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# taz.de -- Unterdrückung der Kurden: Der Mensch ist stärker als der Krieg
> Die Kurden trotzen der Ungerechtigkeit, die sie erfahren. Die Geschichte
> wird beweisen: Ein Volk kann man nicht von der Bühne der Menschheit
> fegen.
Bild: Gut organisiert: die kurdische Frauenkampfeinheit „Töchter der Sonne“
Vielleicht lässt es sich als „Nahostisierung der Wahrnehmung“ bezeichnen:
Ich habe mittlerweile Schwierigkeiten, mich der Reihenfolge der Ereignisse
zu entsinnen. Auch meine Wahrnehmung von langen und kurzen Zeiträumen hat
Schaden genommen. Manchmal überrascht es mich, wenn ich merke, wie zeitnah
Dinge geschahen, von denen ich glaubte, sie wären ewig her.
Uns allen trübte sich das Gedächtnis, während eine nicht abreißende Reihe
politischer Stürme die Türkei durchrüttelte. Die kurdische Sache wurde zum
bedrückendsten Opfer der ununterbrochenen Schockwellen, die das Land
erschüttert haben. Nur sehr wenige Leute erinnern sich heute noch an die
Reihenfolge all dessen, was in den vergangenen zehn Jahren geschah, und an
seine ursächlichen Verknüpfungen. Jene, die tatsächlich noch wissen, was
genau geschah, lassen sich wohl an einer Hand abzählen. Ich gehöre nicht
dazu.
Junge Kurden sind Kinder des Krieges. Und doch sind sie begierig darauf, am
politischen und kulturellen Leben teilzuhaben, allen Unmöglichkeiten zum
Trotz. Ich möchte dazu eine für mich sehr beeindruckende Szene schildern,
die auch in meinem Buch „Euphorie und Wehmut – Die Türkei auf der Suche
nach sich selbst“ vorkommt.
Sie ereignete sich 2015 in der südtürkischen Stadt Mersin. Ich hatte mit
dreißig, vierzig Personen gerechnet, die der Einladung vom Club der
Psychologen an der Universität Mersin zu einem Gespräch über meinen
jüngsten Roman folgen würden. Doch als ich den Saal betrat, sah ich mich
inklusive derer, die den Nebenraum füllten, um der Rede dort per
Videoübertragung zu folgen, einer Menge von insgesamt tausend Menschen
gegenüber. Die Fragen der Zuhörer bezogen sich auf Marx bis Lacan, Foucault
bis Žižek. Es waren unglaublich informierte und interessierte junge
Menschen.
In Mersin studieren viele junge Kurden aus Südost- und Ostanatolien, die
Universität ist die beste, zu der sie trotz mangelnder
Bildungschancengleichheit Zugang erhalten. Vor mir saßen Ende der neunziger
Jahre geborene Studenten. Sie sind zu den blutigsten Zeiten des
Bürgerkriegs aufgewachsen, die meisten von ihnen stammen aus kurdischen
Familien, die im Zuge der kriegsbedingten Binnenmigration in die Städte
abwandern mussten.
## Im Schatten von Bomben
Sie sind im Schatten von Bomben groß geworden, von Bränden, Armut,
Automatikgewehren und tief fliegenden Militärjets. In vergessenen Dörfern
vergessener Städte starteten sie mit einem Rückstand von 0:5 ins Leben.
Fast jeder von ihnen ist in der Lage, den Typ der Militärflugzeuge am
Geräusch zu erkennen. Es ist ein Wunder, dass sie nicht in den Bergen sind,
sondern hier studieren. Vielleicht lernen, leben und existieren sie deshalb
mehr als alle anderen. Sie wachsen als Kinder eines unterdrückten, aber –
und das ist von Bedeutung – gut organisierten Volkes auf. Während ihre
Altersgenossen im Westen viele verschiedene Dinge erleben können, ist für
sie als organisierte Individuen das Leben ein bitterernster
Überlebenskampf.
Als in der Türkei 1980 alle politischen Organisationen zerfielen, entstand
die der Kurden. In den Neunzigern breitete sich diese politische Dynamik
aus. Dem Krieg zum Trotz zogen die Kurden eine gebildete Generation heran.
Diese Generation verfolgt das Weltgeschehen, sie ist gezwungen, ihre Sache
auch international zu vertreten, und sie verfügt über eine
Organisationsdisziplin, die weltoffen ist, ohne das eigene Dorf zu
vergessen. HDP-Chef Selahattin Demirtaş ist ein Pionier dieser Generation.
Ihm werden andere folgen. Diese jungen Leute sind voll Hoffnung und
Zuversicht, sie sind die Erben von Generationen, die einen Preis zahlen
mussten, sie leben in der Euphorie und mit dem Selbstvertrauen, jetzt die
politische Bühne zu betreten.
Das Buch wurde geschrieben unmittelbar nach den Wahlen vom 7. Juni 2015,
bei denen der HDP auch mithilfe demokratischer Kräfte im Westen der Türkei
der Sprung ins Parlament gelang und die Türkei die stärkste Vertretung in
ihrer modernen Geschichte gewann. Leider wurde diese legitime Wahl aufgrund
obskurer Attentate und Erdoğans Ambitionen auf das Präsidialsystem am 1.
November 2015 wiederholt. Infolgedessen heißt es heute in immer mehr
Leitartikeln in den internationalen führenden Zeitungen, die Türkei stünde
vor dem Ruin. In allen möglichen Sprachen werden bereits Klagelieder über
das Ende der laizistischen, demokratischen Türkei angestimmt. Und
Selahattin Demirtaş wurde mit zehn Abgeordneten seiner HDP eingesperrt, und
niemand mehr kann seinen politischen Esprit, mit dem er die vor den Wahlen
vom 7. Juni die Türkei lähmende Angst überwand, erleben.
An diesem historischen Punkt interessiert mich eine Frage, die ich an
niemanden außer an die Geschichte selbst richte: Kann man ein Volk mit
seinem gesamten kulturellen, politischen und sozialen Erfahrungsschatz
eliminieren? Kann man, wenn man alle seine Abgeordneten ins Gefängnis
steckt und ihm alle Wege politischer Repräsentation versperrt, wenn man die
Definition des Terrorbegriffs so weit ausdehnt, dass jede noch so
menschliche Reaktion darunter fällt, und „Steine festbindet, aber die Hunde
von den Leinen lässt“ – kann man ein zu politischer Reife gelangtes Volk
von der Bühne der Geschichte streichen?
## Ohne Menschen keine Kriege
Heute scheinen außer der Regierungsseite auch die Kriegsbefürworter beider
Seiten gewonnen zu haben. Sie wollen ungebildete, dumme Massen ohne
Gedächtnis, die den Tod für einen hehren Wert halten und keine andere
Erwartung an das Leben haben, als Bleisoldaten zu sein. Nur der Mensch ist
für die Waffenindustrie unverzichtbar. Auch ohne Waffen gibt es Kriege,
aber ohne Menschen nicht.
Das einzige Instrument, das diese „Munition“ beseitigen kann, ist das Wort.
Bedauerlich, dass im Laufe der Menschheitsgeschichte noch kein anderes
Instrument erfunden wurde, das es erlaubt, beim Kampf gegen Gewalt Mensch
zu bleiben. Zu den wesentlichen Eigenschaften des Wortes gehört es, sich
nie zu erschöpfen. Auch wenn die Massen heute verstummen angesichts der
Reihe von Gewalttaten und der primitiven Propaganda des Todes, die auf die
Gewalt folgt, und es immer wieder heißt: „Das Reden hat ein Ende“, so geht
das Wort eben nicht zur Neige, kann es niemals aufgebraucht sein.
Ich darf weder als hoffnungsvoll noch als optimistisch gelten. Auch weiß
ich, wie zu Beginn erwähnt, nicht sonderlich viel. Ich war nicht einmal in
den finsteren Zellen, in denen sich in diesem schmutzigen, vertrackten
Krieg „die Wissenden“ befinden. Was ich weiß, ist – der Mensch. Und woran
ich glaube, ist wiederum der Mensch. Meist ist der Preis dafür, an den
Menschen statt an Gott zu glauben, hoch. Doch an den Menschen zu glauben,
an die kommenden, neuen Generationen an der Universität Mersin oder sonst
wo, bedeutet, daran zu glauben, dass das Wort sich nie erschöpft – und es
am Ende der Mensch ist, der standhält.
## Die Erzählung geht über den Tod hinaus
Als wir vor Jahren den kurdischen Politiker Ahmet Türk in seinem berühmten
Domizil Kasr-ı Kanço in Mardin in der Südosttürkei besuchten, erzählte er
eines Abends im Plauderton, unglaublich feinsinnig und darauf bedacht, uns
nicht zu betrüben, davon, wie er im Gefängnis von Diyarbakır gefoltert
worden war. Wie einer von einem der schlimmsten Folterknäste der
Menschheitsgeschichte aus eigener Anschauung plaudernd erzählen kann, das
weiß nur jemand, der Ahmet Türk erlebt hat. Gerade sprach er von Kameraden,
die sich im Kerker selbst verbrannten, da sprangen plötzlich die
geschlossenen Fenster auf, und ein Wind fuhr in den Raum. Herein wehten
seine damals verbrannten Freunde. Es war ein sonderbarer Moment.
Kurz, es gibt eine Erzählung, die über tagesaktuelle politische
Leidenschaften und über den Tod, den die von solchen Leidenschaften
Getriebenen bringen, hinausgeht. Die Geschichte wird einmal mehr beweisen,
dass es unmöglich ist, ein Volk von der Bühne der Menschheit zu fegen. Wir
haben es schon oft gesehen und werden es erneut sehen: Die Menschen werden
wieder aufstehen und die Geschichten ihres Leidens und ihres Widerstands
erzählen.
Es kommt der Tag, da ein Wind die Fenster aufstößt, hindurchweht und einen
kühlen Lufthauch mit sich trägt. Dann erzählt das Wort auch vom Heute – im
Plauderton.
Übersetzt aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
6 Feb 2017
## AUTOREN
Ece Temelkuran
## TAGS
Kurden
Schwerpunkt Türkei
HDP
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