# taz.de -- Syrische Schwimmerin träumt von Rio: In ihrem Element | |
> Yusra Mardini schwimmt im Team der Refugee Olympic Athletes. Ihre | |
> härteste Prüfung hatte sie vor der griechischen Insel Lesbos. | |
Bild: Yusra Mardini scheint der Rummel um ihre Person kaum zu stören | |
Berlin taz | Es ist ein großer Tag für Ezzat Mardini, den Vater. Seine | |
Tochter Yusra wird seit einer guten Stunde umringt von Kamerateams und | |
Journalisten, die halbe Welt will ihre Geschichte hören. Auch um den | |
kleinen Mann mit dem Schnauzbart, der in einer Flüchtlingsunterkunft in | |
Spandau wohnt, hat sich eine Runde von Neugierigen gebildet. | |
Ezzat Mardini, 45, sagt, er sei nicht irgendein Schwimmlehrer in Syrien | |
gewesen, sondern einer der besten. Er hat seiner Tochter mit drei Jahren | |
das Schwimmen beigebracht und sie an den Leistungssport herangeführt. Dann | |
kam der Bürgerkrieg. | |
Auch in Damaskus, wo die Mardinis gewohnt haben, änderte sich das Leben | |
radikal. An Schwimmen war irgendwann nicht mehr zu denken. „Man | |
respektierte uns nicht mehr, das Klima wurde unfreundlich“, sagt Yusra. Die | |
Familie wollte weg, schnell. Als sie hörten, dass einem 15-jährigen Jungen | |
aus der Bekanntschaft die Flucht nach Deutschland gelungen war, stand der | |
Entschluss fest: Zuerst sollten es die Schwestern Yusra, 17, und Sarah, 20, | |
wagen. | |
Am 12. August des Vorjahres, als es los ging, mit einem Flug nach Beirut | |
und dann weiter in die Türkei, war die Familie in Aufruhr, noch schlimmer | |
wurde es, als Ezzats Töchter die Überfahrt wagten, in einem Schlauchboot | |
von der Türkei zur Nordküste der griechischen Insel Lesbos. | |
## Drei Stunden im Meer | |
1.200 Dollar wollten Schlepper pro Person allein für dieses Wagnis haben. | |
Sie schickten zwanzig Leute auf das Boot, das nur für sechs oder sieben | |
ausgelegt war. Nach ein paar Kilometern versagte der Motor, das Boot füllte | |
sich mit Wasser. Die Schwestern sprangen ins Meer und zogen das Boot aus | |
eigener Kraft, so gut sie eben konnten. | |
Ein Mann half ihnen, die anderen konnten nicht schwimmen. Ab und zu lief | |
der Motor wieder, aber Yusra verbrachte drei Stunden im Meer, bis die | |
Gruppe endlich in Skala Sikameneas, einem kleinen Dorf auf Lesbos, landete. | |
„Danach habe ich das Meer gehasst“, sagt Yusra auf einer Pressekonferenz in | |
Berlin. Ihrem Vater steckt immer noch der Schreck dieser Überfahrt in den | |
Knochen. Er verlor den Kontakt, über 15 Stunden waren die beiden Töchter | |
nicht erreichbar, von 18 Uhr am Abend bis zum nächsten Morgen halb zehn. | |
„Damals hatte ich die Hoffnung verloren, ich dachte sie sind tot“, sagt der | |
Vater, der dann nachgekommen ist nach Deutschland und kaum glauben kann, | |
was seitdem alles passiert ist. | |
Yusra Mardini und ihre Schwester Sarah waren auf der Balkanroute unterwegs, | |
auf einem Weg, der nun versperrt ist. Sie haben die Wegmarken ihrer Flucht | |
in guter Erinnerung: Röszke, Budapest-Keleti, Wien. In Berlin angekommen, | |
sagten sie einem ägyptischen Dolmetscher, dass sie Schwimmerinnen seien. | |
## „Vorbild für andere Sportler“ | |
Sie suchten nach Anknüpfungspunkten zu ihrem alten Leben und landeten beim | |
Sportklub Wasserfreunde Spandau 04, der vor allem für seine | |
Wasserballabteilung bekannt ist. Sven Spannekrebs ist dort ihr Trainer. | |
„Yusra hat sich in den vergangenen fünf Monaten stark verbessert, viel mehr | |
als ich dachte“, sagt er. „Yusra ist ein Vorbild für andere Sportler, | |
meistens jedenfalls.“ | |
Die Geschichte von Yusra Mardini ist eine besondere, weil sie vielleicht | |
bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro an den Start gehen könnte, | |
über 200 Meter Freistil. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat | |
beschlossen, dass es im Sommer bei den Spielen ein olympisches | |
Flüchtlingsteam geben wird, also eine Mannschaft, die hinter der Olympische | |
Flagge mit den bunten Ringen ins Stadion zur Eröffnungszeremonie einläuft, | |
die im Olympischen Dorf wohnt, einen eigenen Chef de Mission hat und | |
finanziell unterstützt wird vom IOC. | |
Zwei Millionen Dollar zusätzlich haben die Olympiafunktionäre locker | |
gemacht für die Flüchtlingshilfe. „Die Athleten verdienen eine Chance, in | |
den großen Sport zurückzukehren“, sagt Pere Miro, der so etwas wie der | |
Flüchtlingskoordinator im Olympiakomitee ist. | |
Im Moment sind über 40 Athletinnen und Athleten drin im vorläufigen | |
IOC-Flüchtlingsteam, Läufer aus Südsudan zum Beispiel, doch bis Rio wird | |
die Zahl schrumpfen, denn auch Sportler mit Flüchtlingsstatus müssen | |
bestimmte Leistungsnormen erfüllen, „Mindeststandards“, wie Miro sagt. | |
## Hungrige Weltpresse | |
Für Yusra bedeutet das: Ihr steht ein riesengroßer Kraftakt bevor, denn die | |
sogenannte B-Norm des internationalen Schwimmverbands Fina liegt über 200 | |
Meter Freistil bei 2:03,13 Minuten. Ihre Bestzeit steht bei 2:11 Minuten, | |
doch beim letzten Leistungstest war sie noch einmal vier Sekunden | |
langsamer. Es wäre schon ein kleines Wunder, wenn sie die Normzeit packen | |
würde. | |
Aber dieses Zahlenspiel gerät zur Nebensache, als der Deutsche Olympische | |
Sport-Bund am vergangenen Freitag die syrische Sportlerin in den | |
Räumlichkeiten des Berliner Landessportbundes präsentiert. Vor der | |
Weltpresse. | |
Gut zwanzig Kamerateams sind gekommen, etwa 100 Journalisten, vom | |
englischen Guardian bis zum russischen TV-Sender „Life News“. Yusra Mardini | |
gibt nicht nur eine große Pressekonferenz, sondern auch noch mehrere | |
kleinere danach. Es ist ein Sturm des Interesses und auch der Zuneigung, | |
der über die mittlerweile 18-Jährige hinwegfegt. | |
Sie meistert die Situation mit der coolen Gelassenheit eines Teenagers, der | |
nie etwas anderes gemacht hat. Die richtigen Worte, auf Englisch, findet | |
sie ohnehin: „Olympia ist für mich eine einzigartige Chance, dafür werde | |
ich hart arbeiten.“ | |
## Zwei Jahre ohne Training | |
Später sagt sie: „Auch wenn wir eine harte Zeit hinter uns haben, können | |
wir Großes erreichen. Ich möchte, dass alle Flüchtlinge, und nicht nur die, | |
auf mich stolz sein können.“ Yusra, der Medienstar. Es ist eine Rolle, die | |
ihr liegt. | |
Trainer Spannekrebs weiß, dass es nicht so einfach wird in den kommenden | |
Wochen. Die Wasserfreunde Spandau haben Yusra Mardini zwar ein optimales | |
Umfeld geschaffen, sie geht auf ein Berliner Sportgymnasium, wohnt in | |
Räumlichkeiten des Vereins und trainiert unter professioneller Aufsicht, | |
aber die grazile Schwimmerin muss viel aufholen, denn sie konnte wegen des | |
syrischen Bürgerkriegs zwei Jahre lang fast gar nicht trainieren. | |
Sie hat technische und körperliche Defizite. Aber Olympia ist ihr Traum. | |
„Ich möchte alle Flüchtlinge motivieren, auch ihre Träume zu realisieren�… | |
sagt sie im Stil einer Sportbotschafterin. Aber wer weiß, vielleicht | |
überdenkt das IOC noch einmal seine relativ strengen Zulassungsbedingungen? | |
Im Juni wird das Exekutivkomitee des IOC darüber befinden, wie viele | |
Sportler nach Rio fahren dürfen. Sind es nur eine Handvoll, wie es bislang | |
geplant ist, oder werden es doch mehr? | |
Das Internationale Olympische Komitee hat in den vergangenen 30 Jahren | |
immer recht flexibel auf die politische Weltlage reagiert. Das IOC hat | |
mehrfach Athleten zu den Spielen zugelassen, die heimatlos und ausgegrenzt | |
waren. | |
## Timoresen in Sydney | |
Die Sportler durften sich dann unabhängige Olympiateilnehmer nennen oder | |
Individual Olympic Athletes. Bei den Olympischen Sommerspielen 1992 in | |
Barcelona stand zum Beispiel Jugoslawien, das nur noch aus Serbien und | |
Montenegro bestand, unter Sanktionen der Vereinten Nationen, dennoch | |
starteten 58 unabhängige Teilnehmer aus dem ehemaligen Jugoslawien; drei | |
gewannen sogar Medaillen im Schießen. | |
2000 in Sydney nahmen vier Sportler aus Osttimor teil. Weil das Gebiet | |
damals unter Verwaltung der UNO stand und der Staat erst 2002 anerkannt | |
wurde, marschierten sie als vorletzte Mannschaft unter der Flagge des IOC | |
ein. | |
Das internationale olympische Flüchtlingsteam soll diesmal sogar als erste | |
Mannschaft bei der Eröffnungszeremonie einlaufen, noch vorm Gastgeber aus | |
Brasilien. Ob Yusra dabei ist? Für Ezzat Mardini, den Vater, wäre das | |
schön, aber nicht lebenswichtig. Sie hat ihre olympische Schwimmprüfung eh | |
schon bestanden, Ende August im Salzwasser der Ägäis. | |
23 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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