Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sigmar Gabriel und die SPD: Wer, wenn nicht er?
> Gabriel gegen Merkel: Viele Sozis halten dieses Duell bei der Wahl 2017
> für aussichtslos. Aber personelle Alternativen sind nicht in Sicht.
Bild: Mitglieder der SPD sind sich ziemlich sicher, auf diesem Bild die nächst…
Berlin taz | Susanne Neumann bringt das ganze Dilemma der Sozialdemokratie
in einem einzigen Satz unter. Neumann, Putzfrau aus Gelsenkirchen, seit ein
paar Wochen SPD-Mitglied, sitzt neben Sigmar Gabriel auf einer Bühne im
Willy-Brandt-Haus. Sie soll mit dem Chef auf dem Gerechtigkeitskongress der
SPD diskutieren, ein bisschen echtes Leben im Berliner Politikbetrieb.
Neumann macht das gut, und sie redet sich in Rage. Junge Leute bekämen nur
noch befristete Anstellungen, „diese Scheißverträge“. Die Betriebsräte
verlören Einfluss. Die Agenda 2010 müsse zurückgedreht werden. Gabriel hält
dagegen, die SPD habe in der Großen Koalition Reparaturen am Sozialstaat
durchgesetzt. Wenn sie die Koalition verlasse, bleibe alles, wie es ist.
„Was würdest du denn tun?“, fragt Gabriel und schaut Neumann von der Seite
an. Die antwortet: „Also, wenn dir eine Reinigungskraft sagen soll, wie du
das hinkriegst …“ Lacher und Applaus im voll besetzten Atrium, das die
Statue Willy Brandts überblickt. Der Chef bittet die Putzfrau um Tipps.
Recht habe sie, flüstert ein grauhaariger Herr seiner Nachbarin zu. Tja,
das ist sie, die große Frage: Was kann die SPD tun? Und kann sie es noch
mit ihrem Vorsitzenden? Oder ist vielleicht Sigmar Gabriel Teil des
Problems?
In der SPD herrscht Ratlosigkeit, und das ist vorsichtig ausgedrückt.
Angesichts der aussichtslosen Lage wächst die Unruhe der Genossen. In
Umfragen ist die Partei auf 21 Prozent abgerutscht (siehe Kasten) und
keiner würde wetten, dass die Talfahrt beendet ist. Alles ist möglich –
nach unten. Die Erfolge in der Koalition lassen die Wähler offensichtlich
kalt. Und Sigmar Gabriel, der Chef, ist irgendwie nicht der Richtige – aber
im Moment der Einzige, der da ist.
## Schlechte Laune und Sprunghaftigkeit
Gabriel gegen die beliebte Merkel: Viele Genossen halten das Duell für
verloren, bevor es begonnen hat. Haben nicht erst die Landtagswahlen
gezeigt, wie wichtig glaubwürdige Personen sind? Gabriel liegt in
Beliebtheitsumfragen abgeschlagen hinter der Kanzlerin, er neigt zu
schlechter Laune und plötzlichen Kurswechseln. All das kann im Wahlkampf
zur Belastung werden.
Dabei kann er ja durchaus ursozialdemokratische Reden halten. Gabriel war
wegen einer Entzündung im Gesicht ein paar Tage lang außer Gefecht gesetzt,
sein Auftritt im Willy-Brandt-Haus wird mit Spannung erwartet. Auch wegen
Gerüchten über einen möglichen Rückzug, doch dazu später.
Gabriel redet 45 Minuten lang, ruhig und eindringlich, er verzichtet auf
rhetorische Effekthascherei. Es sei ein Alarmsignal, dass nur noch 32
Prozent der Bürger der SPD Lösungen in Fragen der sozialen Gerechtigkeit
zutrauten. Für die Partei sei der Ansehensverlust in ihrer Kernkompetenz
„existenziell“. Dann kommen ein paar böse Anspielungen auf die Bräsigkeit
der SPD. Wer pragmatisch handle, neige dazu, den Idealismus junger Menschen
nicht zu wertschätzen. Die SPD müsse sich ernsthaft fragen, ob sie die
Gerechtigkeitsfragen der Zeit überhaupt begriffe.
Gabriel schaut ernst in den Saal. „Die SPD wirkt wie eine ermüdete Partei
im Hamsterrad der Sozialreparatur.“ Sie sei ein bisschen zu viel Staat und
zu wenig soziale Bewegung. Diese Diagnose ist hart, aber zutreffend. Die
Partei wirkt ja eben nicht wie eine soziale Reformpartei, sondern wie ein
Funktionärsverein, in dem grauhaarige Herren über Gesellschaft diskutieren.
Der Gerechtigkeitskongress ist der Auftakt für eine monatelange
Programmdebatte. Sieben Arbeitsgruppen sitzen im Moment an Schwerpunkten,
die im Sommer auf Regionalkonferenzen diskutiert werden – dann sind Dialoge
mit Experten, Verbänden und Bürgern geplant. Manche Entscheidungen wandern
ins Wahlprogramm, ohne dass der Vorstand es verhindern kann – das wäre
früher in der SPD undenkbar gewesen.
Gerechtigkeit soll die große Erzählung der SPD im Wahlkampf werden. Gabriel
fordert jetzt auf der Bühne etwas, mit dem er schon öfter liebäugelte. Die
SPD, verspricht er, werde in einer neuen Regierung den Fehler korrigieren,
Kapitalerträge niedriger zu besteuern als die Erträge aus Arbeit. Die
Abgeltungssteuer hatte SPD-Finanzminister Peer Steinbrück 2009 eingeführt,
seitdem müssen auf Erträge aus Kapital und Aktien nur noch 25 Prozent
Steuern zahlen – bei der Einkommenssteuer wird mehr fällig.
## Ein Problem der Glaubwürdigkeit
„Wie konnte es passieren, dass eine Partei der Arbeiter das macht?“, fragt
Gabriel. Er antwortet selbst: Die SPD habe sich durch den Druck von Medien
und Experten beeinflussen lassen.
Damit hat Gabriel sicher recht. Als die SPD marktliberale Reformen anschob,
auch bei der Agenda 2010, herrschte ein neoliberaler Zeitgeist. Doch die
Frage ist, ob sie sie ausgerechnet mit Gabriel an der Spitze glaubwürdig
korrigieren kann. Die Intervalle, in denen über einen Sturz der
SPD-Vorsitzenden spekuliert wird, werden jedenfalls immer kürzer.
Nach der 74-Prozent-Klatsche auf dem Parteitag im Dezember mussten führende
Sozis Gabriel gut zureden. Vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und
Sachsen-Anhalt, als sich das Debakel andeutete, wurde über einen Rückzug
geraunt. Und nun, an diesem Wochenende, sorgte ausgerechnet der
konservative Focus-Herausgeber Helmut Markwort für eine neue Welle von
Gabriel-ist-fällig-Gerüchten.
## Gerüchte aus dem Bayerischen Rundfunk
Markwort moderiert eine Fernsehsendung im Bayerischen Rundfunk, den
„Sonntags-Stammtisch“ – und vorgestern ließ er dort eine Bombe platzen. …
habe von einer „Topquelle“ gehört, dass Gabriel als Vorsitzender der
Sozialdemokraten zurücktreten wolle. Auch die Nachfolgefragen seien schon
geregelt: Olaf Scholz, Hamburgs Erster Bürgermeister, werde neuer Chef –
und EU-Parlamentspräsident, Martin Schulz Kanzlerkandidat. Die
„Stammtisch“-Gäste verschluckten sich vor Schreck fast an ihrem Weißbier.
Wie bitte?
Diese News wurde von führenden Sozialdemokraten am Sonntag auf breiter
Front dementiert. Das sei Schwachsinn, sagte ein Vertrauter Gabriels der
taz. „Davon stimmt nichts. Das ist ein Versuch, Gabriel zu diffamieren.“
Danach äußerten sich wichtige Genossen öffentlich. SPD-Bundesvize Ralf
Stegner twitterte, Markwort habe „wohl in München ein bisschen viel Sonne
abbekommen“. Justizminister Heiko Maas, der der ARD ein länger verabredetes
Fernsehinterview gab, sagte: „So viel Quatsch muss man nicht mal
dementieren.“
Am Abend schließlich äußerte sich Gabriel, der auf Dienstreise in Stockholm
war, sogar persönlich. „Dass man in Deutschland nicht mal mehr krank werden
darf als Politiker, ohne dass einer dummes Zeug erzählt, hat mich auch ein
bisschen überrascht.“ Die Faktenlage war – nach journalistischen Kriterien
– also äußerst dürftig. Ein Exjournalist, nicht gerade für seine intimen
SPD-Kenntnisse bekannt, berichtet, was er von einer Quelle erfahren haben
will.
Kein einziger SPDler bestätigte das Gerücht. Trotzdem brachten diverse
Medien die Geschichte groß – Bild.de, Stern.de und andere Onlinemedien
berichteten noch am Sonntag. Auch Zeitungen meldeten Markworts
Einlassungen, Die Welt machte die Story zum Aufmacher auf Seite 1. Titel:
„Nervöse Sozialdemokraten zweifeln an Sigmar Gabriel.“ Viele
Sozialdemokraten beobachteten den Medienhype um Markwort fassungslos.
## Substanz: „gleich null“
Eine „echte Zeitungsente“ sei das gewesen, schimpft Thorsten Schäfer-Gümb…
am Montag im Willy-Brandt-Haus. „Es ist erschreckend, wie sich Gerüchte
verselbstständigen.“ Die Substanz der Medienberichte sei „gleich null“
gewesen. In der Tat bleiben nach dem Möchtegern-Coup von Markwort zwei
Erkenntnisse. Bei dürftiger Faktenlage einfach mal nichts zu schreiben, ist
für viele Journalisten im aufgeregten Medienbetrieb von heute offenbar
keine Option mehr.
Aber wahr ist auch, und das ist die schlechte Nachricht für die SPDler: Die
Scheinnachricht explodierte auch deshalb so sehr, weil viele Genossen und
Journalisten einen Austausch Gabriels inzwischen für wahrscheinlich und
nötig halten.
Dass Olaf Scholz ein möglicher Nachfolger sein könnte, ist ein offenes
Geheimnis in der Partei. Der Hamburger hat zwei Wahlen mit starken
Ergebnissen gewonnen, außerdem verfügt er – als Exarbeitsminister – auch
über bundespolitische Erfahrung. Aber bisher fehlt von Scholz jedes Signal,
dass er den Laden von Gabriel übernehmen wollen würde.
Die Putzfrau Susanne Neumann erzählt neben Gabriel dann noch, warum sie
eigentlich in die SPD eingetreten ist. Irgendeine Vertretung bräuchten
kleine Leute schließlich. „Wenn die SPD weg ist, haben wir ja überhaupt nix
mehr.“ Wenn Gabriel weg ist, hat die SPD bisher nichts.
9 May 2016
## AUTOREN
Ulrich Schulte
## TAGS
SPD
Sigmar Gabriel
Schwerpunkt Angela Merkel
Lesestück Meinung und Analyse
Susanne Neumann
Gesine Schwan
SPD
SPD
SPD
Gesine Schwan
Gesine Schwan
Recep Tayyip Erdoğan
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nachruf auf Susanne Neumann: Die bekannteste Putzfrau der Republik
Die ehemalige SPD-Aktivistin und Gebäudereinigerin Susanne Neumann war eine
Kämpferin für soziale Gerechtigkeit. Jetzt ist sie verstorben.
Kommentar SPD und die K-Frage: Über echte Alternativen nachdenken
Gabriel ist nicht das Problem, sondern nur ein Ausdruck der SPD-Misere. Die
Basis sollte die Chance einer Richtungsentscheidung bekommen.
Debatte SPD und Kapitalismuskrise: Kapital und Krankenbett
Ihr fehlt ein Schuss Utopie und Mut zur Gegenmacht. Wie kann die
intellektuell und personell ausgetrocknete SPD wiederbelebt werden?
Debatte Krise der SPD: Der Verrat des Aufsteigers
Die Agenda 2010 ist der Brandfleck der SPD, der nicht verschwinden will.
Sie symbolisiert das Ende eines Versprechens, das schon brüchig war.
Linkspartei will Willy-Brandt-Hilfskorps: „Ab heute gehört der uns!“
Die Linke will die Armee verkleinern – zugunsten eines
„Willy-Brandt-Korps“. Nun wird gestritten, wem der ehemalige SPD-Kanzler
„gehört“.
Die Zukunft der SPD: Drei gegen Zickzack
Ist die SPD noch zu retten und wenn ja, von wem? Zu Besuch bei Genossen und
Genossinnen, die für Hoffnung stehen.
Gesine Schwan über Sozialdemokratie: „Der SPD fehlt die Inspiration“
Früher galt Gesine Schwan in der SPD als Rechte, heute kritisiert sie
fehlende Abgrenzung zum Neoliberalismus. Wer hat sich bewegt, sie oder ihre
Partei?
Amtsverzicht Ministerpräsident Davutoğlu: Zu viel Haltung
Der türkische Präsident Erdoğan hat sich durchgesetzt. Ministerpräsident
Davutoğlu verliert seinen Posten – er war wohl nicht biegsam genug.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.