# taz.de -- Kommentar EU-Flüchtlingsabkommen: Niemand schreit Hurra | |
> Die EU will 72.000 Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen. Das Drama in der | |
> Ägäis und in Griechenland wird trotzdem weitergehen. | |
Bild: Geflüchtete in Idomeni | |
Europa schafft das: So lautet die neue Devise von Kanzlerin Angela Merkel | |
in der Flüchtlingskrise. Sie klingt nach dem berühmten „Wir schaffen das“, | |
mit dem sie im September letzten Jahres die Öffnung der deutschen Grenzen | |
für syrische Flüchtlinge kommentierte und legitimierte. Aber sie meint | |
genau das Gegenteil. | |
Denn statt um Öffnung geht es nun um Abschottung, statt um Solidarität um | |
„Interessenausgleich“, was nicht viel mehr als zynische Realpolitik | |
bedeutet. Zum Helfer hat Merkel ausgerechnet die Türkei auserkoren – also | |
das Land, das den Bürgerkrieg in Syrien anheizt und in den Kurdenregionen | |
selbst Flüchtlinge produziert. | |
Merkel hat den Bock zum Gärtner gemacht – und die anderen 27 EU-Staaten auf | |
ihre Seite gezogen. Allerdings war es eher eine Überrumpelung, ein neuer | |
Alleingang, mit der sie Europa vor vollendete Tatsachen stellte. Die | |
meisten EU-Staaten stimmten der „Erpressung“ (so der belgische Premier | |
Charles Michel) nur zähneknirschend zu. | |
Und genauso widerwillig werden sie nun an die Umsetzung gehen. Zwar hat | |
Merkel immerhin durchgesetzt, dass 72.000 Flüchtlinge aus der Türkei in die | |
EU übernommen werden. Doch das könnte noch ewig dauern. Ungarn und die | |
Slowakei haben schon angekündigt, dass sie keinen einzigen Flüchtling | |
aufnehmen. Auch sonst schreit niemand Hurra. | |
## Keine Vorbereitung | |
Am Ende dürften die meisten nun als „legal“ deklarierten Flüchtlinge doch | |
wieder in Deutschland landen. Und gleichzeitig wird das Flüchtlingsdrama in | |
der Ägäis und in Griechenland weitergehen. Denn weder Athen noch Ankara | |
sind darauf vorbereitet, von heute auf morgen den Schalter umzulegen und | |
die Boatpeople zu stoppen. | |
Doch genau das verlangt dieser deutsch-türkische Deal. Schon ab Sonntag | |
sollen alle, denen noch die Flucht auf die griechischen Inseln gelingt, | |
zurück in die Türkei geschickt werden. Selbst Menschen, die vor den Bomben | |
auf Aleppo geflohen sind, sollen dann keine Chance mehr auf Asyl in der EU | |
haben, zur Abschreckung müssen sie zurück. | |
Damit das nicht ganz so schrecklich aussieht wie es ist, haben Merkel und | |
die anderen EU-Chefs eine individuelle Prüfung unter UN-Aufsicht | |
versprochen. Doch das ist reine Augenwischerei. Da selbst anerkannte | |
Asylbewerber keine Chance mehr haben werden, am Ende in Europa Schutz zu | |
bekommen, wird das Asylrecht de facto ausgehebelt. | |
Dabei wäre ein anderer Deal möglich gewesen. Die EU hätte die Türkei wegen | |
der fehlenden Umsetzung der bisherigen Vereinbarungen zur | |
Flüchtlingspolitik und wegen der fortgesetzten Verletzung von | |
Menschenrechten und Grundfreiheiten unter Druck setzen können. Sie hätte | |
nicht alle Flüchtlinge abschieben müssen, sondern nur diejenigen, die | |
keinen Asylanspruch in Europa haben. | |
Dann hätten Davutoglu und Präsident Recep Erdogan ihre Politik ändern | |
müssen, nicht die EU. Dann hätte die Türkei auf der Anklagebank gestanden – | |
und nicht Europa, das sich nun Rechtsbruch vorwerfen lassen muss. Doch dazu | |
fehlte den Europäern das Rückgrat. Und Merkel fehlte der Mut. Das dürfte | |
sich schon bald rächen. Wenn nicht in der Flüchtlingspolitik, dann auf | |
einem anderen Feld. | |
Denn die Türkei wird nun nicht mehr locker lassen. Nach diesem ersten Sieg | |
wird sie weitere Opfer fordern, etwa in der Außenpolitik. Bei den | |
„Schutzzonen“ in Syrien hat es schon angefangen. Was kommt als Nächstes? | |
Niemand weiß es. Klar ist nur eins: Darauf, dass Merkel schon das | |
Schlimmste verhindern werde, darf man nicht mehr hoffen. Denn sie hat | |
diesen schlimmen Deal erst möglich gemacht. | |
19 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Eric Bonse | |
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