# taz.de -- Tag gegen Gewalt an Frauen: Diese kleine, bösartige Maschine | |
> Meinen Schwestern möchte ich dies auf dem Weg mitgeben: Entdeckt eine | |
> andere Stimme in eurem Kopf. Eine Stimme, die genau das Gegenteil der | |
> bösartigen Stimme ist. Eine Stimme, die Zuversicht äußert. | |
Bild: „Jedes System, das dazu führt, dass sich eine Frau wehrlos und unsiche… | |
Ich bin in Paris im Rodin-Museum, in der ehemaligen Wohnstätte des | |
Künstlers. Ich bin noch sehr jung und fühle mich wahnsinnig erwachsen. “Die | |
Hand Rodins“ und das Gesicht von Camille Claudel sind als detailgetreue | |
Skulptur hinter Glas zu sehen. Die Hand ist riesig, das Gesicht | |
wunderschön. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht – und das passiert | |
oft, weil ich die Dinge, die ich erlebe und Dinge, die ich schreibe, oft | |
durcheinander bringe – liegt ihr Kopf in einer männlichen Hand. Ich nenne | |
es “Beauty and the Beast“. | |
Wut steigt in mir auf, als ich die Skulptur betrachte. Camille Claudel | |
verbrachte jahrelang in einer psychiatrischen Anstalt, auch, weil sich | |
Auguste Rodin mit der Männerwelt verbrüderte, die sich gegen diese | |
unglaubliche Frau in Stellung gebracht hatte und Camille diesen Mann | |
trotzdem liebte. Sie nahm an, dass die Hand, die ihr Gesicht zerdrücken | |
wollte, sie streichelte. Ich bin nicht wütend auf Rodin, ich bin sauer auf | |
Camille. Weil sie sich nicht wehrte. So jung bin ich also, dass ich glaube, | |
wütend sein zu dürfen mit den Opfern. | |
Heute ist der 25. November, der Internationale Tag zur Beseitigung von | |
Gewalt gegen Frauen. Und am meisten beschäftigt mich die Gewalt, die wir | |
uns selbst immer wieder antun. Diese Gewalterfahrungen bedürfen keiner | |
Männer und auch keiner hinterhältigen Frauen, die die Männerhierarchien am | |
Laufen halten. | |
Dank des Mechanismus, der die Erfahrungen von Tausenden von Jahren in | |
unseren genetischen Code und somit in unsere Köpfe einschreibt, sind die | |
Spuren von Unterdrückung, Respektlosigkeit Geringschätzung in uns verwoben. | |
Auch ohne physische Anwesenheit eines Täters knechten und foltern wir uns | |
und leiden daran. Fast so wie ein Sklave sich sein Dasein als Sklave schön | |
redet und dieses Machtverhältnis normalisiert. Und damit das Sklaventum | |
weiterhin existiert, müssen Sklaven denken, dass ihr Zustand dem Lauf der | |
Welt geschuldet ist. Der Sklave kooperiert also mit dem Sklavenhalter. | |
## Komplimente sind wie Blumen | |
Auf der Bühne. Eine Moderatorin oder ein Moderator lobt mich und meine | |
Werke. Sobald ein Buch auf dem Markt ist, wiederholt sich diese Szene, in | |
verschiedenen Ländern und in verschiedenen Sprachen. Und in jeder Sprache | |
antworte ich das Gleiche. “Aber nicht doch“, sage ich. “Das ist doch zu | |
viel des Lobes.“ Jedes Mal versuche ich zu beweisen, dass diese Komplimente | |
doch total fehl am Platz sind, wenn die Komplimente-Dusche sich über mich | |
ergießt. Ich kann mich da kaum stoppen. Statt mich, wie ein Mann, ruhig | |
hinzusetzen und lächelnd alle wohlwollenden Worte über mich anzuhören. | |
Und jedes Mal endet dieses Gespräch wie folgt: Ich lache und nehme mich | |
nicht ernst. Und dann spreche ich diese schmerzenden Worte aus: “Ich weiß, | |
wie ich mich gegen Angriffe und gegen Unterdrückung zu wehren habe. Aber | |
bei Komplimenten weiß ich nie, in welches Erdloch ich mich verkriechen soll | |
und fühle mich wie ein schüchternes Mädchen, das zum ersten Mal Blumen | |
erhält.“ Alles, was nicht wehtut, kitzelt mich nur. Und jede Hand, die | |
nicht mein Gesicht zerdrückt, bleibt in der Luft hängen. | |
Jeder Mann, der Gewalt gegen eine Frau ausübt, kann bestraft werden. Jedes | |
System, das dazu führt, dass sich eine Frau wehrlos und unsicher fühlt, | |
kann gestürzt werden. Die Welt kann mit anderen Gesetzen eine neue Ordnung | |
schaffen, und wir Frauen können uns wie Menschen fühlen. Und nein, ich | |
glaube nicht, dass wir wissen, was für ein Gefühl das ist. Aber dieser böse | |
Mechanismus in unseren Köpfen, der die schlimmste Gewalt ausübt und die | |
Gewalt von außen erleichtert, was tun wir damit? Diese bösartige, kleine | |
Maschine in uns, die uns immer wieder einbläut, nichts wert zu sein. Was | |
tun wir gegen sie? | |
## Das seltsame Rätsel der Frauen | |
Mir gegenüber sitzt eine kluge, lebendige, tüchtige und schöne junge Frau. | |
Wie jede Frau ist sie das Werk einer Frauenhistorie, Tausende von Jahre alt | |
(sonst wären wir nicht so kompliziert). Den Rauch ihrer Zigarette bläst sie | |
nervös in die Luft, und sie erzählt, als sei es ihr egal, dass das, was sie | |
sagt, ziemlich krank ist. „Ich weiß ja nicht“, sagt sie und verzieht das | |
Gesicht. “Er ist so furchtbar lieb zu mir. Mir fehlt etwas, aber was? Ich | |
kann ihn nicht ernst nehmen.“ Sie drückt ihren rechten Oberarm mit der | |
linken Hand. | |
„Seine Berührungen sind so zaghaft. Als ob eine Feder über meine Haut | |
streichen würde… fast so, als wolle er mich nur kitzeln.“ Sie ist so jung | |
und glaubt deshalb, erwachsen zu sein. Und weil sie sich erwachsen fühlt, | |
hängt sie an meinen Lippen, wie ein Kind, das darauf wartet, die Schokolade | |
zu bekommen, obwohl es sich nicht traut, danach zu fragen. Diese ältere | |
Schwester muss doch eine Antwort auf dieses seltsame Rätsel der Frauen | |
haben. | |
Ich sage: “Glaub daran, dass du das verdienst. Es ist dein Verdienst, so | |
wundervoll geliebt zu werden. Und bring dir bei, dass nur das die richtige | |
Form der Liebe ist. Denn genau das Gegenteil wurde dir beigebracht und du | |
glaubst, dass es eine Entscheidung ist.“ Sie bläst den Zigarettenqualm in | |
den Raum. Vielleicht braucht sie noch ein paar Jahre, um zu verstehen, was | |
ich meine. | |
## Die böse Stimme muten | |
In meinem Kopf herrscht eine Stimme, die fortwährend “Du bist wertlos, du | |
bist nicht erfolgreich genug, du verdienst es nicht, bewundert zu werden | |
und was glaubst du eigentlich, wer du bist“ flüstert und irgendwann | |
schreibe ich auf, wie es mir gelang, diese Stimme leiser zu drehen. Meinen | |
Schwestern möchte ich dies auf dem Weg mitgeben: Entdeckt diese andere | |
Stimme in Eurem Kopf. Eine Stimme, die genau das Gegenteil der bösartigen | |
Stimme ist. Eine warme Stimme, die Zuversicht äußert. | |
Sobald sich diese kleine, bösartige Maschinerie der Respektlosigkeit | |
anschmeißt, sollte die andere Stimme die Hände in die Hüften drücken und | |
rufen: “Aha und warum?“ und sie mit “Geh doch zur Hölle!“ auch wirklich | |
dorthin schicken. Seltsam? Klingt das für gewöhnliche Ohren etwa | |
schizophren? Vielleicht. Aber auch ich bin ja nur das Produkt Jahrtausende | |
alter Frauenhistorie. | |
Gegen die immerwährende Geschichte der Unterdrückung von Frauen ist das | |
womöglich ein kleines Schwert. Aber ich glaube fest daran, dass wir | |
zusammen etwas Besseres schaffen können. | |
Übertragen von Ebru Taşdemir | |
25 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Ece Temelkuran | |
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