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# taz.de -- Syrer über das Exil in Deutschland: Stärker werden, jeden Tag
> Der Autor ist vor mehr als einem Jahr nach Deutschland geflohen. Seine
> Vergangenheit und seine Verluste holen ihn immer wieder ein.
Bild: Straßenszene aus Damaskus
„...Und? Gibt’s irgendwas Neues?“
„Nein. Nichts Neues seit unserem Telefongespräch vor zwei Tagen.“ Schon
wieder dieselbe Antwort. Dieses Gespräch führe ich ständig. Wenn man fast
täglich mit denselben Menschen redet, hat man sich oft nichts Neues zu
erzählen.
Seit ich Mitte September 2014 von zu Hause weggegangen bin, habe ich mir
vorgenommen, meine zurückgebliebenen Eltern alle paar Tage anzurufen.
Manchmal auch täglich. In der Woche zum Beispiel, als mein Bruder seine
gefährliche Flucht Richtung Holland begann. Oder als seine Frau und sein
Sohn Syrien verließen, um ihm zu folgen. Der Abschied von ihrem Enkelsohn
war hart für sie. Er war bis zum letzten Tag teil ihres Alltags gewesen.
Wenn man von meinem Geburtsdatum ausgeht, werde ich bald 35 Jahre alt sein.
Aber seit drei Jahren habe ich mit dem Zählen meiner Lebensjahre wieder bei
null angefangen. In Syrien sagt man: Wenn du jemals lebend aus einem
syrischen Gefängnis des Geheimdienstes kommst, hast du ein zweites Leben
bekommen. Und so ist es. Dabei dauerte meine Gefangenschaft nur zwei
Monate, was verhältnismäßig wenig ist – im Vergleich zu dem, was andere
Gefangene erlitten haben und bis zum heutigen Tag erleiden.
## Deutschland war ein Traum. Eigentlich
Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, nach Deutschland zu gehen.
Ich hatte versucht, mich für einen Master einzuschreiben, und stellte mir
vor, vielleicht zu bleiben. Aber dazu kam es damals nicht.
Als ich dann Anfang 2015 tatsächlich kam, habe ich mich darüber nicht so
gefreut, wie man es bei der Verwirklichung eines großen Traumes tut. Der
ganze Mist, den ich erlebt habe, all die Schwierigkeiten bei meiner
Ausreise, der Haftbefehl, meine zurückgelassenen Eltern, meine engen
Freunde, die ich vielleicht nie wieder sehen werde, und mein Land, dem
jeden Tag mehr Vernichtung, Unterwerfung und Tod widerfährt…
All das war vernichtend.
Fünf Monate lang haben wir alles Mögliche – und Unmögliche – versucht, um
das mir auferlegte Reiseverbot zu umgehen. Das Verbot ging einher mit dem
Haftbefehl. Ich wurde durchsucht, geschlagen, gefoltert und zu falschen
Geständnissen gezwungen. Assads Geheimdiensttruppen trieben wir in den
Wahnsinn, als wir immer wieder „Freiheit“ schrien. Schließlich haben sie
mich unter einer Bedingung gehen lassen: Ich sollte Syrien verlassen und
niemals wiederkommen. Bei Nichteinhaltung dieser Bedingung würde ich zurück
in ihre Gefängniskeller gehen und niemals wieder herauskommen.
## Ich verfolge alle Details aus Syrien
Aber im Grunde habe ich Syrien nie wirklich verlassen. Ich habe nie
aufgehört, die Nachrichten dort zu verfolgen. Jetzt tue ich das sogar noch
mehr. Besonders dann, wenn in meiner Stadt etwas Schlimmes passiert. Ich
verbringe Stunden und Tage damit, jedem kleinsten Detail nachzugehen. Ich
schließe mich mit Menschen zusammen, die Syrien ebenfalls verlassen haben
und versuche mit ihnen, dort irgendwie zu helfen.
Wenn ich auf die Uhr gucke, sehe ich immer zwei Zeiten: die Uhrzeit in
Deutschland und die in Syrien. Anfangs war das wichtig, um meine Anrufe zu
koordinieren. Aber dann habe ich gemerkt, dass ich ohnehin völlig von der
syrischen Zeit eingenommen bin. Donnerstag und Freitag verbringe ich die
Abende damit, Leute anzurufen, denn an diesen Tagen ist dort Wochenende. Um
wie viel Uhr haben meine Freunde dort Mittagspause? Wann machen sie einen
Nickerchen? Wann haben sie Strom? Wann haben sie Internetverbindung? Wenn
jemand etwas auf Facebook postet, ist das zum Beispiel ein Zeichen für
Internetverbindung.
Es geht mir gut hier. Ich komme erfolgreich voran. Aber über meine
Errungenschaften kann ich mich erst dann wirklich freuen, wenn ich
Glückwünsche von denen bekomme, die mich lieben und die für mich am meisten
zählen. Die, die zu Hause geblieben sind!
Ich glaube nicht, dass ich über diese herzzerreißenden Emotionen
hinwegkomme. Bei allem und jedem, was mit Syrien zu tun hat, kommen sie in
mir auf. Aber ich liebe es hier; die Orte, die Natur, und all die netten
Menschen, die ich getroffen habe. Bald werde ich meinen Master machen und
arbeiten. Jeden Tag werde ich stärker. Ich gehe vorwärts und versuche
dabei, von den unendlichen Entwicklungschancen zu profitieren. Dann werde
ich wieder optimistisch und zuversichtlich und möchte diese Chance nutzen,
um endlich ein richtiges Leben zu beginnen.
Übersetzt aus dem Englischen von Lea Fauth
20 Mar 2016
## AUTOREN
Aktham Abulhusn
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