# taz.de -- Die Zukunft der SPD: Drei gegen Zickzack | |
> Ist die SPD noch zu retten und wenn ja, von wem? Zu Besuch bei Genossen | |
> und Genossinnen, die für Hoffnung stehen. | |
Bild: Ist es Zeit für einen Umbruch in der Partei? Zumindest die SPD-Wahlwerbe… | |
BERLIN/HANNOVER taz | Yannick Haan muss sich wirklich Mühe geben, die SPD | |
heute ausnahmsweise mal zu hassen. „Ich wähle euch nicht“, zischt er der | |
Frau entgegen, die ihm gegenüber hinter einem weißen Resopaltisch steht. | |
„Wegen Hartz IV. Politik bringt sowieso nichts.“ Haan, 30 Jahre, ein | |
schmaler Typ mit Dreitagebart und farbloser Brille, blinzelt die junge Frau | |
mürrisch an. | |
Sie lächelt. Die SPD habe aber doch einiges korrigiert. Den Mindestlohn | |
eingefühlt. Haan tritt verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Du bist | |
sogar als Pöbler nett“, sagt ihm seine Parteigenossin später in der | |
Feedbackrunde. | |
Yannick Haan ist der Chef eines SPD-Ortsvereins in Berlin-Mitte. Im | |
September wählen die Berliner das Abgeordnetenhaus neu. Dafür übt der | |
Ortsverein heute in Rollenspielen Wahlkampf. Wie man uferlose Gespräche am | |
Infostand beendet. Was man tut, wenn man von einem Thema keine Ahnung hat. | |
Es ist ein Dienstagabend im April, in dem Raum in einer Volkshochschule | |
sitzen neun Männer und drei Frauen im Neonlicht. Ein ehemaliger | |
Abgeordneter aus der Schweiz ist dabei und ein pensionierter Stadtdirektor | |
aus Westdeutschland. Aber in der Mehrheit sind Leute in Jeans um die | |
dreißig. Ein Bild, das in der Altmännerpartei SPD selten geworden ist. | |
Der Sozialdemokratie geht es dreckig, und dieser Satz langweilt ja schon, | |
wenn man ihn nur hinschreibt. Die SPD müht sich in der Großen Koalition ab | |
– Mindestlohn, Mietpreisbremse, Frauenquote –, aber die Bundestagswahl 2017 | |
scheint schon verloren. 21 Prozent in den Umfragen, brutale Verluste in | |
Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt, und ganz vorne sitzt Zickzack-Siggi. | |
Man kann sich in diesen Tagen die Frage stellen, wer die SPD eigentlich | |
noch braucht. | |
Gesine Schwan, 72 Jahre, gehört zu einer aussterbenden Spezies. Sie ist | |
eine Intellektuelle, deren Biografie mit der SPD verwoben ist. [1][Sie ist | |
ihrer Partei treu, aber mit kritischer Distanz.] Die | |
Politikwissenschaftlerin kandidierte zweimal für das Amt der | |
Bundespräsidentin, heute arbeitet sie für eine NGO, reist herum, hält | |
Vorträge. | |
## Der SPD fehle das Ziel, sagt Gesine Schwan | |
„Für viele Intellektuelle ist die Partei nicht fassbar. Die SPD ist | |
demobilisiert, ihr fehlt die Inspiration, das Ziel.“ Bei ihren Reisen | |
bekommt Schwan von vielen Menschen dasselbe Bedürfnis gespiegelt. „Mein | |
Eindruck ist, dass eigentlich viele auf eine Sozialdemokratie warten, die | |
mutig ist.“ | |
Vielleicht ist es wirklich interessanter, mal nach dem [2][Funken Hoffnung | |
in all dem Elend zu suchen]. Ist die SPD noch zu retten, und wenn ja, von | |
wem? Wie könnte eine moderne Sozialdemokratie aussehen? Um Antworten zu | |
bekommen, muss man sich in die Niederungen der Partei begeben. | |
Zu einem Basisgenossen in Hannover, der von der SPD zur Linkspartei | |
wechselte – und wieder zurückkam. Zu einer türkischstämmigen | |
Quereinsteigerin, die Integrationsministerin in Baden-Württemberg war. Und | |
zu Yannick Haan, dem 30-jährigen Ortsvereinschef aus Berlin, der im | |
Rollenspiel so sympathisch scheitert. | |
Haan hat ein Buch über Digitalisierung geschrieben. In seinem Job managt er | |
das Projekt „Hack Your City“, das mit virtueller urbaner Kommunikation | |
experimentiert. Haan kennt sich mit zwei Sachen gut aus, die nicht | |
unbedingt zusammenpassen: mit dem Internet und mit der SPD. | |
Als er 2009 eintrat, gründete er die AG Netzpolitik. Zum ersten spontanen | |
Treffen kamen gleich 50 Leute. Er war 23 Jahre alt und glaubte, dass die | |
Parteispitze begeistert sein würde. Die Berliner SPD leidet ja nicht gerade | |
unter einem Ansturm junger Engagierter. Doch der Landesvorstand setzte von | |
oben eine Chefin der AG ein. „Die hatte keine Ahnung von Netzpolitik und | |
kam auch nur einmal zu uns.“ | |
## Viel großartiges Gestern | |
Das wäre ein erster Tipp von Haan für seine Partei. Die SPD müsse ja nicht | |
gleich wie ein Start-up-Unternehmen auftreten, sagt er. Aber etwas weniger | |
Kontrolle wäre schon gut. | |
Nur 7 Prozent der gut 440.000 SPD-Mitglieder sind unter dreißig. Es treten | |
zwar jeden Monat ein paar Hundert Jüngere in die SPD ein. Aber viele | |
scheitern an den Abstoßungskräften des Apparats. Im Ortsverein treffen sie | |
oft auf Rentner, die beraten, wie viele Bratwürste man für das Sommerfest | |
braucht. | |
Haan postet auf seinem Blog Modefotografie und Bilder aus dem | |
Bernie-Sanders-Wahlkampf. Er sagt: „Die Welt hat sich seit den 70er Jahren | |
verändert. Die SPD-Parteiorganisation ist noch fast die gleiche.“ Der | |
Ortsverein ist ein Mythos der SPD-Geschichte. Zu Willy Brandts Zeiten gab | |
es eine Million Genossen, jetzt ist es knapp die Hälfte. Eine Umfrage | |
zeigte 2010, dass jeder zweite Ortsverein politisch faktisch inaktiv war. | |
Es gibt in der SPD viel heroische Vergangenheit, viel großartiges Gestern. | |
Davor erscheint das Heute, erscheinen SPD-Chef Sigmar Gabriel, aber auch | |
Yannick Haan und seine Genossen irgendwie immer klein. | |
Seit ein paar Wochen ist Haan Vorsitzender der Abteilung SPD Alexanderplatz | |
mit 156 Mitgliedern. Er will den Job anders machen. „Wir brauchen Formate | |
für Leute, die keine Lust auf drei Abendsitzungen in der Woche haben“, sagt | |
Haan. Dafür würde er auch gern das Internet effektiver nutzen. Doch die | |
Mails an seinen Genossen kann er nicht selbst abschicken, sondern muss sie | |
über den Landesverband senden. Bei Fundraising eine | |
Paypal-Bezahlmöglichkeit per Mail zu verschicken überfordert die SPD | |
ebenfalls. Für einen Digital Native, der Vorträge bei Bloggerkonferenzen | |
hält, ist das ziemlich rätselhaft. | |
## Warum ist ein Internetnerd in der SPD? | |
Was will so einer überhaupt in der SPD? Warum ging er nicht zu den Piraten? | |
„Da sind sich doch alle einig, wenn es um das Urheberrecht geht“, sagt er. | |
In der SPD müsse er sich mit Künstlern darüber streiten. Das Schöne an der | |
SPD sei die Reibung, die entsteht, wenn sich verschiedene Gruppen einigen | |
müssen. Volkspartei halt. | |
Und in der SPD hat er mehr politischen Einfluss als bei Amnesty oder | |
Greenpeace, auch wenn die vielleicht als hipper gelten. Haans Ideal ist ein | |
Ortsverein der österreichischen SPÖ, den ein paar junge Genossen kaperten. | |
„Die entwickeln dort erfolgreiche Kampagnen – wie eine NGO.“ | |
Yannik Haan will beides: Hacker-Convention und Volkspartei. Dinge einfach | |
anpacken und die Macht, sie durchzusetzen. | |
Haan hat ein Jahr bei einem SPD-Bundestagsabgeordneten gearbeitet. Dann ist | |
er ausgestiegen. Bei der üblichen SPD-Karriere läuft das anders. | |
Sie beginnt mit einem Politik- oder Jurastudium. Man wird Referent bei | |
einem Abgeordneten, mit Glück darf man irgendwann per Landesliste in den | |
Bundestag einziehen. Am Ende ist man dann Hubertus Heil. | |
Die SPD wirkt auch deshalb so farblos, weil ihre Funktionäre ähnliche Wege | |
gegangen sind. Die Erkenntnis, dass eine vitale Organisation Vielfalt | |
braucht, ist in der SPD noch recht frisch; dass eine Partei von weißen | |
mittelalten Männern in mehr oder weniger gut sitzenden Anzügen keine Partei | |
von morgen sein kann. | |
Gesine Schwan würde gern sehen, wie die SPD den Internationalismus | |
wiederentdeckt. Europa ist für sie zentral, wenn sie über die SPD | |
nachdenkt. Schwan hält es für einen Fehler, dass die SPD nie Distanz zu | |
Angela Merkels Europapolitik entwickelte. Und dass sie nichts gegen die | |
Schließungspolitik der EU gegen Flüchtlinge unternimmt. „Der Mangel an | |
Solidarität innerhalb der EU ist die andere Seite des Mangels an | |
Solidarität gegenüber den Flüchtlingen.“ | |
Schwan schlägt zum Beispiel einen EU-Fonds vor, der Geld direkt an Kommunen | |
gibt, um die Integration von Flüchtlingen zu fördern. Das wäre ein | |
ursozialdemokratischer Ansatz. Er stärkt die Bürgergesellschaft vor Ort und | |
zeigt, dass die EU kein Bürokratiemonster ist. Angewandter Keynesianismus. | |
Aber die Frage ist doch: Will Sigmar Gabriel so etwas überhaupt? „Wir | |
sollten mit ihm im Gespräch bleiben“, sagt sie. Was für ein schöner Satz. | |
Nur Reden hilft, so aussichtslos es auch scheinen mag. Auch das ist sehr | |
sozialdemokratisch. | |
## Jung, türkischstämmig, schlagfertig | |
Bilkay Öney, 45 Jahre, legt in einem Café in Berlin-Kreuzberg 28 eng | |
bedruckte Seiten in einer Klarsichthülle auf den Tisch. So, bitte lesen. | |
Das ist ihre Bilanz als Integrationsministerin in Baden-Württemberg, vom | |
abgeschafften Gesprächsleitfaden in Einbürgerungsverfahren bis zum | |
Integrationsgesetz. | |
Öney ist das, was man im Politbetrieb eine Quereinsteigerin nennt. Sie | |
arbeitete als TV-Journalistin für einen staatlichen türkischen Sender in | |
Berlin, bis die Grünen sie 2006 ins Abgeordnetenhaus schickten – als | |
integrationspolitische Sprecherin. | |
Eine junge Frau, türkischstämmig, hübsch und schlagfertig, solche Attribute | |
sind interessant für Parteien. Öney wechselte dann noch im Abgeordnetenhaus | |
zur SPD. 2011 holte Baden-Württembergs Landeschef sie von Berlin nach | |
Stuttgart. Als erste Integrationsministerin der SPD in Deutschland. | |
Ein Ministeramt nach fünf Jahren professioneller Politik, das ist eine | |
steile Karriere. Wenn man so will, ist Bilkay Öney das sehr lebendige | |
Beispiel dafür, dass die SPD gelernt hat. Dass die Partei langsam, aber | |
sicher Diversity versteht. | |
Öney nippt am schwarzen Tee, gerade hat sie beim Bäcker nebenan Börek mit | |
Spinat und Hackfleisch organisiert. Wie wurde sie in Stuttgart empfangen? | |
„Die Widerstände waren riesig. Die CDU schoss sich schnell auf mich ein, | |
aber auch in meiner Partei gab es Bedenken. Ich musste von Anfang an | |
Leistung bringen.“ | |
Das Prinzip, nach dem Ämter vergeben werden, ist in der SPD oft: Wer am | |
längst sitzt, gewinnt. Die SPD Baden-Württemberg hatte 2011 wenige Posten | |
zu verteilen, Öney war die türkischstämmige Neue aus Berlin, die an allen | |
vorbeizog. Kurz: die maximale Provokation. | |
Frau Öney, hat die SPD verschlafen, wie wichtig Migranten als Zielgruppe | |
sind? | |
„Die SPD war die Partei, die Migranten früh etwas anbot. Eine | |
Kümmererpartei, die an kleine Leute dachte und Aufstieg durch Bildung | |
versprach.“ In der SPD dachte man lange: Die Migranten wählen uns sowieso. | |
Selbst wenn es unter den 50 Spitzengenossen der Partei 2009 keinen einzigen | |
mit Migrationshintergrund gab. | |
Öney spricht in dem Kreuzberger Café schnell, unverstellt und ehrlich. So | |
ehrlich, dass man später einen Gedanken nicht mehr loswird: Diese | |
Politikerin redet sich um Kopf und Kragen, wenn das Aufnahmegerät nur lange | |
genug läuft. | |
Aber da steckt man schon wieder in der Denkschule der Berlin-Mitte-Politik. | |
Viele wichtige SPDler sprechen Funktionärsdeutsch, eine seltsam wolkige, | |
nichtssagende Floskelsprache, in der sich Keywords wie „soziale | |
Gerechtigkeit“ wiederholen. | |
Bei Öney ist es einfach so: Man hört ihr gerne zu. Ihre Stimme werde in der | |
Landespolitik fehlen, schrieb die Stuttgarter Zeitung gerade über sie. Weil | |
die SPD in Baden-Württemberg aus der Regierung flog, ist Öney bald nicht | |
mehr im Amt. | |
Sie sagt über die SPD: „Wenn du eine Wahl gewinnen willst, musst du die | |
hellsten Kerzen auf die Torte stecken. Damit tut sich meine Partei manchmal | |
schwer.“ Die Ziele der SPD seien richtig, aber das Wording sei veraltet. | |
„Wenn die SPD ein Lied ist, darf die Melodie nicht immer nur Polka sein. | |
Wir brauchen Punk, HipHop, Rock, Klassik – und von mir aus auch Polka.“ | |
## Ein Arbeiter wählt heute CDU oder AfD | |
Wobei das Lied der SPD ja leider keine erkennbare Melodie mehr hat. Ihre | |
Wähler fürchten sich vor der Globalisierung, aber kein noch so starker | |
Nationalpolitiker könnte sie aufhalten. Wählermilieus und ihre Bindung an | |
Parteien lösen sich auf. Ein Arbeiter wählt heute CDU oder AfD. Und dann | |
natürlich noch das Agendadebakel. | |
Die Sozialdemokratie habe Ende der Neunziger keine Alternative zum | |
Neoliberalismus gefunden, sagt Gesine Schwan. Stattdessen setzte sie unter | |
Gerhard Schröder harte neoliberale Reformen durch, Steuersenkungen für | |
Reiche, Strafen für Arbeitslose. „Der Mainstream ist immer noch neoliberal. | |
Und es fällt der Sozialdemokratie noch immer schwer, eine eigenständige | |
Strategie zu formulieren.“ | |
In Österreich schimmert auf, was einer entkernten, in Großen Koalitionen | |
gebunden SPD drohen könnte. Bei der Bundespräsidentenwahl düpierte Norbert | |
Hofer, der Kandidat der rechtspopulistischen FPÖ, die Bewerber der | |
Volksparteien. Für den SPÖ-Mann stimmten nur 11,3 Prozent der Menschen. 72 | |
Prozent der Arbeiter votierten für die Rechten. Ein fernes, aber nicht | |
ausgeschlossenes Schreckensszenario. | |
Der Gedanke, was in Deutschland ohne SPD los wäre, ist übrigens ein | |
ziemlich bedrückender. Die Sozialdemokraten machen sie an Merkels Seite | |
vernünftige Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Der Mindestlohn war nichts | |
anderes als ein satter Lohnaufschlag für die Leute, die es am Nötigsten | |
haben. Eine schwarz-grüne Regierung würde anstehende Verteilungskämpfe | |
anders lösen. Aber das glaubt der SPD niemand mehr. | |
## Ausgetreten, aber zurückgekommen | |
Roland Schmitz-Justen bekommt von der SPD jeden Monat 202 Euro | |
Aufwandsentschädigung, 54 davon überweist er freiwillig zurück an die | |
Partei. Schmitz-Justen, 48 Jahre, schwarze, schulterlange Locken, schwarzes | |
Punk-Band-T-Shirt, ist der Chef der SPD-Bezirksratsfraktion in Hannovers | |
Stadtviertel Südstadt-Bult. Sechs bis sieben Stunden Arbeit die Woche | |
bedeutet das, neben seiner Stelle als Heilerzieher und Betriebsrat in einem | |
Betrieb für Behindertenhilfe. | |
Schmitz-Justen zieht vor seiner Haustür die Schuhe aus und geht noch | |
schnell in die Küche, Kaffee machen. Dann erzählt er, warum er aus der SPD | |
ausgetreten, aber zurückgekommen ist. Schmitz-Justen ist der verlorene Sohn | |
der Sozialdemokratie. | |
2004 war ein wichtiges Jahr für ihn. Sein Sohn Oskar kam zur Welt, und er | |
brach mit seiner Partei. „Der Austritt war für mich ein großer, auch | |
schmerzhafter Schritt.“ Mit 16 war er zu den Jusos gegangen, bisschen | |
saufen, bisschen Politik machen, bisschen Maul aufreißen – seitdem war er | |
Sozialdemokrat. Doch dann drückte Gerhard Schröder die Agenda 2010 und die | |
Hartz-IV-Gesetze durch. | |
Schmitz-Justen stützt in seinem Sessel die Unterarme auf die Oberschenkel. | |
„Am schlimmsten finde ich, dass diese Gesetze arbeitslose Menschen | |
bestrafen.“ Menschen, die nicht funktionierten, zu sanktionieren, das | |
widerspreche dem freiheitlichen Gedanken, für den die SPD stehe. | |
## Der „kleine Mann“ | |
Also steckte Schmitz-Justen seinen Parteiausweis in einen Briefumschlag und | |
schickte ihn an den Stadtverband Hannover. Der Brief kam zurück. Zu wenig | |
Porto, vielleicht hofften die Genossen aber auch noch auf einen | |
Stimmungswechsel. Schmitz-Justen lacht laut, wenn er sich daran erinnert. | |
Wenn Spitzenfunktionäre über den „kleinen Mann“ sprechen, der SPD wählen | |
müsse, dann könnten sie damit jemanden wie Schmitz-Justen meinen. Er hat | |
zwei Söhne, verdient nicht viel, spielt Fußball, und an seine Mietwohnung | |
in dem Klinkerbau „Hochhaus Glückauf“ aus den Zwanzigern wurde neulich ein | |
Balkon angebaut. Nur die Tür fehlt noch, der Vermieter hat vergessen, sie | |
genehmigen zu lassen. | |
Bei der WASG – der linken Neugründung im Westen, die später in der | |
Linkspartei aufging – merkte Schmitz-Justen schnell, dass sie keine bessere | |
Sozialdemokratie werden würde, wie er erhofft hatte. Zu sektiererisch, wer | |
etwas werden wollte, musste sich mit dem linksdogmatischen Chef des | |
Landesverbandes gut stellen. Schmitz-Justen und andere Ex-SPDler galten als | |
Parteirechte, sie wurden beschimpft. | |
Schmitz-Justen sagt: „Als Rechter bei den Linken wurde ich von vielen wie | |
ein Verräter behandelt. Als Linker in der SPD bin ich für alle ein | |
Genosse.“ | |
In seinem Ortsverein Südstadt-Bult sind die Erfolge konkret. Sie haben eine | |
Integrierte Gesamtschule in der Südstadt durchgesetzt. Gute und schlechte | |
Schüler lernen gemeinsam, sägen in der Holzwerkstatt oder spielen Rugby. | |
Schmitz-Justen hat seinen Sohn angemeldet. „Wer Kinder früh trennt, braucht | |
sich später über eine ungleiche Gesellschaft nicht zu wundern.“ | |
## Als er an den Linken verzweifelte, kam er zurück | |
Wenn Schmitz-Justen so über sich und die SPD redet, in seinem gelb | |
gestrichenen Wohnzimmer mit Schrankwand und Aquarium, dann wird schnell | |
klar: Da glaubt jemand wirklich an das Gute im Menschen und an die | |
Richtigkeit von Politik, und zwar auf eine ganz und gar unzynische Art und | |
Weise. | |
Was hält er von Sigmar Gabriel? „Gabriel steht für nichts. Er ist der | |
Prototyp einer Funktionärsgeneration, die auf Lobbyisten hört, aber nicht | |
auf die Leute vor Ort. Doch mit diesem Politikstil werden wir bald Schluss | |
machen.“ Schmitz-Justen findet, die SPD muss wieder linker werden. | |
Die Sozialdemokratie werde den Wechsel nach Gabriel organisieren, sagt er. | |
„Meine SPD wird auch diese Generation von Politikfunktionären überleben.“ | |
Als Schmitz-Justen damals klar wurde, dass er mit der Linken fertig war, | |
dachte er über seine Alternativen nach. Eine sympathische Spaßpartei ohne | |
politischen Einfluss wie die Satiretruppe „Die Partei“? Oder zu den Grünen? | |
Die seien vor Ort eine Partei für Besserverdiener, die auf | |
Hartz-IV-Empfänger herabschaun, die billige Milch bei Aldi kaufen, sagt er. | |
Dieser Blickwinkel machte für ihn den Unterschied zur SPD aus. Er füllte | |
einen Mitgliedsantrag aus, es gab ein paar Fragen im Ortsverein, dann war | |
er wieder dabei. Die Beziehungspause habe ihn enorm weitergebracht, | |
politisch und persönlich, sagt er. | |
Das ist doch mal eine kleine gute Nachricht für die SPD. Viele flüchten vor | |
ihr, keine Frage. Aber offenbar kann sie auch eine Partei zum Zurückkommen | |
sein. | |
8 May 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Gesine-Schwan-ueber-Sozialdemokratie/!5302004 | |
[2] /Agentur-Ideen-fuer-die-Zukunft-der-SPD/!5291630 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Ulrich Schulte | |
## TAGS | |
Gesine Schwan | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
SPD-Basis | |
Sigmar Gabriel | |
SPD | |
Sigmar Gabriel | |
Wahl Österreich | |
SPD | |
SPD | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
SPD | |
Gesine Schwan | |
SPD | |
Schwerpunkt Landtagswahlen 2019 | |
Kanzlerkandidatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommentar SPD-Flüchtlingspolitik: Wie Horst und Katrin zugleich | |
Die SPD sollte hoffen, dass im Wahlkampf wenig über Flüchtlinge geredet | |
wird. Parteichef Sigmar Gabriel muss hier gleichzeitig holzen und säuseln. | |
Bundespräsidentenwahl in Österreich: Öko mit Heimatliebe | |
Der Grüne Alexander Van der Bellen öffnete seine Partei für bürgerliche | |
Wähler. Der ehemalige Sozi ist keiner, der polarisiert – bislang mit | |
Erfolg. | |
Debatte SPD und Kapitalismuskrise: Kapital und Krankenbett | |
Ihr fehlt ein Schuss Utopie und Mut zur Gegenmacht. Wie kann die | |
intellektuell und personell ausgetrocknete SPD wiederbelebt werden? | |
Debatte Krise der SPD: Der Verrat des Aufsteigers | |
Die Agenda 2010 ist der Brandfleck der SPD, der nicht verschwinden will. | |
Sie symbolisiert das Ende eines Versprechens, das schon brüchig war. | |
SPD zeigt Haltung gegenüber AfD: Kritik kommt vor Etikette | |
Ein SPD-Abgeordneter hat eine anonyme Morddrohung per E-Mail erhalten. Er | |
hatte sich geweigert, einer AfD-Politikerin die Hand zu reichen. | |
Sigmar Gabriel und die SPD: Wer, wenn nicht er? | |
Gabriel gegen Merkel: Viele Sozis halten dieses Duell bei der Wahl 2017 für | |
aussichtslos. Aber personelle Alternativen sind nicht in Sicht. | |
Gesine Schwan über Sozialdemokratie: „Der SPD fehlt die Inspiration“ | |
Früher galt Gesine Schwan in der SPD als Rechte, heute kritisiert sie | |
fehlende Abgrenzung zum Neoliberalismus. Wer hat sich bewegt, sie oder ihre | |
Partei? | |
Agentur-Ideen für die Zukunft der SPD: Abwärts ist das neue Vorwärts | |
Eine Agentur rät der SPD, auf Wählerdemobilisierung zu setzen. Prima Idee, | |
aber beileibe nicht radikal genug, um die Partei zu revitalisieren. | |
Werbeagentur über Zukunft der SPD: „Einfach gar nicht präsent sein“ | |
Nach der Wahl in Baden-Württemberg sucht die SPD nach Wegen aus der Krise. | |
„Wählerdemobilisierung“, schlägt ihre Agentur vor. | |
Zukunft der SPD: Plötzlich lieben alle Sigmar | |
Mehrere Spitzengenossen bringen Sigmar Gabriel als SPD-Kanzlerkandidat ins | |
Spiel. Doch hinter dem Lob stecken auch nüchterne Erkenntnisse. |