersuchungshaft genommen zu werden?
Ziemlich sicher. Allein gegen mich gibt es 87 Ermittlungsverfahren.
Allesamt aufgrund von Reden, die ich gehalten habe. Mir wird so ziemlich
alles vorgeworfen, was das türkische Strafgesetzbuch hergibt: von
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung über Propaganda für
Terrorismus bis hin zur Beleidigung des Staatspräsidenten. Da ich mich
weigere, bei der Staatsanwaltschaft eine Aussage zu machen, kann es gut
sein, dass sie mich in Haft nehmen werden. Aber nicht nur mich. Von den 59
Mitgliedern unserer Fraktion sind 56 betroffen.
Was will Ihre Partei gegen den Rauswurf aus dem Parlament unternehmen?
Unser politischer Kampf geht natürlich weiter. Wir werden uns auch nicht
einfach der Polizei stellen, sie müssen uns schon im Parlament abholen.
Was, denken Sie, ist das Ziel von Präsident Recep Tayyip Erdoğan?
Ich denke, Erdoğan strebt Neuwahlen im Herbst an, bei denen dann die HDP
und womöglich auch die rechtsnationalistische MHP unter die
10-Prozent-Hürde gedrückt werden sollen. Die AKP hätte dann genug Stimmen,
um allein im Parlament oder durch ein Referendum die angestrebte
Präsidialverfassung durchzusetzen. Erdoğan schürt den Hass auf die Kurden,
um so alle nationalistischen Stimmen auf sich zu vereinen. Und wenn erst
einmal der größte Teil unserer Fraktion im Gefängnis sitzt, können wir auch
schlecht Wahlkampf machen.
Die Regierung hat in den letzten Tagen triumphal den Sieg im Kampf um die
Städte im kurdischen Südosten des Landes verkündet. Auch in Yüksekova, der
letzten Stadt, in der noch gekämpft wurde, sei der Aufstand
niedergeschlagen worden. Sehen Sie das auch so?
Was für einen Sieg hat die Regierung dort errungen? Hunderte Menschen,
darunter viele Zivilisten, sind getötet worden. Rund 500.000 Menschen haben
ihre Wohnung oder ihr Haus verloren und sind nun auf der Flucht. Ganze
Stadtviertel in Diyarbakır, Cizre, Silopi und Yüksekova liegen in Schutt
und Asche. Gewonnen ist nur der Hass der Kurden auf die Regierung.
Auch in den kurdischen Gebieten gibt es viel Kritik an der PKK. Diese hat
ja angefangen, den Krieg in die Städte zu tragen.
Ja, es gibt Kritik an der PKK, aber von anderen bekommen sie auch
zusätzliche Unterstützung. Denn was ist tatsächlich in den kurdischen
Städten passiert? Kurdische Jugendliche, die nicht alle unbedingt in der
PKK organisiert sind, wollten die Polizei aus ihren Stadtvierteln
vertreiben und haben deshalb Gräben ausgehoben und Barrikaden errichtet.
Musste man auf diese Aktion mit dem Einsatz von Panzern und Kanonen
reagieren? Musste man deshalb ganze Stadtviertel zusammenschießen und die
Bewohner monatelang daran hindern, auf die Straße zu gehen? Die Regierung
hat ihrem eigenen Volk den Krieg erklärt.
Trotz aller berechtigter Kritik an der Regierung: War nicht von vornherein
klar, dass ein solcher Aufstand sinnlos ist und nur dazu dient, das
gewaltsame Vorgehen des Staates zu legitimieren?
Wir haben den Aufstand weder unterstützt noch dahintergestanden. Im
Gegenteil, wir haben immer wieder vom Aufstand abgeraten. Die Jugendlichen
dort wollten die Polizei nicht in ihren Stadtteilen haben. Sie haben
gesagt, dass sie die Polizei nicht angreifen würden, solange diese nicht in
die Stadtteile reingeht. Im Prinzip hätte man den Konflikt auch auf
friedliche Art durch Gespräche lösen können.
Die Jugendlichen hatten sich Waffen besorgt. Wenn überhaupt jemand im
Südosten mit ihnen reden kann, dann doch wohl die HDP. In einem Stadtteil
von Diyarbakır hat die HDP dazu beigetragen, den Aufstand zu beenden. Warum
haben Sie das nicht auch an den anderen Orten gemacht?
Wir haben das natürlich versucht. Wir haben das in allen Landkreisen
versucht und auch mit der Regierung darüber gesprochen. In manchen Orten
hatten wir Erfolg, in anderen eben nicht. Aber das eigentliche Verbrechen
hat die Regierung begangen. Selbst wenn dort bewaffnete Jugendliche sind,
haben sie nicht das Recht, mit Panzern und Artillerie auf sie zu schießen
und ganze Städte in Schutt und Asche zu legen.
Trotzdem entsteht der Eindruck, dass die HDP den Einfluss auf diese
Jugendlichen verloren hat. Ist das so?
Nicht vollständig. Was man aber sagen kann, ist, dass die AKP völlig den
Zugang zu ihnen verloren hat. Von der AKP erwarten die Jugendlichen nichts
mehr. Sie glauben nicht mehr an eine politische Lösung des Kurdenkonflikts.
Aber weil sie auf keine politische Lösung mehr vertrauen, vertrauen sie
auch der HDP nicht mehr so. Deswegen schnappen sie sich Waffen oder gehen
in die Berge.
Sie haben Kontakte zur PKK oder können diese zumindest herstellen. Wissen
Sie, warum die PKK die Jugendlichen nicht gestoppt hat?
Wir haben seit Langem keine Verbindung mehr zur PKK-Führung. Während des
Lösungsprozesses hatten wir Kontakt zu ihnen, aber im Moment gibt es keinen
Dialog mehr. Die sitzen im Nordirak und werden ständig bombardiert.
Haben Sie dennoch eine Idee, warum die PKK den Aufstand nicht gestoppt hat?
War die Rebellion nicht sinnlos?
Ich bezweifle, dass die PKK die Rebellion als sinnlos erachtet. Sie
betrachten sich nicht als besiegt, sondern betonen eher, dass sie acht
Monate lang Widerstand gegen die Staatsgewalt und das Militär geleistet
haben. Dabei brauchten sie noch nicht einmal ihre eigenen erfahrenen
Kämpfer einsetzen. Fast alle Kämpfer waren Jugendliche aus den Städten,
keine kampferprobten PKK-Kader aus den Bergen. Von denen waren nur ganz
wenige im Einsatz.
Ist es nicht menschenverachtend, so viele junge Leute sinnlos in den Tod zu
schicken?
Wenn ich dafür gewesen wäre, dass man diese jungen Leute in den Tod
schickt, dann wäre ich auch dort gewesen. Ich bin aber hier und lade die
Jugend dazu ein, Politik zu betreiben. Die PKK hat eine andere Sichtweise
als wir. Für sie waren die Kämpfe in den Städten nur ein Mosaikstein im
Krieg in der ganzen Region. Die PKK kämpft in der Türkei, im Irak, in
Syrien und im Iran. Sie sehen diese Kämpfe nicht als innenpolitisches
Problem der Türkei.
Sie dagegen wollen nicht nur eine kurdische Partei sein, sondern eine linke
Alternative für die ganze Türkei. Ist die HDP seit dem Beginn der Kämpfe
zwischen der PKK und der Regierung aufgerieben worden?
Nein, aber eine Kriegspolitik verringert immer den Handlungsspielraum für
zivile Politik. Das war ja ein Ziel von Erdoğan. Die AKP will die
Bevölkerung glauben machen, wir seien lediglich ein Anhängsel der PKK. Wir
lassen uns dieses Stigma aber nicht aufdrücken. Wir kämpfen weiter für eine
linke Alternative in der ganzen Türkei.
Es hat der HDP im Westen der Türkei aber sehr geschadet, dass
HDP-Abgeordnete zu Beerdigungen kurdischer Selbstmordattentäter gegangen
sind, anstatt sich von den Attentaten zu distanzieren.
Ja, unsere Abgeordneten müssen vorsichtiger sein. Aber zu den Beerdigungen
sind alle unsere kurdischen Anhänger gegangen. Sollen wir die alleinlassen?
Sie haben sich immer für eine politische Lösung der kurdischen Frage
eingesetzt und gefordert, dass die Friedensverhandlungen zwischen der PKK
und der Regierung wieder aufgenommen und fortgesetzt werden müssten. Sehen
Sie denn zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt noch eine Chance dazu?
Nein, in naher Zukunft sicher nicht. Irgendwann vielleicht einmal, aber in
diesem Jahr sicher nicht mehr. Erst einmal will Erdoğan seine
Präsidialverfassung durchsetzen.
Obwohl der Aufstand in den Städten nun beendet ist, wird ja noch
weitergekämpft. Erdoğan hat angekündigt, dass der Kampf so lange
weitergehen wird, bis der letzte „Terrorist“ getötet ist. Glauben Sie, dass
er wirklich bereit ist, einen Bürgerkrieg zu riskieren?
Wenn Erdoğan glaubt, dass es für die Absicherung seiner Macht notwendig
ist, wird er das ganze Land in Trümmer legen.
4 Jun 2016
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Recep Tayyip Erdoğan
Selahattin Demirtas
Schwerpunkt AKP
HDP
PKK
Lesestück Interview
Schwerpunkt Türkei
PKK
Schwerpunkt Syrien
Anschlag
Schwerpunkt Türkei
Schwerpunkt Türkei
Recep Tayyip Erdoğan
HDP
Schwerpunkt Türkei
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kurden in der Türkei: Zerstörte Städte, zerstörte Leben
Bei Kämpfen von Kurden und Militär wurden im Südosten der Türkei viele Orte
in Trümmer gelegt. Die Bewohner bleiben trotzdem.
Menschenrechtsgericht verurteilt Türkei: Schmerzensgeld für getöteten Kurden
Während einer Kundgebung in Diyarbakir wurde er von einer Tränengasgranate
getroffen. Jetzt gibt Straßburg den Angehörigen des Kurden recht.
Debatte Gewalteskalation in der Türkei: Erdoğans Angst vor Kurdistan
Die Zukunft der Türkei entscheidet sich in Syrien und im Irak. Noch nie war
die Chance der Kurden auf Unabhängigkeit so groß wie heute.
Anschlag in Istanbul: PKK-Splittergruppe bekennt sich
Die Freiheitsfalken Kurdistans haben sich online zu dem Anschlag in
Istanbul bekannt. Dabei waren elf Menschen getötet worden, darunter sechs
Polizisten.
Türkisches Gesetz für Abgeordnete: Immun war gestern
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat sich durchgesetzt: Mit einer
Verfassungsänderung können Abgeordnete nun strafrechtlich verfolgt werden.
Beschluss im türkischen Parlament: Ein Viertel ist nicht mehr immun
Das türkische Parlament hat die Aufhebung der Immunität von 138
Abgeordneten beschlossen. Im Visier ist die pro-kurdische Partei HDP.
Verfassungsänderung in der Türkei: „Totalitärer Angriff“ aufs Parlament?
Geht es nach dem Willen der Regierungspartei AKP, verlieren bald 138
Abgeordnete ihre Immunität. Dies würde vor allem die prokurdische HDP
schädigen.
Kommentar Immunität in der Türkei: Erdoğan provoziert mehr Gewalt
In der Türkei soll Abgeordneten aller Parteien die Immunität entzogen
werden können. Aber das ist reine Dekoration. Es geht nur um die HDP.
Schlägerei im türkischen Parlament: Immunität soll ausgehebelt werden
Der Verfassungsausschuss segnet die Aufhebung der Immunität ab. Davon sind
auch 50 der 59 Abgeordneten der kurdisch-linken Partei HDP betroffen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.