Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch über Rechtspopulismus: „Keine Demokratie ist immun“
> Die türkische Autorin Ece Temelkuran erkennt im Aufstieg der Rechten in
> Europa vieles von dem wieder, was sie um ihre Heimat brachte.
Bild: „Wer zum Volk gehört, wird nicht definiert“, sagt Ece Temelkuran üb…
taz: Frau Temelkuran, Ihr Buch „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist
oder Sieben Schritte in die Diktatur“ haben Sie nach eigener Aussage
geschrieben, damit Europa und die USA aus den Erfahrungen der Türkei lernen
können. Welche Gemeinsamkeiten sehen Sie zwischen den Entwicklungen in der
Türkei und dem Rest der Welt?
Ece Temelkuran: Ich sehe sieben fundamentale Gemeinsamkeiten, deshalb
besteht das Buch aus sieben Kapiteln. Der Rassismus in Deutschland, die
Zerstörung der etablierten politischen Elite in Frankreich, der Versuch der
Engländer*innen, eine gemeinsame Sprache in Sachen Brexit zu finden, die
Schamlosigkeit in den USA, die von Trump ausgeht und in die Gesellschaft
hineinwächst – alles, was heute in den USA und Europa passiert, erinnert
mich an die Türkei von vor zehn Jahren.
In Großbritannien wurde Ihr Buch schon im Februar veröffentlicht. Wie sind
die Reaktionen?
Kränkung. Mit einem Land wie der Türkei, das vor allem mit dem Islam
assoziiert und als nichteuropäisch betrachtet wird, verglichen zu werden,
kränkt Europäer*innen. Diese Kränkung führt aber nur zu Zeitverlust. Sowohl
in Europa als auch in den USA glauben Menschen, dass ihre Demokratie
stabiler sei als die in der Türkei. Es gibt aber keine Demokratie in der
Welt, die immun ist gegen Rechtspopulismus.
Nun erscheint Ihr Buch auf Deutsch. Was erwarten Sie sich von Deutschland?
Ich glaube, dass die globale Antwort auf den Rechtspopulismus in
Deutschland artikuliert und von dort aus in die Welt gesendet werden kann.
Warum?
Aufgrund seiner Geschichte weiß Deutschland, was für ein böses Ende die
aktuelle Entwicklung nach rechts haben kann. Deutsche kennen die
heimtückische Phase vor dem Reichstagsbrand 1933 aus eigener Erfahrung.
Die Versprechen der Rechtspopulist*innen, sagen Sie, bleiben abstrakt.
Andererseits schildern Sie, wie die Rechtspopulist*innen in der Türkei
ihre Ziele auch erreichten, indem sie Essen und Kohle an das Wahlvolk
verteilten. Warum bringen Abstraktes und Konkretes das gleiche Ergebnis?
Neoliberalismus definiert den Menschen nicht über eine Identität, sondern
lediglich über die Angst, weniger oder nichts zu besitzen und über ihre
Gier nach mehr. Das reicht Menschen aber nicht aus. Rechtspopulist*innen
mobilisieren den Hunger und die verletzte Würde und verwandeln sie in eine
politische Bewegung.
Wie können rechte Wähler*innen wieder zurückgewonnen werden?
Menschen müssen vor allem daran erinnert werden, dass sie politische
Subjekte sind, das ist seit den 1980er Jahren in Vergessenheit geraten.
Linke Bewegungen verschwendeten viel Zeit mit Identitätspolitik. Und jetzt
betreiben Rechtspopulist*innen eine verzerrte Version der Klassenpolitik.
Medien legen immer mehr Wert auf Fact-Checking, was aber die Verbreitung
sogenannter Fake News nicht verhindert. Wie geht man mit Menschen um, die
es ablehnen, an die Wahrheit zu glauben?
Vor dem Fact-Checking müssen wir erst mal den Unterschied zwischen Fakt und
Wahrheit verstehen.
Und der wäre?
„Wahrheit“ ist ein ethischer und politischer Begriff, hingegen hat „Fakt�…
etwas mit der Realität zu tun, die biegsam ist. Deutschland mag glauben,
dass sich das Problem lösen lässt, wenn man ein makelloses
Fact-Checking-System aufbaut. Sie können alle Lügen von
Rechtspopulist*innen herausfinden und öffentlich machen, es wird aber
nichts daran ändern, dass Leute diesen Lügen glauben – das kennen wir aus
der Türkei. Rechtspopulistische Anführer*innen und ihre Unterstützer*innen
kann man nicht durch Fact-Checking voneinander lösen. Wichtiger ist
herauszufinden, warum Menschen unterschiedliche Wahrheiten haben und wie
man diese wieder zusammenführen kann.
Es sei falsch, Rechtspopulist*innen nicht ernst zu nehmen, schreiben Sie.
Wenn wir uns beispielsweise die Brexit-Verhandlungen anschauen, sehen wir
ein hilfloses Parlament, das nicht den Eindruck macht, vor dem Referendum
über die Dimension eines Ausstiegs aus der EU nachgedacht zu haben. Kann es
sein, dass sich Rechtspopulist*innen selber nicht ernst nehmen?
Das einzige Ziel von Rechtspopulist*innen ist, die unteren Schichten zu
mobilisieren, um obere Schichten stark zu halten. Von daher müssen sie
nicht wissen, was sie tun. Wir müssen wissen, was wir tun.
Der Rechtspopulismus verspricht aber doch, die Oberschichten zu entmachten
und untere Schichten stärker zu machen?
Richtig, Rechtspopulist*innen nutzen eine verzerrte Art von
sozialistischer, klassenpolitischer Rhetorik. Wie zum Beispiel „Wir sind
das Volk“ als Anspielung auf die Klassengesellschaft. Wer zum Volk gehört,
wird nicht klar definiert, und der Maßstab, dazuzugehören ändert sich
ständig. Jedes Mal, wenn die Politik wiederbelebt werden muss, wird der
Maßstab erneut definiert. Die AKP in der Türkei wurde zuerst als ein
Mitte-Ruck der Marginalisierten betrachtet. Aber über die Jahre gab es
keinen weiteren Maßstab, außer Erdoğan zu huldigen.
Eine starke These in Ihrem Buch ist, dass Rechtspopulist*innen zuerst
Frauen angreifen. Sie behaupten, dass diese in Deutschland mit der Kampagne
um den Paragrafen 219a an Unterstützung gewannen – mit komplexen
wirtschaftlichen Themen wäre ihnen das nicht gelungen. Nehmen Sie Frauen,
die in rechtspopulistischen Strukturen mitwirken oder diese unterstützen,
als Gefahr wahr?
Bevor wir wütend auf Frauen werden, die gegen ihr politisches Interesse
handeln, sollten wir zuerst verstehen, warum sie es tun. Unbarmherzigkeit
ist der Grund, warum wir heute die Rechtspopulist*innen am Hals haben, es
ist sinnlos, das fortzuführen. Die Diskussion, den Frauen, die sich Isis
anschlossen, die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, finde ich äußerst
herzlos. Dieses System hat uns vergessen lassen, was Menschenliebe,
Barmherzigkeit und Gnade sind, diese tauchen fast ausschließlich in
religiösen Zusammenhängen auf. Wir müssen sie wieder auf eine politische
Ebene bringen.
Apropos Menschenliebe: Der intellektuelle Mainstream in Deutschland schlägt
oft vor, mit Rechten und Nazis zu reden. Wie sehen Sie das?
Ich fände die Lebenskraft besser investiert, wenn wir stattdessen mit
einander reden und eigene Strategien entwickeln würden. Die Kolleg*innen in
den Medienhäusern Europas oder der USA sind noch immer der Meinung, dass
alles halb so wild sei, dass sie im Grunde unantastbar seien. Diese
privilegierte Haltung erinnert mich an die türkische Tageszeitung Hürriyet.
Als weibliche, kurdische oder sozialistische Kolleg*innen aus der Zeitung
entlassen wurden, dachten die männlich-privilegierten Kollegen, dass es sie
nie erwischen würde. Das dachten sie bis zu dem Tag, an dem sie selber
entlassen wurden. Heute sind sie alle arbeitslos.
Sie wohnen nicht mehr in der Türkei, sondern in Kroatien. Auch in Berlin
wächst eine neue türkische Mittelschichtdiaspora aus Akademiker*innen,
Künstler*innen und Student*innen. Was passiert mit einem Land, wenn die
Intellektuellen es verlassen?
Ich möchte diese Frage so undramatisch beantworten wie möglich. Aber ich
denke, es wird mir nicht gelingen. Immer wieder kursieren im Internet Fotos
aus dem Irak der 1950er, dem Afghanistan der 1960er oder aus dem Iran der
1970er Jahre. Auf diesen Fotos sind junge Frauen in Miniröcken oder Gruppen
junger Menschen auf politischen Versammlungen zu sehen.
Heute sehen die Bilder, die aus diesen Länder zu uns kommen, ganz anders
aus. Das alles ist nicht über Nacht passiert, das ist ein jahrelanger
Prozess. Wenn die Bildungselite verschwindet, kommt es zu einer
intellektuellen Dürre von mindestens 30 Jahren – so lange braucht das
betroffene Land, neue Mitglieder dieser Gruppe auszubilden. Solche Länder
werden zu moralischen, ökonomischen und politischen Wüsten.
27 Mar 2019
## AUTOREN
Sibel Schick
## TAGS
Lesestück Interview
Türkei
Schwerpunkt AfD
Rechtspopulismus
Donald Trump
Politisches Buch
Paragraf 218
taz.gazete
taz.gazete
Kurden
## ARTIKEL ZUM THEMA
Juristin über die Neuregelung von § 219a: „Das ist völlig widersprüchlich…
Erstmals seit der Paragraf geändert wurde, steht wieder eine Ärztin vor
Gericht. Juristin Ulrike Lembke über die Chance, dass es noch zu einem
besseren Gesetz kommt.
Tag gegen Gewalt an Frauen: Diese kleine, bösartige Maschine
Meinen Schwestern möchte ich dies auf dem Weg mitgeben: Entdeckt eine
andere Stimme in eurem Kopf. Eine Stimme, die genau das Gegenteil der
bösartigen Stimme ist. Eine Stimme, die Zuversicht äußert.
Interview mit Schriftstellerin: „Der heutige Wahnsinn wurzelt im Putsch von 1…
Ihr Roman „Stumme Schwäne“ erschien gerade auf Deutsch. Wir sprachen mit
der Schriftstellerin Ece Temelkuran über Unterdrückung und Sprache.
Unterdrückung der Kurden: Der Mensch ist stärker als der Krieg
Die Kurden trotzen der Ungerechtigkeit, die sie erfahren. Die Geschichte
wird beweisen: Ein Volk kann man nicht von der Bühne der Menschheit fegen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.