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# taz.de -- Innenansichten eines Geflohenen: Das Gedächtnis macht Zahnschmerzen
> In der U-Bahn in Berlin. Der Kopf in Rakka. Hier sucht unser syrischer
> Autor nach einem Netz für sein Handy. Und dort brennt die Welt.
Bild: Die Schmerzen kommen, sobald die U-Bahn sich in Bewegung setzt
Berlin taz | Auch heute tun mir die Zähne weh. Ich beiße sie fest zusammen
und beäuge die Gesichter in der U-Bahn um mich herum. Ich schiebe mir einen
Kaugummi in den Mund, kaue langsam. In der Hand halte ich eine blaue Tüte,
darin ein Kilo Lammfleisch, gekauft in einem türkischen Geschäft in
Berlin-Mitte. An der umweltfeindlichen Tüte bleiben missbilligende Blicke
haften. Blicke aus fahlen Augen. Wie die Augen der Schafe auf dem Viehmarkt
in Rakka. Ich schere mich nicht darum, betaste mit den Fingerspitzen die
Tüte. Sie fühlt sich gut an, so zart wie meine Hand.
Am meisten habe ich mich früher auf die Feiertage gefreut. Dann bin ich
immer von zu Hause ausgebüxt und auf den Mâkif-Markt gegangen. So heißt der
Viehmarkt in Rakka.
MeinVater, ein Tierarzt, erklärte den Leuten, die zu ihm in die Praxis
kamen, wie sie den Schafen die Medizin verabreichen sollen. Währenddessen
aß ich, auf einem Plastikstuhl sitzend, ein Sandwich, belegt mit Kebab und
Tomaten. Ich mochte keine Schafe, weil sie nicht mit mir spielen wollten.
Sie standen nur da und atmeten mit der Luft den Geruch vom gegrillten
Fleisch ihrer Artgenossen ein. Ich bot ihnen ein Stück von meinem Sandwich
an. Keine Reaktion.
Ich hasse mein Gedächtnis. Es macht mir Zahnschmerzen. Die Schmerzen fallen
über mich her, sobald die U-Bahn sich in Bewegung setzt. Offenbar reagiert
mein Gedächtnis auf die Seelen der Toten in den Gräbern, an denen wir
zwischen den Stationen vorbeifahren. Hier, in der U-Bahn sitze ich wie ein
Schaf auf dem Mâkif-Viehmarkt, völlig apathisch. Ich rieche mein eigenes
Fleisch, rieche, wie es gegrillt wird, und warte.
## Stolpersteine aus Fleisch
Ich öffne YouTube auf dem Handy. Der Tod treibt sich herum auf den Straßen.
Klettert die Bäume hoch in unserem Viertel, schnappt den Kindern den Ball
weg, spielt ihn mir zu.
Ich steige aus der U-Bahn, strauchle über die Stolpersteine vor den
Häusern. Ich überlege, mir selbst einen Stolperstein anzulegen. Ich will
meinen Namen auf ein weißes Blatt schreiben, den Zettel in einen Würfel
Fleisch aus meiner Tüte pressen und das Ganze vor unserem Haus in den Boden
einlassen.
Mir kommt der Gedanke, alle Stolpersteine auszugraben, die Namen der Opfer
zu löschen und durch die Namen von Opfern zu ersetzen, die ich kenne. Aber
ich überlege es mir anders. Womöglich verbreitet die Presse dann, dass ein
antisemitischer Flüchtling aus Syrien die Holocaust-Geschichte
umzuschreiben beabsichtigt, ohne dass jedoch meiner Angst auch nur die
geringste Beachtung geschenkt wird. Meiner Angst vor dem Lauf der
Geschichte, meiner Angst vor dem gegenwärtig von der Welt an uns verübten
Massenmord.
Die Geschichte rast in meinem Kopf, rast wie die U-Bahn. Ich schließe die
Augen. Sehe, wie die Menschen unersättlich Lammfleisch in sich
hineinschlingen. Ich öffne die Augen, sehe, wie wir uns selbst
verschlingen.
Ich bin immer noch nicht gesund. Gestern habe ich mir einen Inhalator
gekauft. In Blau. Ich besprühe meine Kleidung mit feuchtem Sauerstoff,
entdecke grüne Stellen an meiner Lunge. Die Luftfeuchtigkeit ist sehr hoch
in Berlin. Es riecht moderig. So moderig, wie ich es hier noch nie erlebt
habe. Ich bleibe vor einem langen Spiegel stehen, den irgendjemand auf dem
Bürgersteig abgestellt hat. Ich trete ganz nah an meinen Körper heran,
hauche meine Brust an. Der Atem gelangt nicht in die Lunge. Ich hauche
kräftiger. Vergeblich. Viel zu wenig Luft in dieser Welt.
Es riecht faulig, nach gekochten Eiern. Ich gehe weiter, will an meine
Lunge greifen, an den grünen Flecken zerren. Wieder in der U-Bahn, hole ich
einen kleinen Spiegel aus der Tasche und besehe mir die Gammelflecken. Ich
reibe und kratze so lange daran, bis sich die Ränder lösen und entferne sie
mit dem Nagelknipser. Ich bin von meinen Krankheiten besessen, beobachte
die Augen der anderen Fahrgäste jeden Tag. Beobachte, wie sie in meine
Lunge gaffen wollen. Ich hasse meinen Körper. Am liebsten würde ich die
glitschigen Adern durchtrennen, die ich ständig mit der Lunge herumtrage.
Am liebsten würde ich ins Nichts übergehen, damit dieses monotone Ein- und
Ausatmen endlich aufhört.
Überall riecht es nach gekochten Eiern. In Krankenhaus stinkt es
unerträglich. Der Arzt erklärt mir, dass ich nicht krank bin, dass ich
diesen blauen Inhalator nicht brauche. Ich blase ihm ins Gesicht, zeige ihm
Spiegel und Nagelknipser. Völlig umsonst. Der Fiesling glaubt mir nicht.
Ich steige in die U-Bahn. Bitte den Mann auf der Bank gegenüber, den
Spiegel zu halten, damit ich besser mit dem Nagelknipser hantieren kann.
Ich schneide kleine Stückchen aus dem Grün heraus. Die Brust tut mir weh.
Der Mann zählt die Flecken. Ich beobachte ihn, verletze aus Versehen das
Lungenfell.
## Überall Menschen
Ich steige in eine andere Bahn um. Es wimmelt von Menschen. Ich huste
heftig, damit sie mir Platz machen. Es nützt nichts. Ich bitte einen
kräftigen Mann, mir kurz die Lunge abzunehmen, damit ich die Hose
hochziehen kann. Er weigert sich. Elender Hurensohn! Ich kann mich mit den
Leuten hier nicht verständigen. Ich komme woanders her. Ich spreche kein
Deutsch. Warum kann dieser fette Egoist nicht einen Schritt beiseite treten
oder mir helfen?
Ich huste heftig, die U-Bahn rast.
Endlich bin ich da. Auf dem Bahnsteig ist es genauso stickig wie in der
Bahn. Ich gebe mir einen Schuss Sauerstoff aus dem blauen Inhalator.
Versuche mich zu orientieren, zwecklos. Die Menschen laufen in den Gängen
durcheinander wie kopflose Tiere.
Gestern bin ich an der U-Bahn-Treppe in einen Haufen Hundescheiße getreten.
Reste davon kleben immer noch in den schmalen Rillen meiner Schuhsohle. Ich
schaue nach rechts und links die Straße entlang, suche nach Luft, sehe
nichts.
Mich langweilt mein eintöniger Atemrhythmus, ich sprühe Sauerstoff in die
Luft und auf meine Kleider.
## Zerstörte Häuser
Ich hauche die zerstörten Häuser auf dem Bildschirm an, putze sie, ordne,
was davon übrig ist, und schicke sie auf Facebook zurück zu denen, denen
sie gehören.
Meine Freundin schickt mir Fotos von Tausenden zerstörter Häuser. Ich kann
nicht zurückschreiben.
Ich kann nichts machen. Schicke mich selbst los auf Facebook. Sie öffnet
nicht. Ich warte im Dunkeln und gehe irgendwann wieder nach Hause.
Ich google die Weltkarte, zerstöre die Welt, schließe die Seite wieder.
Meine Freundin schickt mir eine Blume. Ich hole sie schnell aus dem
Posteingang. Doch ich kann keine Antwort schicken. Das Internet ist zu
schwach, selbst im Exil.
Die Welt dort brennt. Währenddessen renne ich im Park nebenan zwischen den
Bäumen umher, das Handy in die Luft gehoben, auf der Suche nach einem
besseren Empfang.
„Die Blume, die du mir auf Facebook geschickt hast“, schreibe ich meiner
Freundin, „hat mir die Hand blutig gerissen.“ Sie reagiert nicht.
Ich gehe auf den Markt, kaufe einen kleinen Baum und lasse ihn vor dem
Fenster verdorren.
Übersetzt aus dem Arabischen von Leila Chammaa
17 Mar 2016
## AUTOREN
Amer Mater
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