| # taz.de -- Grünen-Debatte auf dem taz.lab: Der große Riss im Kleinen | |
| > Grünen-Fraktionschef Toni Hofreiter bezichtigt seinen Parteikollegen | |
| > Boris Palmer der Lüge. Er instrumentalisiere die Angst vor Flüchtlingen. | |
| Bild: „Kalkulierter Wutausbruch“: Toni Hofreiter auf dem taz.lab | |
| Berlin taz | Die Flüchtlingsfrage nicht den Rattenfängern am rechten Rand | |
| überlassen. Integration nicht als unlösbares Problem, sondern als | |
| erfolgversprechend ansehen. Willkommenskultur als positive Seite der | |
| aufgeheizten Debatte hervorheben. All das wurde am Samstag im Haus der | |
| Kulturen der Welt betont. Das taz.lab ist eine willkommene Gelegenheit für | |
| das linksliberale Lager, sich seiner selbst zu vergewissern. Doch es wäre | |
| unrealistisch für die gesellschaftliche Linke, wäre es bei dieser Einigkeit | |
| geblieben. | |
| Erste Risse wurden auf der Veranstaltung „Die offene Gesellschaft retten, | |
| unbedingt. Aber wie?“ im voll besetzten Auditorium sichtbar. In der von | |
| Ulrich Schulte, Leiter des taz-Parlamentsbüros, moderierten Diskussion | |
| mussten sich die Podiumsgäste auch der Verunsicherung im eigenen Lager | |
| stellen. Denn selbstverständlich gibt es auch dort Ängste vor den etwa eine | |
| Million Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr Deutschland erreicht haben. | |
| Und mehr als das, es gibt auch ein Spiel mit diesen Ängsten, ein | |
| populistisches Aufgreifen. | |
| „Ich glaube, dass es diesen Professor nicht gibt“, sagte Anton Hofreiter, | |
| Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Grünen – und bezichtigte damit | |
| seinen Parteifreund Boris Palmer nonchalant der Lüge. | |
| Der Tübinger Oberbürgermeister hatte im Februar in einem Spiegel-Interview | |
| gesagt: „Spätestens seit den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln | |
| kommen selbst grüne Professoren zu mir, die sagen: Ich habe zwei blonde | |
| Töchter, ich sorge mich, wenn jetzt 60 arabische Männer in 200 Meter | |
| Entfernung wohnen.“ Hofreiter blieb bei seiner Version. Hat sich Palmer den | |
| Professor ausgedacht, um seine eigene Meinung zu transportieren? „Es würde | |
| mich nicht im Geringsten wundern“, so Hofreiter. | |
| ## Andere Erfahrungen | |
| Der tiefe Riss, der wegen der Flüchtlingsfrage durch die Gesellschaft geht, | |
| im Kleinen zeigt er sich nun auch bei den Grünen. Hofreiter entgegnete der | |
| weit verbreiteten Angst des Doch-nicht-Schaffens, des Scheiterns angesichts | |
| der vielen Flüchtlinge, mit seinen Erfahrungen aus vielen Vor-Ort-Terminen, | |
| die er insbesondere in den zurückliegenden Landtagswahlen absolviert hatte. | |
| Überall hätten ihm die Lokalpolitiker gesagt: „Wir kriegen es hin, aberim | |
| Rest des Landes muss es den Zeitungen zufolge schlimm sein.“ | |
| Nicht wenige im Saal sahen im Auftritt Hofreiters, der seinen Hut für die | |
| Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl 2017 bereits in den Ring geschmissen | |
| hat, eine klare Kampfansage. So dürfte auch seine Antwort an einen | |
| Zuschauer zu deuten sein, der Hofreiter vorwarf, zwar wohlfeil über | |
| Geflüchtete zu sprechen, aber mit dafür verantwortlich zu sein, dass die | |
| Partei etwa durch Hartz IV oder von ihr mitgetragene | |
| Asylrechtsverschärfungen den Migranten Schaden zufüge: „Wenn man nun mal | |
| linke Politik im Kapitalismus machen will und wenn man dann nicht zufällig | |
| 51 Prozent im Bundestag hat, dann muss man, verdammt noch mal, viele scheiß | |
| Kompromisse machen“, redete sich Hofreiter regelrecht in Rage. Ein | |
| „kalkulierter Wutausbruch“, wie Schulte trocken analysierte. | |
| Der glücklichen Fügung der Regie war es zu verdanken, dass Boris Palmer | |
| vier Stunden später auf der gleichen Bühne Platz nahm, in einer Diskussion | |
| mit der Linken-Vorsitzenden Katja Kipping und dem Soziologen Armin Nassehi. | |
| Angesprochen auf Hofreiters Vorwurf, versicherte Palmer, die Aussage des | |
| Professors sei „eins zu eins so gefallen“. Zurückhaltend giftig fügte er | |
| hinzu, die Grünen würden „ganz viel übereinander, aber nicht miteinander | |
| reden“. Es folgte Palmers Verteidigung Palmers: „Ich neige dazu, Dinge, die | |
| ich gesehen habe, auch so zu benennen“, sagte er, doch genau dies sei in | |
| Deutschland zurzeit problematisch. | |
| Katja Kipping, Vorsitzende der Linkspartei, widersprach vehement. Die | |
| Kultur der Unterdrückung des freien Denkens sei insbesondere auf der | |
| rechten Seite des Spektrums anzutreffen, bei Veranstaltungen von | |
| Buschkowsky oder Sarrazin, aber auch bei Talkshows, in denen vor allem über | |
| Probleme im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage gesprochen werde. Nassehi | |
| attestierte: „Die große Lebenslüge von uns Guten besteht darin, noch gar | |
| nicht richtig diskutiert zu haben, was Einwanderung und Integration | |
| bedeutet.“ | |
| Ähnlich argumentierte auch Bettina Gaus, politische Korrespondentin der | |
| taz, auf dem Panel mit Hofreiter. Sie wies auf einen weiteren Widerspruch | |
| hin. Zwar mobilisiere die Willkommenskultur noch immer Hunderttausende, | |
| doch diese verharrten in der karitativen Hilfe, ohne sich politisch | |
| einzumischen. „Es gibt keine politischen Forderungen, die sich das | |
| linksliberale Milieu zu eigen macht.“ | |
| ## Angst vor Fehltritten | |
| Womöglich ist dies eine Folge einer Angst, irgendwann doch auf der falschen | |
| Seite der Barrikade zu stehen. Genau dieser Frage ging das von | |
| taz.lab-Kurator Jan Feddersen moderierte Panel „Feindbild Leitbild“ nach. | |
| Grünen-„Krawallschachtel“ Daniel Cohn-Bendit, so stellte Feddersen ihn vor, | |
| hatte eine klare Meinung mitgebracht: „Die Wertedebatte habe ich satt.“ Die | |
| einzige Leitlinie für das Zusammenleben in einer immer ausdifferenzierteren | |
| Gesellschaft sei das Recht. | |
| Ralf Fücks, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung, widersprach: „Das | |
| Beharren auf Gesetzen reicht nicht“, sagte er. Stattdessen müsse darüber | |
| diskutiert werden, „was eine Gesellschaft zusammenhält, die ethnisch und | |
| kulturell extrem verschieden ist“. Fücks betonte, dies gelte nicht nur für | |
| Migranten, sondern auch für „Biodeutsche“: Zu unterschiedlich seien die | |
| „Lebenswelten zwischen niedersächsischen Schützenfesten und dem CSD in | |
| Köln“. | |
| Cohn-Bendit unterstrich dagegen: „Ich will Nazis nicht mehr überzeugen, | |
| dass Homosexuelle auch Menschen sind. Was ich will, ist, dass sie die | |
| Schnauze halten.“ Freundlicher ausgedrückt: Die Integrationsprobleme sind | |
| im AfD-Spektrum groß. | |
| Aufseiten der Geflüchteten sieht die Situation dagegen positiver aus. Das | |
| gilt trotz all der angesprochenen Probleme, die auch diese Gruppe nach | |
| Deutschland mitgebracht hat. Der Politologe Claus Leggewie resümierte: „Die | |
| Flüchtlinge sind eine große Chance für die deutsche Gesellschaft, die sehr | |
| müde und sehr reich geworden ist.“ Durch sie könne Unternehmergeist | |
| entstehen, Verwaltungen könnten wieder Fantasie entwickeln. Wenn das | |
| passiere, „wird das hier alles ganz wunderbar funktionieren“. | |
| 5 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Erik Peter | |
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