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# taz.de -- Debatte Krise der SPD: Der Verrat des Aufsteigers
> Die Agenda 2010 ist der Brandfleck der SPD, der nicht verschwinden will.
> Sie symbolisiert das Ende eines Versprechens, das schon brüchig war.
Bild: Auf der Bergleuterutsche in Hallein. Auch für die SPD geht es nach unten
Solange Parteien in Medien und von der Konkurrenz bekämpft und verhöhnt
werden, ist eigentlich alles in Ordnung. Die scharfe Attacke, das harte
Urteil sind der normale Aggregatzustand der Demokratie. Die SPD indes wird
besorgniserregend freundlich behandelt. In Zeitungen liest man aufmunternde
Leitartikel voll wohlmeinender Ratschläge. In Häme ist immer Respekt für
den Gegner verpuppt. Schonung ist im politischen Geschäft die Höchststrafe.
Sogar die Angriffe der Linkspartei klingen müde.
Ein Grund für die missliche Lage der SPD ist Angela Merkel. Die Union ist
in den letzten zehn Jahren weiblicher, offener und liberaler geworden. Das
war kein allzu großes Kunststück. Merkel hat nachvollzogen, was in der
Gesellschaft Mainstream geworden war – dass sich auch Väter um Kinder
kümmern sollen, dass man Atomkraftwerke besser abschaltet, Vorurteile gegen
Schwule reaktionär sind und Migranten zu Deutschland gehören.
Die Union hat ihre ranzige Anti-68er-Pose abgestreift. Das hat für die SPD
dramatische Folgen. Sie büßte damit die kulturelle Hegemonie ein, die
Treibstoff ihrer Erfolge war. 2002, bei der letzten Wahl, die die SPD im
Bund gewann, trauten die meisten Bürger der Union in Sachen Wirtschaft mehr
zu – und wählten trotzdem Schröder und Fischer. Dieser Hipnessbonus ist für
die SPD verloren.
Der zweite Grund ist komplizierter. Er wurzelt tief in der Geschichte der
Partei – und hat das Gesicht von Sigmar Gabriel. Der SPD-Chef ist der
talentierteste Politiker seiner Generation. Er ist intellektueller als
Hannelore Kraft, nicht so blass wie Frank-Walter Steinmeier, nicht so steif
wie Olaf Scholz. Es gibt auch jenseits der SPD keinen Spitzenpolitiker, der
so mitreißend reden, so scharf formulieren, so ätzend kritisieren kann. Es
gibt kaum einen, der die Schwächen seiner Partei präziser benennt, und
keinen, der das Herz der Genossen so zu rühren versteht.
## Zerrissen im Villenviertel
„Unsere Politik wirkt manchmal aseptisch, klinisch rein. Wir müssen raus
ins Leben, da, wo es brodelt, wo es laut ist, wo es riecht, manchmal
stinkt.“ Das hat Gabriel 2009 in Dresden gesagt. Die SPD hatte 23 Prozent
bekommen, das schlechteste Ergebnis seit 1893. Die Genossen haben Gabriel
für diese Rede geliebt. Er gab ihnen das Gefühl, dass sie eine Mission
haben, dass sie nicht bloß das Bestehende verwalten, dass es Geschichte,
Ziel, Sinn gibt.
Das war ein Moment der Hoffnung – und der Selbsttäuschung. Das
durchschnittliche SPD-Mitglied ist 59 Jahre alt, männlich, Beamter oder
Angestellter und nicht in der Gewerkschaft. Wenn der
Durchschnittssozialdemokrat etwas nicht will, dann sein ordentliches Büro
gegen einen Ort tauschen, wo es laut ist und stinkt. Denn von dort, aus den
Fabriken und Kohlebergwerken, kommt er. Der Aufsteiger mag gelegentlich
nostalgisch an diese verrußte Welt denken. Dorthin zurückkehren, wo er und
seine Eltern herkommen, will er nicht.
Die Sozialdemokratie hat lange und erfolgreich für den Aufstieg der
Arbeiter in die Mittelschicht gekämpft. Sie hat in den 70er und 80er Jahren
deren Kindern, vor allem den Töchtern, den Weg in die Gymnasien und
Universitäten geebnet. Jetzt ist das mürrische, zerrissene Glück der
Aufgestiegenen Teil der Krise der Sozialdemokratie. Und die verkörpert
derzeit niemand deutlicher als Gabriel.
Der soziale Aufsteiger ist eine schillernde prekäre Figur. Gerhard
Schröder, Sigmar Gabriel und Hannelore Kraft haben sich von weit unten nach
weit oben gekämpft. Sie sind Idealbilder der Bundesrepublik. Denn sie
verkörpern geradezu, dass Leistung zählt und die Gesellschaft durchlässig
ist. Das ist, wenn man auf Statistiken schaut, falsch. Über Bildung
aufzusteigen ist in Deutschland schwieriger als in vielen OECD-Staaten. Das
macht den Aufsteiger vielleicht noch anziehender, noch großartiger. Er ist
eine tröstliche Illusion.
## Wankelmütige Politik von Schröder und Gabriel
Der Aufsteiger ist ein dynamisches Wesen. Er ruht nicht in sich selbst. Er
hat ja sein Herkunftsmilieu hinter sich gelassen. Nun wohnt er in noblen
Gegenden und fährt Autos, die seine Verwandten nur aus der Werbung kennen.
Der Aufsteiger ist vital, kraftvoll, aber nur bedingt zuverlässig und eine
zerrissene Figur. So ganz passen seine hemdsärmlige Art und vorlaute
Direktheit nie in das Villenviertel. Er mag sich noch so sehr anstrengen –
die „ungezwungene Selbstsicherheit“ (Pierre Bourdieu) des Großbürgertums
wird ihm nie zur Selbstverständlichkeit. Er kann die Unsicherheit seines
Status überspielen – ganz verschwinden wird sie nie.
Zwischen diesem Typus und der wankelmütigen Politik von Schröder und
Gabriel gibt es Verbindungslinien. Schröder hat forsch die Agenda-Politik
exekutiert, die jenem Milieu Lasten aufbürdete, dem er entstammte. Und er
hat generöse Steuersenkungen für die Bewohner der Villenviertel
durchgefochten.
Es ist eigentlich erstaunlich, dass die SPD bis heute unter der
Agenda-Politik zu leiden hat. Die Reformen liegen mehr als zehn Jahre
zurück. Die SPD-Spitze hat sich ein paar halbherzige Reuebekenntnisse
abgerungen und mit Mindestlohn und der Rente mit 63 praktische
Wiedergutmachung versucht. Und doch verzeiht ein Teil ihrer Klientel der
SPD nicht.
## Brandfleck Agenda 2010
Denn die Agenda symbolisiert den Verrat des Aufsteigers, der, oben
angekommen, mit Verachtung auf die Zurückgebliebenen schaut. Dass sich
Schröder im Brioni-Anzug und mit Cohiba fotografieren ließ, passte perfekt
in dieses Bild.
Der britische Soziologe Anthony Giddens, damals Stichwortgeber für New
Labour, das Pendant der Schröder-SPD, stellt im Rückblick fest, dass Blair
& Co Wirtschaftsführer und Unternehmer „unkritisch bewunderten“. In
Deutschland war das nicht anders. Zentrale SPD-Akteure wie Wolfgang Clement
und Walter Riester hatten in den Organisationen der Arbeiterbewegung
Karriere gemacht – und als Minister nichts Eiligeres zu tun, als sich
Unternehmern und Versicherungskonzernen anzudienen. Darin ist unschwer die
Statusunsicherheit des Aufsteigers zu erkennen – und die Sehnsucht, von der
Elite anerkannt zu werden.
Fatal wirkt dies, weil gleichzeitig die kollektive Aufstiegsverheißung der
Sozialdemokratie erlosch. Für Ungebildete, aber auch für die untere
Mittelschicht gibt es in der von Digitalisierung und Individualisierung
geprägten Wissensgesellschaft wenig zu gewinnen. Auch deshalb ist die
Agendapolitik der Brandfleck, der einfach nicht verschwinden will. Sie
symbolisiert das Ende eines Solidaritätsversprechens, das schon zuvor
brüchig war.
Das Dilemma der SPD 2016 hat viele Gründe. Die Sozialdemokratie versteht
sich seit je auf die Organisation von Kollektiven – die individualisierte,
zerfranste Arbeitswelt macht sie ratlos. Der Absturz der Sozialdemokratie
ist zudem ein europaweites Phänomen. In Wien und Amsterdam sieht es für die
einstigen Arbeiterparteien noch weit übler aus. Dort sind sie in einen
Zangengriff zwischen Rechtspopulisten und wohlhabendem grünem Neobürgertum
geraten. Der Zerfall der Mitte-links Parteien in Athen, Kopenhagen und
Warschau hat jeweils eigene, nationale Einfärbungen. Und doch gibt es ein
Muster. Die Talfahrt der Mitte-links Parteien in der EU hat sich seit der
Finanzkrise 2008 rasant beschleunigt. Die Wähler schreiben diese Krise der
Sozialdemokratie zu. Denn die steht für das Versprechen, den Kapitalismus
einzuhegen und sozial zu bändigen. Und das scheint gebrochen zu sein.
## Auch bei den Eliten anerkannt sein
Und in Deutschland? Sigmar Gabriel, die Schlüsselfigur der SPD, ist Gerhard
Schröder in vielem ähnlich. Er ist ein schlagfertiger Instinktpolitiker,
für Freund und Feind schwer kalkulierbar. Gabriel kann den jovialen Kumpel
geben, der im Willy-Brandt-Haus im Disput mit einer eloquenten Putzfrau
auch mal was „beschissen“ findet. Und er kann von der beamtenhaften SPD
überzeugungsstark fordern, wieder „mehr soziale Bewegung“ zu sein. Wenn der
Vizekanzler indes zu Tisch bei den Mächtigen sitzt, wie beim
Weltwirtschaftsforum in Davos 2015, erklärt er die von vielen seiner
Genossen unterstützten Anti-TTIP-Bewegung zum Phänomen einer hysterischen
reichen Gesellschaft.
Gabriel verkörpert ungefiltert und ohne Stoßdämpfer die innere
Zerrissenheit der Aufsteigerpartei SPD. Sie will bei den Eliten endlich so
selbstverständlich anerkannt sein wie die Union. Aber sie will auch die
traditionsbewusste linke Volkspartei sein, die für soziale Gerechtigkeit
und das Gute streitet. Überflüssig, zu sagen, dass bei Gabriels Manövern
die Glaubwürdigkeit pulverisiert wird. Und die ist eine Ressource, die
schwer recycelbar ist.
Nehmen wir mal an, dass die SPD 2017 wundersam die absolute Mehrheit
erringt. Was würde dann geschehen? Würde die SPD-Regierung Steuern erhöhen,
um die Arm-reich Schere zu schließen? Würde sie, unbeeindruckt von
Gegenkampagnen, die Bürgerversicherung einführen? Und gegen wütende
Proteste von Unternehmern die Schäden von Merkels Europolitik beseitigen
und Eurobonds ins Spiel bringen?
Oder würde Kanzler Gabriel TTIP durchpeitschen, die widerwillige Partei mit
Machtworten schurigeln? Und sich in der ersten Wirtschaftsbaisse mit den
Gewerkschaften anlegen?
Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich weiß es auch das Willy-Brandt-Haus,
vielleicht sogar Sigmar Gabriel selbst nicht. Das ist ein Problem.
13 May 2016
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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