# taz.de -- Kurden in der Türkei: Zerstörte Städte, zerstörte Leben | |
> Bei Kämpfen von Kurden und Militär wurden im Südosten der Türkei viele | |
> Orte in Trümmer gelegt. Die Bewohner bleiben trotzdem. | |
Bild: Zerstörte Gebäude in Nusaybin im Juli 2016 | |
Nusaybin/Diyarbakir taz | Abdülkerim Can ist ein gebrochener Mann. Der | |
62-Jährige hat seinen gesamten Besitz verloren. Sein Jackett und seine Hose | |
hat sein Bruder ihm gekauft, Unterschlupf hat er bei einem anderen | |
Verwandten gefunden. | |
Noch an seinem 60. Geburtstag fühlte sich Abdülkerim Can als gemachter | |
Mann. Er besaß ein dreistöckiges Haus in der Grenzstadt Nusaybin mit einem | |
kleinen Supermarkt im Erdgeschoss und einer Schneiderei im Keller. Sein | |
ältester Sohn betrieb die Schneiderei, ein anderer seiner sechs Söhne den | |
Supermarkt. | |
„Wir hatten alles, was wir brauchten“, erzählt er. Jetzt steht Abdülkerim | |
Can vor den Trümmern seines Lebenswerks. Hinter einem massiv gesicherten | |
Zaun erstreckt sich eine Schuttlandschaft, die noch vor einem Jahr das | |
Zentrum von Nusaybin war. „Dort“, sagt er aufgebracht, „dort war das | |
Staatskrankenhaus.“ | |
Von dem riesigen fünfstöckigen Betonkomplex ist nur eine Ruine übrig. „Da | |
gegenüber, das rot gestrichene Gebäude, das war mein Haus“, erklärt | |
Abdülkerim Can mit zitternder Stimme. Das Haus ist in sich | |
zusammengebrochen, als habe die Erde gebebt. | |
## Umzäunt und abgesperrt | |
Der umzäunte Bereich, flächenmäßig ungefähr die Hälfte des Stadtgebiets, | |
darf von den Bewohnern nicht mehr betreten werden. Offiziell, weil die | |
„Terroristen“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK dort Bomben und | |
Minen versteckt haben. Der Zaun diene deshalb dem Schutz der Bevölkerung, | |
sagt die Polizei. | |
Tatsächlich lässt die Regierung sämtliche Gebäude in dem Gebiet nach und | |
nach abreißen – auch intakte. Was mit der riesigen Brache dann passieren | |
soll, weiß Abdülkerim Can nicht. Ob er jemals wieder dort wohnen wird? Er | |
zuckt resigniert mit den Schultern. Wie tausende andere Betroffene hat er | |
seine Besitzurkunde und andere Dokumente im Büro des Gouverneurs | |
eingereicht. Doch von dort kommt keine Antwort. | |
Abdülkerim Can geht jetzt regelmäßig zum Treffpunkt der kurdisch-linken | |
HDP, die vor Ausbruch der Kämpfe in Nusaybin die Bürgermeisterin stellte. | |
Er hofft, dort etwas zu erfahren. Doch auch die HDP kann ihm nicht helfen. | |
Die HDP-Bürgermeisterin Sara Kaya saß mehrere Monate im Gefängnis und | |
durfte danach ihr Amt nicht wieder antreten. Seit einem Monat wird die | |
Kommune von einem aus Ankara eingesetzten Verwalter regiert. „Mit uns reden | |
die gar nicht mehr“, erklärt Sara Kaya im Büro der HDP. | |
Der Albtraum begann Mitte letzten Jahres. Die HDP schaffte bei den Wahlen | |
am 7. Juni 2015 mit 13 Prozent der Wählerstimmen den Sprung ins nationale | |
Parlament. Es war das erste Mal in der Geschichte der türkischen Republik, | |
dass dies einer kurdisch dominierten Partei gelang. Der Erfolg der HDP | |
kostete die regierende AK-Partei sogar ihre absolute Mehrheit, mit der sie | |
zuvor zwölf Jahre lang unangefochten regiert hatte. | |
## Harte Reaktion auf HDP-Erfolg | |
Die Folgen waren dramatisch. Während in vielen kurdischen Kommunen die | |
Begeisterung überschwappte, war Präsident Recep Tayyip Erdoğan entsetzt. | |
Aus Sicht Erdoğans und der AKP-Regierung waren an der Niederlage die zwei | |
Jahre zuvor begonnenen „Friedensgespräche“ mit der kurdischen PKK-Guerilla | |
schuld, die von vielen AKP-Wählern offenbar missbilligt wurden. | |
Während Erdoğan deshalb begann, gegenüber der PKK und der kurdischen | |
Bewegung insgesamt wieder auf eine harte Linie umzuschwenken, präsentierten | |
mehrere kurdische Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der Öffentlichkeit | |
im Überschwang des Siegs „Autonomieerklärungen“. Damit erklärten sie ihre | |
Gemeinden für unabhängig. Eine davon war Sara Kaya. Wegen dieser | |
Presseerklärung wurde ich letztes Jahr verhaftet“, erzählt sie. | |
Sara Kaya war nicht die Einzige. Immer häufiger tauchten jetzt nachts in | |
Nusaybin Einheiten der Antiterrorpolizei auf, um vermeintliche oder | |
tatsächliche HDP-Aktivisten und PKK-Sympathisanten zu verhaften. In der | |
Folge begannen kurdische Jugendliche, mit oder ohne Unterstützung der PKK, | |
in ihren Vierteln Barrikaden zu errichten und Gräben gegen die Polizei | |
auszuheben. Versuchte diese einzudringen, wurde sie angegriffen. | |
## Auf den Barrikaden | |
Die Kämpfe weiteten sich schnell auf die meisten kurdischen Kommunen vor | |
allem entlang der türkisch-irakischen Grenze aus. Selbst in der kurdischen | |
Millionenstadt Diyarbakır blockierten jüngere Kurden Teile der Altstadt. | |
Monatelang blieb es bei Scharmützeln, ohne dass eine Seite die Oberhand | |
gewann. Das änderte sich nach der Wiederholung der Parlamentswahl im | |
November letzten Jahres, als Erdoğan und seine AKP die absolute Mehrheit | |
zurückgewannen. Am 1. Dezember setzte Erdoğan die Armee in Marsch, um die | |
Städte zurückzuerobern. Ausgangssperren wurden nun flächendeckend und | |
zeitlich unbegrenzt verhängt. Zivilisten in den umkämpften Vierteln | |
gerieten massiv zwischen die Fronten. | |
„Wer seine Nase aus der Tür gesteckt hat, wurde erschossen“, sagt | |
Abdülkerim Can. „Ich kann euch gar nicht erzählen, wie viele Leute vor | |
meinen Augen erschossen wurden. Ihr könntet Bücher damit füllen.“ | |
Offizielle Zahlen über getötete Kämpfer und Zivilisten gibt es nicht. | |
Abdülkerim Can spricht von 350 in Nuseybin. „Die Leichen wurden weggebracht | |
und verbrannt.“ | |
Was von der Stadt übrig ist, gleicht heute einem Heerlager von Polizei und | |
Gendarmerie. Durch den landesweit verhängten Ausnahmezustand infolge des | |
Putschversuchs vom 15. Juli ist der Polizeiwillkür Tür und Tor geöffnet. | |
Überall sind gepanzerte Polizeifahrzeuge unterwegs. Seit die PKK gezielt | |
Polizeiposten und selbst Hauptquartiere der Sicherheitspolizei mit | |
Selbstmordattentätern und Autobomben angreift, sind alle Polizeistationen | |
mit Betonwällen umgeben. Trotzdem tötet die Guerilla in den kurdischen | |
Gebieten jeden Tag Polizisten und Soldaten. | |
## Die Kurden klammern sich an ihre Heimat | |
Nachdem die türkische Armee Ende August nach Syrien vorgedrungen ist und | |
nun die Kämpfe um Mossul begonnen haben, ist noch mehr Militär in die | |
Grenzregion verlegt worden. Entsprechend steigt die Spannung. Für die | |
Sicherheitskräfte ist jeder Kurde in Städten wie Nusaybin, Cizre oder | |
Şırnak mittlerweile ein potenzieller Terrorist. Am liebsten würde man die | |
Bevölkerung ganz vertreiben, doch die klammert sich an ihre Heimat. Selbst | |
in der zu 80 Prozent zerstörten Stadt Şırnak weigern sich die meisten | |
Bewohner, zu gehen. Stattdessen campieren sie in Sichtweite der Stadt. | |
Unter den Bewohnern der zertrümmerten Städte wächst der Hass auf den | |
türkischen Staat. Dabei hätte alles ganz anders kommen können. Der Kurde | |
Abdülkerim Can war früher begeisterter Anhänger Erdoğans. „Ich habe | |
jahrelang AKP gewählt“, erzählt er. Vor Jahren sei Erdoğan in die Region | |
gekommen; er habe davon gesprochen, „wie er das Kurdenproblem mit | |
friedlichen Mitteln lösen wollte“, erinnert sich Abdülkerim Can. „Damals | |
haben wir gedacht, er ist ein netter, aufrichtiger Mensch. Nicht nur ich, | |
viele andere Kurden haben ihn gewählt.“ | |
Auf die Frage, wann er sein Vertrauen in Erdoğan verloren hat, muss er | |
nicht lange nachdenken. Beim Kampf um Kobani, der kurdischen Stadt auf der | |
syrischen Seite der Grenze unweit von Nusaybin, sagt Abdülkerim Can. „Da | |
hat er uns verraten. Da hat er uns an den IS verkauft.“ | |
21 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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