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# taz.de -- Flucht syrischer Kurden in die Türkei: An der Grenze zum Leben
> Für Kurden aus Syrien ist es schwierig, ins Nachbarland zu gelangen. Der
> Landweg ist lebensgefährlich. Eine Familie hat es dennoch gewagt.
Bild: Eine kurdische Familie aus Syrien in einem türkischen Flüchtlingscamp
Während ich im Begriff war, mein ganzes Leben in al-Hasaka in Trümmern
hinter mir zu lassen, beschäftigten mich am meisten meine Kinder. Ob sie in
der Lage sein würden, die Qual einer „illegalen“ Flucht ins Ausland zu
überleben. Mein ältester Sohn Hamzah war schon sieben, aber der kleine
Ainad gerade vier Jahre alt geworden. Zwar fragte ich mich auch, wie meine
Mutter, diese alte Frau, die allein keine zwanzig Schritte ohne Pause gehen
konnte, zurechtkommen würde ohne uns. Aber es gab keine Antwort, nur die
Gewissheit, dass wir schnellstmöglich das Land verlassen mussten.
Alle Grenzübergänge von Syrien zur Türkei waren inzwischen dicht. Selbst
die Grenzübergänge in al-Hasaka, al-Qamischli, Ra’s al-’Ain, al-Darbasiyah
und Amude waren wegen des seit Monaten schwelenden Kriegs zwischen den
Verbänden der kurdischen Bürgerwehr und der von der türkische Regierung
unterstützten Al-Nusra-Front geschlossen.
Über Tal Abjad frei und lebendig in die Türkei zu gelangen gilt für uns
Kurden als fast unmöglich. Kurden können lediglich vom Flughafen
al-Qamischli nach Aleppo, Damaskus und Latakia fliegen. Eine Fahrt auf dem
Landweg ist mit dem Risiko verbunden, von den der al-Qaida nahestehenden
Gruppen, deren Kontrollposten all diese Strecken säumen, verhaftet,
verschleppt und getötet zu werden. Unabhängig von unserer
Parteizugehörigkeit – gleich, ob wir kurdischen oder arabischen Parteien
angehören oder parteilos sind – war das Leben für uns Kurden inzwischen so
geworden, als befänden wir uns unter Hausarrest. Doch wir konnten nicht
fliegen, da weder meine Frau noch meine Kinder Reisepässe besaßen, und
schließlich mussten wir uns doch für den Landweg entscheiden.
Meine Frau und ich beschlossen, unsere beiden Kinder direkt mit der
Wahrheit zu konfrontieren, obwohl sie noch sehr klein sind, damit wir bei
unserer Flucht nicht scheiterten. Wir erzählten Hamzah in Anwesenheit von
Ainad, der wie ein Erwachsener lauschte, dass wir zu unseren Verwandten in
der Türkei wollten, wo er fernsehen, im Park spielen und neue Freunde
kennenlernen konnte. Wir sagten ihm, dort gebe es immer Strom, Trinkwasser
und Lebensfreude. Dort höre man weder Artillerie noch Explosionen, und man
sehe keine verbluteten Menschen auf dem Nachhauseweg. Wir beendeten unser
Gespräch mit dem schwierigeren Teil: dass es auf unserem Weg Soldaten
gebe, deren Sprache wir nicht kennen, die uns in die „andere Welt“
zurückschicken würden, wenn sie uns entdeckten. Dann wäre es für uns
unmöglich, von Parks zu träumen.
## Eine verminte Abkürzung
Mit uns entschied sich auch eine andere Familie zum Aufbruch. Die Tochter
der Familie war in der fünften Klasse, ihr Sohn in Hamzahs Alter. Wir
beschlossen, das Land gemeinsam zu verlassen – als hätten wir dort keine
Erinnerungen, keine Freude, kein Leid, keinen Kummer und keine Liebe. Als
hätten wir in diesem Land weder studiert noch gearbeitet.
Einer der drei Schlepper, die uns auf dem Landweg über die Grenze bei
ad-Darbasiyah bringen sollten, hatte eine schreckliche Alkoholfahne, was
unsere Sorge enorm erhöhte. Denn er führte uns über eine verminte
Abkürzung, die er auf keinen Fall umgehen wollte. Und so fürchteten wir, er
würde in seinem Zustand jeden Moment auf eine Mine treten. Doch zu unserem
Glück war er einer dieser kurdischen Säufer, die ihren Scharfsinn auch dann
nicht verlieren, wenn sie einen Eimer Alkohol in sich hineinkippen.
Nach einer zehntägigen Reise sollten wir um drei Uhr morgens die Grenze
überqueren. Nach dem verminten Acker, den die unschuldigen Füße unserer
Kinder unversehrt überquert hatten, stießen wir auf vier Zäune aus eng
gerolltem Stacheldraht. Mit der Kälte von Grenzsoldaten starrten die Zäune
uns ins Gesicht. Dahinter tat sich die Ebene auf, die die Türken seit 1923
besetzt halten und durch die die Schiene des Orient-Express verläuft, die
kurdische Familien und Dörfer erbarmungslos voneinander abschnitt.
Die kleine, krumme Banane am Himmel konnte die Finsternis dieser Nacht
nicht durchbrechen. Alle Hunde auf der syrischen Seite waren wach und
bellten ohne Unterlass, während die türkischen Hunde noch im Tiefschlaf
dämmerten. Es war erstaunlich, dass kein einziger türkischer Hund länger
wach geblieben war, und sei es nur gewesen, um eine Runde sinnlos zu
bellen, wie es unsere taten.
## Ein Leben in zwei Koffern
Ich lief am Ende der Karawane und sah mit feuchten Augen, wie unser Leben
in zwei Koffer passte, eineinhalb davon gefüllt mit Kleidern für die
Kinder. Es war ein kleines, leichtes Leben, das wir da mit uns trugen, wie
die geschiedenen Frauen auf dem Land, die ihre Habseligkeiten durch die
Jahre mit sich herumschleiften. Ich fragte mich, ob es dem Leben gegenüber
gerecht war, ein solches Risiko einzugehen. Denn die Grenze zwischen uns
und dem Leben erschien mir als unüberwindbare Mauer.
Der betrunkene junge Mann telefonierte die ganze Zeit flüsternd mit seiner
uns unbekannten Geliebten. Ich dachte mir, vielleicht lotst sie ihn aus der
Ferne, damit wir auf keine Mine treten.
Der andere junge Mann trug ein Trikot von Mesut Özil von Real Madrid. Seine
Aufgabe war es, den Stacheldraht durchzuschneiden und wie eine Tür
aufzuklappen, damit wir die Schienen des einstigen Orient-Express, der
weder orientalisch war noch mit Expressgeschwindigkeit verkehrte, erreichen
konnten.
Die Aufgabe des dritten jungen Mannes war mir auch am zehnten Tag unserer
Flucht noch nicht klar. Womöglich war er der treue Freund und Begleiter der
anderen beiden. Während der ganzen Strecke, flüsterte er uns zu, wir
sollten den türkischen Soldaten sagen, er sei unser Cousin, falls sie uns
erwischten. Wir fragten nicht, weshalb.
Er erzählte unaufgefordert weiter, die Soldaten würden ihn zu Tode prügeln,
wenn sie ihn kriegten. Oder ihm zumindest beide Arme und das Nasenbein
brechen. Dabei wendete er sich zu dem Betrunkenen und fügte hinzu: „So wie
sie es mit eurem Cousin getan haben.“ Da fiel uns zum ersten Mal auf, dass
sein Arm mit einem schmutzigen grünen Fetzen vor die Brust gebunden war.
Als er weiter erzählen wollte, stoppte ihn der Bandenführer mit der
Eisenschere, indem er ihm in ins Gesicht spuckte und ihn anherrschte, er
solle schweigen.
## Auf der anderen Seite
Die Familie, die uns auf der Flucht begleitete, betete eine geschlagene
Dreiviertelstunde, während wir auf dem Acker saßen und auf das Abziehen der
türkischen Grenzpatrouille warteten. Danach gab der Schlepper, der mit
einer Gruppe der kurdischen Bürgerwehr am Teetrinken war, das Zeichen, es
gehe nun weiter.
Als wir die asphaltierte Straße der türkischen Seite erreichten,
erleichterten die Kinder ihre Blasen in Sekundenschnelle. In tiefen Zügen
atmeten sie die neue Luft ein, bevor sie alle gleichzeitig leise zu weinen
begannen. Ich sagte zu Hamzah: „Wir haben das Schwerste hinter uns, jetzt
kommen schöne Zeiten, und wir werden fröhliche Dinge erleben.“
Wir bestiegen ein türkisches Taxi, dessen Fahrer anscheinend bestens über
unsere vermeintliche Verwandtschaft mit dem Schlepper Bescheid wusste. Er
fuhr uns zum Hauptbahnhof von Kızıltepe. Dort erblickten wir Dutzende
Syrerinnen und Syrer in zerschlissenen und schmutzigen Kleidern auf Bänken
und am Straßenrand sitzend. Einige von ihnen saßen in einem kleinen Park
hinter dem Bahnhof.
Den nächsten Tag verbrachten wir in den Parks und Restaurants von Urfa. Die
Kinder waren überglücklich. Mit feuchten Augen begegnete ich der
Traurigkeit in den Blicken meiner Frau. Der Horrortrip war endlich vorbei,
doch das machte nicht alle von uns zu glücklicheren Menschen.
Aus dem Arabischen: Mustafa Al-Slaiman
25 Feb 2017
## AUTOREN
Aref Hamzah
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