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# taz.de -- Debatte SPD und Kapitalismuskrise: Kapital und Krankenbett
> Ihr fehlt ein Schuss Utopie und Mut zur Gegenmacht. Wie kann die
> intellektuell und personell ausgetrocknete SPD wiederbelebt werden?
Bild: Es wächst die Zahl der Ärzte am Krankenbett der SPD
Sozialdemokraten sind „Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus“ – so
formulierte es inmitten der Weltwirtschaftskrise Fritz Tarnow auf dem
SPD-Parteitag von 1931. Allerdings ging Tarnow, ein gemäßigter Theoretiker
der „Wirtschaftsdemokratie“, davon aus, dass der Patient bald ableben
würde. „Selbst wenn wir nicht überzeugt sind, dass die Medizin den
Patienten heilt, sondern nur sein Röcheln lindert, […] geben wir sie ihm,
und denken im Augenblick nicht so sehr daran, dass wir doch Erben sind und
sein baldiges Ende erwarten.“
Nun, nach Diktatur, Kapitalvernichtung und Weltkrieg lebte der totgesagte
Patient strahlender als je zuvor auf, und die Zusammenbruchstheorien
verstaubten. Sozialdemokraten setzten nun auf die Variante: „Wenn die
Pferde fressen, haben auch die Spatzen etwas davon“ – ein paar Jahrzehnte
lang mit einigem Erfolg.
Bis zur Finanzkrise 2008. Da sprach Nicolas Sarkozy in Davos den Satz: „Wir
erleben nicht eine Krise im Kapitalismus, sondern eine Krise des
Kapitalismus.“ Deshalb müsse alles anders werden. Auch unsere Kanzlerin
sprach damals so. Aber alles blieb wie bisher, und nur allmählich schleicht
sich das böse Wort von der „säkularen Stagnation“ in die Debatten der
Ökonomen. Die kündigte sich seit Mitte der siebziger Jahre an, als Wachstum
und Produktivität in den Stammländern des Kapitalismus abzunehmen und die
Finanzspekulation zu blühen begann.
Mit dem diskreten Niedergang sank auch der Stern der Sozialdemokratie, und
die letzte kräftige Ration für die kapitalistischen Pferde –
Steuersenkungen und Sozialabbau unter der Regierung Schröder – hat ihren
Abstieg noch beschleunigt: 300.000 Mitglieder weniger, Wählerschwund und
die tödliche Allianz mit einer sozialliberal gewendeten CDU, mit der die
Parteieliten die illusorische Hoffnung auf ein neues, kräftiges Wachstum
teilen.
## Rot-Rot-Grün ist keine Option
Seit einigen Wochen kommt die 20-Prozent-Marke in Sicht. Es wächst die Zahl
der Ärzte am Krankenbett der SPD. „Die Linke muss wieder kämpfen“, forder…
fast schon verzweifelt, der Philosoph Rainer Frost und der Journalist Bernd
Ulrich in der Zeit. Wer, wenn nicht die Sozialdemokratie, könne den
Nationalstaat überwinden und „transnationale Handlungsperspektiven“ für
Migration und globale Gerechtigkeit entwickeln. „Solidarität oder
Barbarei“, spitzen sie zu. Es klingt nach einem letzten Stoßgebet.
Die SPD müsse zum Champion einer ökologischen Weltwirtschaft werden, ein
Grundeinkommen durchsetzen, öffentliche Unternehmen und Genossenschaften
fördern, so das Rezept des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie. Aber
sein Befund – „die Sozialdemokratie muss um ihre Regierungsfähigkeit
fürchten“ – ist leider von gestern. Rot-Rot-Grün, also die
Wiedervereinigung der drei linken Parteien, ist inzwischen auch rein
rechnerisch keine Option mehr.
Es stimmt ja: Nur eine vereinigte, ökosoziale, vor allem aber – national
wie europaweit – regierende Linke könnte Finanzbomben entschärfen, den
Niedergang der Städte, die Bedrohung des Mittelstands, die Misere der
Bildungsinstitutionen, die Erosion des Arbeitsmarkts und die grassierende
Zukunftsangst wenden.
Aber dafür müsste sie, genauso wie die Grünen, den Glauben an die
Wiederkehr des Wachstums – die ideologische Kehrseite der alten
Zusammenbruchshoffnung – aufgeben. Sie müsste die Radikalisierung von
rechts als Symptom ihrer Schwäche begreifen und Visionen einer gerechten
und zukunftsfähigen Gesellschaft ohne Wachstum entwickeln. Das hieße auch:
über Konsumeinbußen und unangenehme Eingriffe in Lebensgewohnheiten und
Besitzstände reden, und zwar nicht nur bei den einem Prozent der
Superreichen. Auch für die Normalbürger gilt: Fördern und Fordern.
Muss, müsste, könnte. Schon gut: Es ist müßig, das von einer intellektuell
wie personell ausgetrockneten SPD zu erwarten. Denn ihr Vorsitzender
fremdelt, wenn der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty
(„Das Kapital im 21. Jahrhundert“) die wachsende Ungleichheit geißelt und
deren Vertreter nicht auftauchen, wenn der ehemalige griechische
Finanzminister Gianis Varoufakis Tausende junger Menschen mit der Idee
eines sozialistischen Europa begeistert; die den analytischen
Schulterschluss mit Sarah Wagenknecht dem linkskonservativen Peter
Gauweiler überlässt.
Konsequenterweise verschreibt der vorerst letzte Arzt am Krankenlager,
Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, eine regenerierende Kur in
der Opposition als letzte Chance für die Wiederbelebung.
## Ein Schuss Utopie gesucht
Was dabei geschehen könnte, das deutet sich, vorerst als zartes Pflänzchen,
in England an: die Eroberung einer erstarrten Sozialdemokratie durch die
Basis. Der Theoretiker und Aktivist Paul Mason skizziert in seinem
inspirierenden Buch „Postkapitalismus“ die Wiedervereinigung einer
erneuerten Sozialdemokratie mit den sozialen Bewegungen, von denen viele
der Politik – und, schlimmer noch: dem Staat – nichts mehr zutrauen. Sie
setzen deshalb auf Exitstrategien, romantische Fluchtbewegungen, hilflose
Petitionen und Selbsthilfe im Kleinen. Ihre intellektuellen Wortführer
propagieren die Überwindung der Konsumkultur durch individuelle
Lebensreform oder bleiben in Kulturkritik stecken.
Eine wirkliche Gegenmacht gegen die totale „Landnahme“ eines digital
aufgerüsteten, autoritären Turbofeudalismus aber kann nur über eine
Instandbesetzung der politischen Institutionen entstehen. Dazu braucht es,
so Mason, einen Schuss Utopie und das Narrativ eines „guten Staates“, der
intelligente Investitionspolitik betreibt, die Sozialsysteme durch Steuern
finanziert, Genossenschaften fördert, die Infrastrukturen entprivatisiert,
den Finanzsektor und die Monopole der Informationswirtschaft
vergesellschaftet.
Kurzum: die technischen und menschlichen Produktivkräfte freisetzt, die von
einem Amok laufenden Kapitalismus gefesselt werden. In den siebziger Jahren
hieß das „systemüberwindende Reformen“. Vor hundert Jahren nannten es
Sozialdemokraten: „Zukunftsstaat“. Und am Montag verriet SPD-Chef Sigmar
Gabriel einer Putzfrau: „Wir sind eine staatstragende Partei.“ Nur zu.
16 May 2016
## AUTOREN
Mathias Greffrath
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