| # taz.de -- Gewalt gegen Frauen: Willkommen in der Hölle, Ladys | |
| > Seit der Kölner Silvesternacht wird einer sexismusfreien Zeit | |
| > hinterhergetrauert. Die hat es in Deutschland nie gegeben. | |
| Bild: Männergruppen und Alkohol: schwierige Kombination. | |
| Wer als Frau schon mal bei Massensaufgelegenheiten wie Silvester, Herrentag | |
| oder Karneval auf der Straße war, weiß, dass jede Begegnung mit | |
| alkoholisierten Männern alles andere als ein Zuckerschlecken ist. Dafür | |
| bedarf es meistens nicht einmal irgendwelcher konstruierter Feiertage. Es | |
| reicht für einen solchen Eindruck auch ein gewöhnlicher | |
| Samstagabendspaziergang oder der Besuch irgendeines Musikfestivals. | |
| Sogenannte „gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen“, wie die ehemalige | |
| Familienministerin Kristina Schröder [1][in ihrem gestrigen Tweet | |
| formuliert], konzentrieren sich auf ihr Übelstes und vergiften alles um sie | |
| herum. Jede Aktivität im öffentlichen Raum, jede Busfahrt, jeder Barbesuch, | |
| jeder 500-Meter-Fußweg bis zur Wohnungstür gestaltet sich wie ein Eierlauf | |
| durch die Hölle. | |
| Laute Typengruppen bedeuten einen Straßenseitenwechsel, das bereite Handy | |
| für die Notruf-Schnellwahl, zwischen den Fingern zu einem Schlagring | |
| aufgestellte Schlüssel und viel Herzrasen. Sexualisierte Übergriffe haben | |
| sich in den Alltag normalisiert, all diese Maßnahmen sind zur Routine | |
| mutiert. Denn Frau sein bedeutet leider, in ständiger Angst vor Gewalt | |
| leben zu müssen. | |
| Knapp drei Jahre ist es her, als eine Gruppe von Feministinnen auf Twitter | |
| den Hashtag [2][#aufschrei] ins Leben rief. Sie wollten das Tabu brechen, | |
| das Betroffene von einem offenen Umgang mit Sexismuserfahrungen und | |
| sexualisierter Gewalt auch heute noch hindert. Das Medienecho spiegelte | |
| damals zweierlei Dinge: Das kollektive Gesprächsbedürfnis auf einer Seite | |
| und die plättende Ignoranz gegenüber Vergewaltigungskultur auf der anderen. | |
| Anstatt konstruktive Debatten zu führen, fanden Journalist_innen und ganze | |
| Redaktionen es viel relevanter, in Grundsatzdiskussionen zu versinken. | |
| ## Pragmatischer Feminismus | |
| Ist Sexismus in Deutschland im Jahre 2013 überhaupt noch ein Ding? Haben | |
| wir das Patriarchat nicht schon längst überwunden? Ist | |
| Geschlechterungerechtigkeit ein Mythos minderbemittelter Frauen? Und | |
| überhaupt: Wollen Betroffene von Sexismus und sexualisierter Gewalt nicht | |
| eigentlich doch nur Aufmerksamkeit erhaschen? „Die Sexismusdebatte“ | |
| innerhalb von Mainstreammedien fand in einem Stil statt, den die | |
| Gesellschaft spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts hätte ablegen | |
| sollen. | |
| Selbige Kristina Schröder, die plötzlich mit herrschaftskritischen Termini | |
| um sich wirft, verlachte die Initiative damals. Zuvor brachte sie ein Buch | |
| mit dem Titel „Danke, emanzipiert sind wir selber: Abschied vom Diktat der | |
| Rollenbilder“ heraus und ist wie die meisten ihrer CDU-Kolleginnen ein | |
| Beispiel für antifeministische Politikerinnen. | |
| In jüngster Vergangenheit ist sie jedoch dem imaginären „Feminismus von | |
| rechts“-Club beigetreten, in dem es mit Birgit Kelle, Erika Steinbach und | |
| Frauke Petry vermehrt zu unterirdischen Aussagen gegen muslimische Männer | |
| und für vermeintliche Frauenrechte kommt. Sobald die Täter eben nicht mehr | |
| ihre potenziellen Väter, Ehemänner, Brüder oder Söhne sind, sondern die | |
| bösen Männer of Color, ist die Sorge um das Wohl deutscher Frauen sehr | |
| groß. | |
| „Frau #Merkel, stellen Sie d. Sicherheit&Ordnung wieder her!“, [3][twittert | |
| Petry] und trauert der sexismusfreien Zeit in Deutschland hinterher, die es | |
| nie gegeben hat. Auch Steinbach will zuvor noch nie von sexualisierter | |
| Gewalt im öffentlichen Raum gehört haben. „Weil sich Frauen immer häufiger | |
| nicht mehr an jeden Ort zu jeder Zeit wagen können“, fürchtet sie. | |
| Auf den Hinweis hin, dass es schon seit Jahrzehnten so ginge, erwidert sie: | |
| „Wann gab es Vergleichbares denn vor 20 Jahren. Bitte Fakten!“ Dass sie | |
| seit 25 Jahren Bundestagspolitikerin ist: geschenkt. Wer Fakten über Gewalt | |
| ausblenden will, kann es auch tun und erst in der Silvesternacht in Köln | |
| das Patriarchat entdecken. | |
| ## Neue Dimension von was? | |
| Ohne Zweifel: [4][Die Straftaten, die sich in der Silvesternacht in Köln | |
| ereigneten], waren ein weiterer Beweis dafür, wie wenig Macht Frauen über | |
| ihre eigenen Körper haben und wie sehr sie männlicher Gewalt ausgesetzt | |
| sind. | |
| Eine Gruppe organisierter Krimineller nutzte das Durcheinander am | |
| Hauptbahnhof aus, um mehrere Frauen zu bestehlen und dabei auch sexuell | |
| belästigen. Zu diesem Zeitpunkt liegen der Polizei über 100 Anzeigen vor – | |
| einige wegen Diebstahls, andere wegen sexualisierten Übergriffen. | |
| Zu den Tätern hingegen liegen kaum Informationen vor. Männlich und | |
| „nordafrikanisch“ sollen sie gewesen sein, wohl auch betrunken. Wie viele | |
| es nun genau waren, steht nicht fest. Die Polizei sagt, es könnten drei | |
| oder 20 sein, einige Zeitungen bluffen von 1.000 geflüchteten Männern. | |
| Ob einer der Täter einen Fluchthintergrund hat, wissen wir genauso wenig | |
| wie ihre Herkunft (oder, je nach dem, dem ihrer Eltern). Nur eines waren | |
| sie sicher nicht: blond, blauäugig, weiß. Dieses kleine Detail ist für die | |
| betroffenen Frauen irrelevant, schlimm waren die Übergriffe so oder so. Für | |
| die Öffentlichkeit allerdings scheint dieser Unterschied maßgeblich zu | |
| sein. | |
| Hätte Birgit Kelle am Montag nach der Tat einen empörten Kommentar über die | |
| Geschehnisse geschrieben, wenn die Täter weiß wären? Wäre die | |
| Medienberichterstattung so üppig, wenn in der Vergangenheit jedes Ereignis, | |
| bei dem die Gewaltquoten hoch sind, genauso viel Beachtung gefunden hätte? | |
| Beim Oktoberfest schätzt man die Dunkelziffer der Vergewaltigungen pro Jahr | |
| auf 200 – und da ist alles, was unter sexueller Belästigung gefasst wird, | |
| noch nicht einbegriffen. | |
| Wäre die Zahl der Anzeigen so hoch angestiegen, wenn die mediale | |
| Aufmerksamkeit so gering geblieben wäre, wie es in Vergangenheit an | |
| Silvester, Oktoberfest, Karneval oder Herrentag der Fall war? Auch hier | |
| lässt sich nur vermuten, erfahrungsgemäß wäre es aber still um die | |
| Betroffenheit der Frauen gewesen. Erfahrungsgemäß hätte man den Frauen | |
| nicht geglaubt, ihnen gesagt, sie müssen im angeheiterten Zustand einfach, | |
| ja, was? Unaufmerksam gewesen sein? „Falsche Signale“ ausgesendet haben? | |
| Sich etwas eingebildet haben? | |
| Ohne die Statistik der Angriffe in vorherigen Jahren lässt sich nur schwer | |
| festmachen, ob es sich um eine „neue Dimension der Kriminalität“ handelt. | |
| Fest steht: Organsierter Raub in Menschenmassen – ob an Touri-Hotspots, in | |
| Clubs oder an Silvester – ist genau so ein altes Phänomen wie die Zahl | |
| sexualisierter Übergriffe zu jenen Gelegenheiten. Ob am Tag der Deutschen | |
| Einheit am Brandenburger Tor, beim Headliner von Rock am Ring oder in den | |
| Zeltlagern der Occupy-Aktivist_innen: Männer, Alkohol und übersichtliche | |
| Menschengruppen waren schon immer eine Höllenkombination. | |
| ## Raum für Ängste | |
| Selbst mit klaren Zahlen ist es schwer, eindeutige Schlüsse zu ziehen. | |
| Trotz der vielen Anzeigen in Köln lässt sich nicht sagen, wie viele | |
| Betroffene es tatsächlich gab. Die Dunkelziffer betroffener Frauen ist | |
| unter anderem auch deshalb so schwer zu ermitteln, weil es für sehr viele | |
| lebensbedrohlich sein kann, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. | |
| Das mag an einem unklaren Aufenthaltsstatus liegen, an der Anerkennung | |
| ihrer weiblichen Identität oder vergangenen Erfahrungen mit rassistischer | |
| Polizeigewalt. | |
| Ginge es nicht um die Reproduktion des rassistischen Bilds der | |
| unschuldigen, weißen Frau, die vor dem aggressiven, muslimischen Mann | |
| geschützt werden muss, würden diese Vorfälle kaum viral gehen. Wieder fragt | |
| sich: Wessen Ängste werden ernstgenommen, wessen werden verlacht? Die | |
| rechte Vereinnahmung von Feminismus durch Steinbach und Konsorten geht so | |
| einfach über die Bühne, weil die Sicherheit von Frauen erst dann | |
| ernstgenommen werden kann, wenn sie ihrer rassistischen Agenda nützt. | |
| Furcht vor der „Maskulinisierung des Straßenbilds“ ist hier Synonym für d… | |
| Forderung nach einem Aufnahmestopp für männliche Asylbewerber. Wer als Frau | |
| schon mal auf der Straße war, weiß, dass ihre Maskulinisierung nicht erst | |
| seit der zackig vorantreibenden Islamisierung des Abendlandes ein Problem | |
| war. | |
| Es sind nicht männliche Geflüchtete, die Vergewaltigungskultur aufrecht | |
| erhalten, sondern die sehr selektive Anhörung der Betroffenen und | |
| Victim-Blaming, wie es jetzt Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker | |
| anhand von Verhaltensregeln für Frauen à la „eine Armlänge Distanz“ | |
| betreibt. | |
| Rechtspopulistische Pseudo-Feministinnen sind aber nicht Teil der Lösung, | |
| sondern des Problems. Bloggerin Nadia Shehadeh fasst auf ihrer | |
| Facebook-Seite treffend zusammen: „Solange die besoffenen Männer | |
| herkunftsdeutsch sind kann ich mich unter ihnen wohl und sicher fühlen.“ | |
| 6 Jan 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/schroeder_k/status/684113837545623552 | |
| [2] https://twitter.com/search?q=%23aufschrei&src=tyah | |
| [3] https://twitter.com/FraukePetry/status/684310461819523072 | |
| [4] /Sexuelle-Uebergriffe-an-Silvester-in-Koeln/!5263228/ | |
| ## AUTOREN | |
| Hengameh Yaghoobifarah | |
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