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# taz.de -- Suruçs Ex-Bürgermeister in Deutschland: Amtshilfe für die HDP
> Ein abgesetzter Bürgermeister aus der Türkei beantragt nach seiner Flucht
> in Deutschland Asyl. Im Heidelberger Rathaus findet er einen Helfer.
Bild: März 2016: Kurdische Migranten feiern bei Idomeni das Neujahrsfest Newroz
HEIDELBERG taz | Nach dem Besuch bei seinem deutschen Amtskollegen ist
Orhan Şansal wieder voller Hoffnung. Vor einer Stunde stand der hagere Mann
mit früh ergrautem Haar, der vor einem Jahr noch Bürgermeister der
türkischen Stadt Suruç war, etwas verloren in der Heidelberger Altstadt und
zog nervös an seiner Zigarette. Jetzt macht er am Kornmarkt ausgelassen
Selfies mit seinen beiden Bodyguards. Der hiesige Bürgermeister hat ihm,
dem kurdischen Asylbewerber, viel versprochen. Vielleicht mehr, als er
halten kann.
Orhan Şansal ist Politiker der prokurdischen Partei HDP. Bis Februar 2016
war er Bürgermeister jener Grenzstadt zu Syrien, die durch zwei jüngere
Ereignisse weltweit bekannt wurde. Im September 2014 nahm die Stadt
geschätzt 200.000 Flüchtlinge aus Kobane auf, die Nachbarstadt von Suruç in
Syrien, die der IS umzingelt hatte. Lokalpolitiker Şansal wurde über Nacht,
wie er selbst sagt, zum Flüchtlingshelfer. In wenigen Tagen vervierfachte
sich die Einwohnerzahl.
Dann, kein Jahr später, sprengte sich in Suruç ein Selbstmordattentäter in
die Luft und tötete 32 junge Menschen, die aus dem ganzen Land
zusammengekommen waren, um beim Wiederaufbau Kobanes zu helfen.
Keines der Ereignisse warf Şansal aus der Bahn. Doch seit vergangenen
Sommer geht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer stärker
gegen Kurden und die HDP vor. Auch Orhan Şansal wurde von seinem Posten
abgesetzt und per Haftbefehl gesucht. Der Vorwurf in der Anklage lautete:
Unterstützung von Terroristen.
Der Bürgermeister floh wie zuletzt viele TürkInnen nach Deutschland und
beantragte Asyl. Şansal ist überzeugt: So stark wie heute ging die Türkei
noch nie gegen die kurdische Bevölkerung vor. Mehr noch: Präsident Erdoğan
marschiere nicht wegen der Terrormiliz IS in Syrien und Irak ein, sondern
allein deshalb, um eine kurdische Selbstverwaltung in den Nachbarländern zu
verhindern.
## Schlohweiß Mähne, graue Dreiteiler
So erzählt es Şansal im Heidelberger Rathaus bei einer Tasse türkischem
Çay. Ihm zugewandt sitzt Wolfgang Erichson, schlohweiße Mähne, grauer
Dreiteiler. Als grüner Bürgermeister in Heidelberg hat er, räumt Erichson
ein, im Vergleich keinen Grund zur Klage. Die Flüchtlingsdebatte
hierzulande kommt ihm geradezu lächerlich vor: „Wenn ich bedenke, wie viele
Flüchtlinge Sie in Suruç aufgenommen haben, sehe ich erst, wie klein meine
Probleme hier sind.“ In Heidelberg leben 530 Flüchtlinge.
Über seinen Parteikollegen Memet Kılıç, der von 2009 bis 2013 für die
Grünen im Bundestag saß und nun als Rechtsanwalt Orhan Şansal vertritt, kam
der Bürgermeistertreff zustande. Und der eine macht dem anderen Mut. „Wir
können uns ja für Sie zuständig erklären“, sagt Erichson. „Und mit Ihrer
Familie, das kriegen wir auch hin.“
Nun träumt Şansal davon, seine drei Kinder und seine Frau bald
wiederzusehen, die sich vor den türkischen Behörden verstecken. Und davon,
in Deutschland Asyl zu erhalten.
## Angst vor Abschiebung
Nur: So einfach ist es nicht. Denn Şansal ist über den Landweg aus der
Türkei ausgereist. Mit Hilfe von Schleppern passierte er die Grenze zu
Rumänien. Dort nahmen ihm Grenzbeamte Pass und Dienstausweis ab. Wegen der
Dublin-Regelung ist Rumänien für sein Asylverfahren zuständig. Şansal
betrat dort zum ersten Mal EU-Boden.
In Rumänien, behauptet Şansal aber, sei der türkische Geheimdienst sehr
aktiv. Und er fürchtet, von dort in die Türkei abgeschoben zu werden. Und
damit willkürlicher Verfolgung, Haft und vielleicht sogar Folter
ausgeliefert zu sein.
Die Kurden, so sieht es Şansal, seien gezwungen, ihre politischen
Errungenschaften zu verteidigen. Wie er zum bewaffneten Kampf und der
verbotenen kurdischen Terrororganisation PKK steht, sagt Şansal nicht. Er
sagt nur so viel: Er wolle den Kampf für politische Teilhabe der Kurden in
der Türkei auch in Deutschland weiterführen.
„Ob Deutschland mir Asyl gibt oder nicht, ist auch eine politische
Entscheidung“, sagt er. Dem Anhörer vom Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (Bamf) habe er die türkische Klageschrift vorlegen können, die
insgesamt 44 Jahre Haft für ihn fordert. Unter anderem wird ihm
vorgeworfen, dass die Stadt Suruç einen Park nach einem Mann benannte, den
das türkische Militär beim versuchten Grenzübertritt erschossen hatte.
Lächerlich, findet Şansal. „Auch die Aufnahme und Versorgung der
Flüchtlinge aus Kobane wirft uns die Staatsanwaltschaft heute vor.“
Ob Şansal die vollmundige Unterstützung aus dem Heidelberger Rathaus hilft,
ist aber unklar. 2016 hat das Bamf nach eigenen Angaben nur rund 7 Prozent
der türkischen AsylbewerberInnen einen Schutzstatus zugesprochen. Derzeit
überarbeitet das Innenministerium zwar die Informationen zur politischen
Lage in der Türkei, auf deren Grundlage Bamf-Mitarbeiter über Asylanträge
entscheiden. Die Frage, ob durch die überarbeite Fassung TürkInnen wieder
größere Chancen auf Asyl erhalten, wollte das Innenministerium auf Anfrage
nicht beantworten.
Der Heidelberger Bürgermeister Erichson jedenfalls ist überzeugt, dass
Şansal bleiben darf. „So einen Flüchtling wie Sie kann man sich ja nur
wünschen“, schmeichelt er seinem Gegenüber. „Und überhaupt, wenn wir
Bürgermeister nicht zusammenhalten, wer dann?“
2 Feb 2017
## AUTOREN
Ralf Pauli
## TAGS
Suruç
Schwerpunkt Türkei
Bürgermeister
Asyl
Abschiebung
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