# taz.de -- Folgen des Türkei-Flüchtlingpakts: Nie wieder Rakka | |
> Was bringt das Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei den | |
> Betroffenen? Die Geschichte einer Syrerin in der Türkei, die nun eine | |
> rote Bankkarte hat. | |
Bild: Türkische Arbeiter bauen in Cilvegözü, direkt an der Grenze zu Syrien,… | |
Istanbul/Urfa Es ist der 1. Februar, 16.49 Uhr, als Sabha al-Mustafas | |
goldfarbenes Smartphone eine neue SMS anzeigt. „Ihr Antrag wurde geprüft. | |
Sie wurden als berechtigt eingestuft“, steht da. Tags darauf holt sie ihre | |
rote Karte in einer Bankfiliale an der Atatürkstraße in der Innenstadt von | |
Urfa ab, die ihr damit nun zusteht. Bald soll sie damit nun Geld abheben | |
können, zum ersten Mal, seit sie vor einem halben Jahr die Türkei | |
erreichte. Das Geld kommt von der EU. Dass sie es bekommt, ist ein Teil des | |
Deals mit der Türkei vom März 2016. | |
Ihre Wohnung befindet sich im ersten Stock eines Hauses in einem | |
Außenbezirk von Urfa, im Süden der Türkei. Draußen sieht man das Gebirge, | |
das den Frieden vom Krieg trennt, es leuchtet ockerfarben, dahinter liegt | |
die Grenze, und durch den eisblauen Himmel darüber ziehen sich die Streifen | |
der Bomber der US-Armee auf ihrem Weg zum „Islamischen Staat“. Al-Mustafa | |
trägt einen türkisfarbenen Mantel und ein schwarzes Kopftuch, ihre Züge | |
sind hart. Sie ist 42 Jahre alt, die Kinder sind 6, 7 und 8, der | |
Altersabstand zur Mutter ist ungewöhnlich in einer Region, in der viele | |
Frauen Kinder bekommen, bevor sie volljährig sind. Aber al-Mustafa hat | |
studiert, spät geheiratet; einen Zimmermann, der meist in Saudi-Arabien | |
arbeitete. | |
In ihrer Wohnung in Urfa gibt es keine Möbel, nur Teppiche, in der Ecke | |
steht ein großer, eiserner Ofen. Doch zum Heizen hat al-Mustafa nichts. | |
Daneben steht eine Nähmaschine, die große Rolle schwarzen Garns sticht in | |
die kalte Luft. Darunter versteckt sich eine der Töchter. | |
Anfang Januar war al-Mustafa auf der anderen Seite Urfas, in einem Gebäude, | |
das der Türkische Rote Halbmond gemietet hat. 400.000 syrische Flüchtlinge | |
leben in der Stadt, mehr als in jeder anderen in der Türkei, Istanbul | |
ausgenommen. Seit Dezember haben hier pro Tag 240 Familien einen Termin, | |
penibel geordnet nach dem Stadtteil, in dem sie leben. | |
Al-Mustafa setzte sich auf eine der blauen Metallbänke, und als die | |
Digitalanzeige auf ihre Wartenummer sprang, bekam sie einen Fragebogen, 17 | |
Seiten. Wer nicht lesen kann, muss sich beim Ausfüllen von seinen Nachbarn | |
helfen lassen. Dann trat sie in dem neonbeleuchteten Innenraum an einen der | |
Schalter, zeigte Ausweise vor, ihren eigenen und die der Kinder, und gab | |
den Fragebogen ab. Es war der Antrag auf Leistungen aus dem Emergency | |
Social Safety Net, dem EU-Flüchtlingshilfsprogramm, das in diesen Wochen | |
anläuft. | |
Vor einem Jahr, am 18. März 2016, trafen sich in Brüssel der damalige | |
türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, EU-Kommissionspräsident | |
Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk. Sie schlossen ein | |
Abkommen über die syrischen Flüchtlinge, das eigentlich ein Pakt zwischen | |
der deutschen Kanzlerin und dem türkischen Präsidenten war. „Die Türkei | |
wird alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um neue See- oder Landwege für | |
die illegale Einwanderung von der Türkei in die EU zu verhindern“, steht | |
unter Punkt 3 der Abmachung, die offiziell nur eine „Stellungnahme“ ist, | |
kein völkerrechtliches Dokument. Die Gegenleistung steht unter Punkt 6. Sie | |
heißt „Facility for Refugees in Turkey“. Ein Milliarden-Euro-Etat, Europas | |
Beitrag zur Versorgung der Flüchtlinge im Reich Erdoğans. Zwei Milliarden | |
aus Brüssel, eine Milliarde von den Mitgliedsstaaten, auszugeben bis Ende | |
dieses Jahres, ab 2018 vielleicht noch einmal so viel. | |
Daher stammt das Geld, das Sabha al-Mustafa nun, von Ende des Monats an, | |
bekommen soll. | |
Sie hatte Rakka, die Hauptstadt des „Islamischen Staats“, Mitte 2016 | |
mithilfe einer Lüge verlassen. Das ist die Geschichte, die sie erzählt: | |
Ihre Tochter brauche eine Brille, hatte sie den Dschihadisten gesagt. Dabei | |
sind die Augen ihrer Tochter völlig in Ordnung. „Wir haben etwas gesucht, | |
was in Rakka nicht behandelt werden kann“, sagt al-Mustafa. | |
Als sie die Stadt verließ, gab es in Rakka keine Augenoptiker mehr. Und | |
auch keine Schulen. Nur den Koranunterricht in der Moschee. „Gehirnwäsche“, | |
sagt al-Mustafa. So unterrichtete sie ihre eigenen Kinder zu Hause. Zu | |
essen gab es in Rakka immer weniger. Die Stadt wurde belagert. Bevor der IS | |
kam, kostete Brot 30 syrische Lira, am Ende waren es mehr als 100. Was es | |
gab, waren Hinrichtungen. „Die Mädchen konnte ich im Haus behalten, der | |
Junge musste sie mit ansehen“, sagt al-Mustafa. | |
Am 20. Juni 2016 ließ der IS sie mit den beiden Töchtern und ihrem Sohn | |
nach Damaskus reisen. Dort gibt es Optiker. Und die Behörde, die Pässe | |
ausstellt. Khamila Sabha al-Mustafa musste dem IS versprechen, | |
zurückzukommen. | |
Als sie Rakka 2016 verließ, hatte die Türkei die Grenze weitgehend | |
geschlossen. 1.800 Euro wollten die Schlepper dafür, sie und ihre drei | |
Kinder trotzdem aus Syrien zu bringen. „23 Jahre habe ich gearbeitet“, sagt | |
al-Mustafa. „Alles, was ich gespart habe, und mein verkaufter Schmuck | |
reichten gerade, um das zu bezahlen.“ Elf Menschen waren in ihrer | |
Reisegruppe, zweimal wurden sie beschossen. Nur zehn erreichten am 3. Juli | |
2016, nach vier Tagen und drei Nächten, die Türkei. „Wir hatten nicht | |
einmal mehr Gepäck“, sagt al-Mustafa. | |
Als sie ankamen, im sechsten Kriegsjahr, waren die Camps für Flüchtlinge in | |
der Türkei längst voll. Wer nicht im Camp leben darf, muss sehen, wo er | |
bleibt. Al-Mustafa und ihre Schwester fanden eine Wohnung. 810 Lira kostet | |
sie, umgerechnet 213 Euro. Drei Räume, für zwei Erwachsene und sechs | |
Kinder. Kein Geld für alles andere. | |
Was essen die Kinder? „Die Nachbarn kochen für sie mit.“ | |
Was isst sie selbst? „Manche Menschen stecken mir auf der Straße Brot zu.“ | |
Das ist der Status quo. | |
## Das Armenlos der Geflohenen | |
Immer wenn Flüchtlinge aus Rakka in Urfa ankommen, fragt al-Mustafa sie | |
nach ihrem Mann, der nachkommen sollte. Sie hofft, dass der IS ihn nicht | |
getötet hat. Doch es kommt fast niemand mehr, den sie fragen kann. Der IS | |
hat Jagd auf Schlepper gemacht und sie hingerichtet. Al-Mustafa fürchtet, | |
ihren Mann nie wiederzusehen. | |
Im Dezember, erzählt al-Mustafa, habe sie aufgeben wollen. Die Kraft habe | |
sie verlassen. „Ich wollte zurück nach Rakka“, sagt sie. „Dort habe ich | |
wenigstens ein Haus.“ | |
Ihre Geschichte zeigt, wie Flüchtlinge in der Türkei leben. Kein Staat der | |
Welt hat annähernd so viele Menschen aufgenommen. Doch ihre Lage ist | |
verheerend. 2.910.281 SyrerInnen waren diese Woche in der Türkei | |
registriert. Dazu kommen einige Hunderttausend aus Iran, Irak, Afghanistan, | |
Pakistan, Afrika. | |
Zwar hat die Türkei den Arbeitsmarkt offiziell für SyrerInnen geöffnet, | |
aber bis heute hat das Arbeitsministerium gerade mal 10.000 | |
Arbeitserlaubnisse ausgestellt, für diejenigen unter ihnen, die formell | |
Beschäftigungen fanden. Nicht einmal jeder Zehnte der Syrer ist in einem | |
der 26 offiziellen Camps untergekommen. Wer darin lebt, wird versorgt. Wer | |
draußen bleibt, meist nicht. Etwa 500.000 Flüchtlinge in der Türkei haben | |
die UN in diesem Winter mit etwas Geld für Heizmaterial und Lebensmittel | |
unterstützt. Das klingt nach viel, heißt aber: Zwei Millionen bekommen | |
nichts. 90 Prozent der Flüchtlinge gelten als arm. Ein Drittel hat nur | |
unregelmäßig genug zu essen, nur etwas mehr als jedes zweite | |
schulpflichtige Kind besucht eine Schule. Die anderen gehen meist betteln | |
oder arbeiten. „Negative Coping“-Strategien nennen die Hilfsorganisationen | |
das: Der Versuch, ein Problem zu lösen, schafft neue. | |
Die Grenze nach Syrien, die Khamila Sabha al-Mustafa überquert hat, ist | |
heute geschlossen, aufgerüstet, verbarrikadiert mit Betonblöcken, | |
Stacheldraht, Sperrzonen. Nur Schwerverletzte und ihre Angehörigen lässt | |
die Türkei theoretisch noch einreisen. „White door“ heißt das Prinzip. | |
Jahrelang hatte das Land offene Türen für viele Syrer. Es nahm sie auf, | |
aber versorgte sie nicht. Die Mittel der Hilfsorganisationen reichten | |
hinten und vorne nicht. Das ist der wichtigste Grund, warum 2015 so viele | |
SyrerInnen nach Europa kamen. | |
Der Großteil der Flüchtlinge in der Türkei lebt dort schon seit etwa 2013. | |
Jahrelang fühlte Europa sich nicht für sie verantwortlich. Erst die Krise | |
auf der Balkanroute, im Sommer 2015, änderte das. Europa erkaufte sich die | |
Abschottung mit der Versorgung der Flüchtlinge. | |
## Flüchtlinge erhalten Geld am türkischen Staat vorbei | |
Seit einigen Monaten fließen also die Milliarden aus Brüssel. 3 Milliarden, | |
das sind gute 1.000 Euro pro Flüchtling, für, grob gerechnet, zwanzig | |
Monate. Wie weit kommt man damit in einem Land, in dem die | |
Verbraucherpreise im Februar bei immerhin 64 Prozent des deutschen Niveaus | |
lagen? | |
„Am Anfang haben wir Zahnpasta, Mehl und Milch verteilt“, sagt Christina | |
Hobbs vom UN-Welternährungsprogramm. Doch seit Jahren gehen | |
Hilfsorganisationen dazu über, nicht Güter, sondern Geld auszugeben, wenn | |
das möglich ist. Untersuchungen ergaben, dass Flüchtlinge, die nur | |
Lebensmittel bekommen, rund die Hälfte ihrer Rationen verkaufen, um andere | |
notwendige Dinge zu kaufen. In Regionen wie Südsudan nützen Cashcards | |
wenig, in der Türkei, wo es Banken gibt und volle Supermärkte, sind die | |
Voraussetzungen aber perfekt. | |
Neunmal ist Angela Merkel in die Türkei gereist, in den vorigen zwei Jahren | |
häuften sich die Besuche. Das letzte Mal war sie Anfang Februar dort. Sie | |
wollte sichergehen, dass sich Präsident Erdoğan an seine Zusage hält. Am | |
Abend vor ihrem Besuch klagte Erdoğan, der gedroht hatte, Millionen Syrer | |
per Bus in die EU zu schicken: Die 3 Milliarden Euro seien noch immer nicht | |
angekommen. Erdoğan sähe das Geld am liebsten auf Konten des Staates. Er | |
braucht dringend Devisen. Die Lira ist nach dem Putschversuch im Juli | |
abgestürzt, die Kreditwürdigkeit der Türkei ebenso, das Außenhandelsdefizit | |
ist schon länger enorm. Doch die Europäer zahlen das Geld weitgehend am | |
Staat vorbei aus. Und entscheiden allein, wofür. Die Türkei hat im | |
Vergaberat der Facility for Refugees in Turkey nur Beobachterstatus. Ein | |
diplomatischer Affront. Erdoğan sollte nicht alles bekommen, was er | |
wollte. | |
Aufgrund des Deals mit Erdoğan gibt die EU in diesem und dem nächsten Jahr | |
in der Türkei mehr Geld für Nothilfe aus als im ganzen Rest der Welt. Ein | |
großer Teil fließt in das Emergency Social Safety Net, das weltweit größte | |
Hilfsprogramm seiner Art. | |
Der Schlüssel ist die Bankkarte, wie sie Khamila Sabha al-Mustafa bekommen | |
hat, ausgestellt von der staatlichen türkischen Halkbank. Sie trägt das | |
Logo des Roten Halbmonds, der das Projekt umsetzt. Vor einer Woche haben | |
die Geldautomaten der Halkbank ein arabisches Menü bekommen. | |
Anders als mit den Guthabenkarten etwa für Lebensmittel – conditional cash | |
genannt –, die Flüchtlinge bislang bekamen, kann mit dieser Karte Bargeld | |
abgehoben werden. Die Anträge der Geflüchteten nimmt der Rote Halbmond seit | |
November entgegen. | |
Wer Geld bekommen will, muss beim Innenministerium eine Adresse nachweisen. | |
Wohnungslose fallen so heraus. Die zweite Voraussetzung, um Leistungen zu | |
bekommen, ist „Vulnerabilität“, „Verletzbarkeit“. Abgefragt werden bei | |
jeder Familie Merkmale wie alleinerziehende Eltern, Haushalte, die von | |
Senioren geführt werden, Haushalte mit Behinderten, eine hohe Zahl von | |
Kindern, formale Erwerbslosigkeit. Die Angaben werden so gewichtet, dass am | |
Ende etwas mehr als jeder dritte syrische Flüchtling als „vulnerabel“ gilt. | |
Rund eine Million Menschen. So viele Bezieher soll es bis kommenden Juni | |
geben; die Leistungen sollen zunächst zwei Jahre lang laufen. | |
Was auch heißt: Etwa 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge bleiben unversorgt. | |
100 Lira pro Person und Monat bekommen die Bezieher des Gelds aus dem | |
Emergency Social Safety Net, dem Flüchtlingshilfsprogramm ESSN, etwa 30 | |
Euro. Zu wenig zum Leben. Das EU-Budget würde mehr hergeben, aber die | |
türkische Regierung erhob Einwände: „höhere Zahlungen an Syrer könnte | |
Proteste unter armen Türken provozieren, die sich zurückgesetzt fühlen“, | |
sagt Jane Lewis, Büroleiterin der EU-Nothilfeagentur ECHO in der Türkei. | |
Trotzdem könnte der Betrag aufgestockt werden. „Wir planen Zusatzzahlungen | |
für Familien, die ihre Kinder zur Schule schicken.“ Rund 40 Lira, | |
vielleicht etwas mehr für Mädchen, könnten es werden. | |
Die Vorteile des Systems sind klar: Die Flüchtlinge sind autonom. Sie sind | |
nicht an Ausgabestellen in Camps gebunden, können sich frei im Land | |
bewegen, die Karte funktioniert an jedem Geldautomaten. Sie bekommen keine | |
Säcke mit Reis oder Mehl, sondern können entscheiden, was sie kaufen, | |
Preise vergleichen. Die Verwaltungskosten des ESSN sollen bei 15 Prozent | |
des Budgets liegen – für solche Hilfsprogramme ist das ein sehr niedriger | |
Anteil. Das Geld wird zentral verwaltet und ausgezahlt. Steigen weitere | |
Geber ein, zum Beispiel Japan, könnten die Zahlungen ohne weiteren Aufwand | |
aufgestockt werden. | |
Doch die computergestützte Steuerung funktioniert auch in umgekehrter | |
Richtung: um Flüchtlinge vom Bezug wieder auszuschließen. Die ESSN-Daten | |
werden automatisch mit denen der türkischen Behörden abgeglichen. Bekommt | |
ein Flüchtling eine Sozialversicherungsnummer, weil er eine Arbeit findet, | |
wird die Zahlung automatisch eingestellt. Auch die Daten des | |
Bildungsministeriums werden abgeglichen: Besuchen Kinder weniger als 80 | |
Prozent des Unterrichts, wird auch die Zusatzzahlung automatisch | |
abgestellt. Hartz IV lässt grüßen. Informiert werden die Flüchtlinge | |
darüber jeweils per SMS. Wer findet, dass der Vulnerabilitätsalgorithmus | |
oder die Datenbanken ihm Unrecht tun, kann gebührenfrei die Nummer 168 | |
anrufen: Der Türkische Halbmond hat ein arabischsprachiges Callcenter | |
eingerichtet. Der Autonomiegewinn durch die Bankkarte ist mit einem | |
technologischen Steuerungsregime erkauft, auf das die Betroffenen keinen | |
Einfluss haben. | |
## Ein kleinerer Teil des Gelds fließt direkt an den Staat | |
Mit dem ESSN ist es nicht getan. Syrische Kinder haben Anspruch auf | |
Beschulung, knapp eine Million zusätzlicher Plätze muss die Türkei für sie | |
schaffen. Die SyrerInnen können sich in staatlichen Krankenhäusern | |
behandeln lassen, drei Millionen zusätzliche Patienten muss das türkische | |
Gesundheitssystem deshalb versorgen. Rund 600 Millionen Euro der | |
EU-Milliarden gehen deshalb an das Gesundheits- und Bildungsministerium – | |
ein kleinerer Teil des Gelds fließt also auch direkt an den Staat. | |
Eines der Probleme ist, dass die meisten Patienten kein Türkisch sprechen. | |
Weitere Millionen fließen deshalb in die Umschulung syrischer Ärzte. Rund | |
1.000 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter den Flüchtlingen | |
gezählt. 600 Gesundheitszentren für SyrerInnen werden jetzt nach und nach | |
in der Türkei eröffnet. Dort sollen, das ist der Plan, die geflüchteten | |
syrischen Ärzte und Pflegekräfte arbeiten. | |
An einem Morgen im Februar sitzen rund zwanzig von ihnen im Ballsaal des | |
Hotels Dedeman in Urfa. Wo sonst Hochzeiten gefeiert werden, steht jetzt | |
eine WHO-Dozentin, die Organisation hat das Hotel für die Fortbildung | |
gemietet. Ärzte und Schwestern sitzen zwischen Säulen an weiß gedeckten | |
Tischen und folgen ihren Ausführungen über Nierensteine. Der Laserpointer | |
der Dozentin hüpft zwischen den Wörtern für „Blase“ und „Harnröhre“… | |
her. Alle im Saal wissen, was Nierensteine sind, aber sie sollen die | |
türkischen Begriffe lernen. | |
Die Regelungen für ausländische Ärzte, die in der Türkei eine Approbation | |
wollen, sind streng. „Wegen der Notsituation wird bei den Syrern ein | |
vereinfachtes Verfahren durchgeführt,“ sagt Mustafa Bahadir Sukaci von der | |
WHO. Sechs Wochen dauert die Fortbildung. Einer der Teilnehmer ist Majid | |
al-Muhammad, ein Kinderarzt in Wollpullover und mit Bürstenhaarschnitt. | |
2012 verließ der 42-Jährige seine Heimatstadt Homs. Mit seiner Familie lebt | |
er seither in der Harran Kokenli Container City, einem Containerlager für | |
16.000 Menschen direkt an der syrischen Grenze. „Die Sprache ist das | |
Schwierigste, wenn man hier als Arzt arbeiten will“, sagt al-Muhammad. Im | |
Februar endet die Fortbildung, er will sich auf eine der Stellen in den | |
neuen Gesundheitszentren bewerben. 750 Dollar zahlt die Regierung den | |
syrischen Ärzten. „Wir werden Syrien nicht vergessen, aber wenn es geht, | |
bleiben wir hier“, sagt er. Er hat ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht. | |
„Sonst wäre ich in Europa.“ Menschen wie Majid al-Muhammad bringt der | |
Türkeideal so bescheidene Jobs. | |
Andererseits stecken infolge des Abkommens Zehntausende Syrer in | |
Griechenland unter erbärmlichen Bedingungen fest. Bei Schnee und Eisregen | |
müssen sie auf Gefängnisinseln, in überfüllten Lagern ausharren. „Sie | |
zahlen den Preis für den europäischen Zynismus und den verwerflichen Deal | |
mit der Türkei“, sagt Clement Perrin von Ärzte ohne Grenzen in | |
Griechenland. | |
In dem Flüchtlingsdeal hat die EU sich verpflichtet, das Kapitel 33 der | |
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen und bis Juni 2016 | |
Visumfreiheit für Türken einzuführen. Beides ist nicht geschehen. Die | |
Türkei dürfte nichts anderes erwartet haben; als die EU im letzten Oktober | |
ein von der Türkei gestelltes Ultimatum zur Visumfreiheit verstreichen | |
ließ, geschah jedenfalls – nichts. | |
Eine andere Gegenleistung aber, die im Text des Abkommens nicht auftaucht, | |
hat Erdoğan sehr wohl bekommen: den Verzicht auf die Einmischung in die | |
türkische Innenpolitik. Spätestens seit dem Putschversuch vom Juli baut der | |
Präsident das Land in einen islamisch-autoritären Staat um. Im Südosten | |
führt er einen erbarmungslosen Krieg gegen die Kurden. Widerspruch, | |
Sanktionen des Westens gar muss er nicht fürchten. Die Flüchtlinge | |
garantieren das. | |
Daran denkt Khamila Sabha al-Mustafa nicht. Anfang Februar, nachdem sie die | |
rote Geldkarte in einer Bankfiliale an der Atatürkstraße abgeholt hatte, | |
bekam sie eine weitere SMS. Ab Ende Februar würde das erste Guthaben | |
verfügbar sein, stand da: 400 Lira, gut 100 Euro. Was sie davon kaufen | |
werde? „Nichts“, sagt sie. Sie sei froh, dass sie dann die Miete bezahlen | |
könne. | |
26 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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