# taz.de -- 379 Anzeigen, 150 wegen sexueller Gewalt: 30-60-370plus | |
> Das Öffentlichmachen der Übergriffe in Köln hat betroffenen Frauen Mut | |
> gemacht, Anzeige zu erstatten. Bisher haben sie oft geschwiegen. | |
Bild: 60? 170? Die Dunkelziffer liegt wohl noch höher. | |
Erst waren es 30. Dann waren es 60. Dann mehr als 370* Frauen, die in der | |
Silvesternacht im und vor dem Kölner Bahnhof sexueller Gewalt oder | |
Diebstahl ausgesetzt waren und dies angezeigt haben. Innerhalb kürzester | |
Zeit vervielfacht sich die Zahl und zeigt das Ausmaß sexueller Gewalt, die | |
dort möglich war. Ich war nicht in Köln, aber das hier hab ich mir | |
andernorts zu anderer Zeit schon mal angehört: „Hey, darf ich deine Fotze | |
lecken. Hey, du willst es doch.“ | |
Am Anfang trauten sich nur wenige betroffene Frauen in Köln, eine Anzeige | |
zu erstatten. Warum? Weil Frauen es gewohnt sind, Übergriffe wegzustecken | |
oder sie zu vergessen, sobald sie sie überlebt haben. Weil Scham da ist, | |
aber auch die Erfahrung, dass es in Deutschland in der Regel nicht viel | |
bringt, sexuelle Übergriffe zu melden. | |
Das sukzessive Öffentlichmachen der kriminellen Handlungen rund um den | |
Bahnhof und den Dom hat geholfen, diese Schwelle zu überwinden. Und es | |
weist auf die Dunkelziffer hin. Denn drei Viertel der Frauen hätten | |
vermutlich nicht ausgesagt, wäre nicht publik geworden, was das erste | |
Viertel erlebt hat. 30-60-370+. | |
Wie groß die Scham und die angenommene Ignoranz der Verfolgungsbehörden | |
sind, wenn es um sexualisierte Gewalt geht, zeigt sich auch daran, dass am | |
Anfang nur wenige Frauen, die eine Anzeige erstatteten, von sexueller | |
Gewalt berichteten sondern vorwiegend von Diebstahl. Sukzessive aber wurden | |
es mehr. Wird also deutlich, dass ein sexueller Übergriff kein Einzelfall, | |
sondern ein Muster ist, dann wird auch der Mut größer, ihn öffentlich zu | |
machen. | |
Und dies, obwohl Frauen, wenn es um sexuelle Gewalt geht, bis heute die | |
Erfahrung machen, dass, was sie zu sagen haben, auf eine Weise gehört wird, | |
die nicht ihrer Wahrnehmung entspricht. Ihre Wahrnehmung kann jederzeit | |
infrage gestellt werden. „Bist du sicher, dass er es so gemeint hat und er | |
nicht nur im Gedränge an dich kam?“ | |
## Die Position der Opfer bleibt ein blinder Fleck | |
Bisher wird die Tatnacht in Köln vorwiegend aus der Perspektive der Täter | |
dargestellt und beurteilt. Vermutlich waren es zu hundert Prozent Männer: | |
Sie zündeten Böller, sie warfen Raketen in die Menge, sie schossen mit | |
Leuchtkugeln auf Menschen, sie soffen, sie umzingelten Frauen, sie fassten | |
sie an, sie beraubten sie, sie vergewaltigten. Mit ihnen beschäftigt man | |
sich seitens der Justiz, der Polizei und der Medien. Was heißt das im | |
Umkehrschluss? Die Position der Opfer – vorwiegend Frauen – bleibt, wie | |
oft, blinder Fleck. Es gibt keine Abbildungen, keine Videos; in den ersten | |
Statements der Polizei wusste diese von nichts. | |
Ist, was nicht zu zeigen ist, auch nicht passiert? Wer sich die Filme aus | |
der Silvesternacht anschaut, sieht Männer, die Feuerwerkskörper als Waffen | |
gegen Menschen benutzen. Die Waffen, die sie gegen Frauen nutzten, sind | |
nicht als solche zu erkennen: Die Waffe waren die Männer selbst. Das gilt | |
es, festzuhalten: Es gibt sichtbare Gewaltexzesse und es gibt unsichtbare. | |
Die unsichtbaren haben etwas mit sexueller oder sexualisierter Gewalt zu | |
tun. | |
Insofern ist es ein Quantensprung, der derzeit deutlich wird: denn immerhin | |
wird die sexuelle Gewalt benannt. Warum? Weil sie mit einer möglichen | |
Herkunft der Täter verknüpft wird. Diese Verknüpfung hinterlässt einen | |
schalen Geschmack, da sie berechtigt und unberechtigt zugleich ist. | |
Berechtigt: weil es kein Verbot geben darf, die Herkunft der Täter zu | |
benennen. Unberechtigt: weil der Blick ausschließlich auf die Herkunft der | |
nichtdeutschen Täter fällt. | |
An dieser Stelle ein Einschub: Ich sage „sexuelle“ oder „sexualisierte“ | |
Gewalt. In den Berichten und Kommentaren wird dagegen meist von | |
Belästigung, von Nötigung, von Anmache, von Umzingelung, von Begrabschen, | |
von Anfassen, von Ablenken, von Bedrohung gesprochen. Immerhin: Bedrohen | |
ist schon nah an Gewalt – nur noch nicht ausgeübte. | |
In den Berichten wird immer wieder erwähnt, dass die Täter am Kölner | |
Bahnhof sexuelle Gewalt als Mittel einsetzten, um die Frauen zu bestehlen. | |
Sie sollten abgelenkt werden, ihre Aufmerksamkeit sollte auf ihren Körper, | |
nicht auf ihre Tasche, ihren materiellen Besitz, konzentriert sein. Die | |
sexuelle Gewalt, die eingesetzt wurde, wird zur Ablenkung – und damit im | |
Grunde bedeutungslos. Nicht wahrgenommen wird, dass, wer die Brüste der | |
Frauen gegen ihren Willen anfasst, wer seinen Finger in ihre Haut bohrt, | |
wer ihnen in den Hintern kneift, sie auf eine zweite Art bestehlen will: Er | |
will ihnen ihre Würde rauben. | |
Einmal wollte ich nachts die Haustür aufschließen, als ein Mann wie aus dem | |
Nichts hinter mir auftauchte. Er streckte seine Hand vor mich, die in einem | |
schwarzen Handschuh mit metallenen Stacheln an den Fingerspitzen steckte: | |
„Soll ich deine Möse kraulen?“, raunte er. In Panik schaffte ich es noch | |
irgendwie in den Flur, stemmte mich gegen die Tür. Dort konnte ich mich | |
nicht mehr vom Fleck bewegen, so zitterte ich. Ich fühlte mich versehrt, | |
beraubt. Aber sowohl Raub als auch Verletzung waren nicht sichtbar. | |
(Natürlich hab ich ihn nicht angezeigt. Wen? Das Phantom?) – Halt, stopp, | |
individuelle Erlebnisse zu benennen gilt als Ablenkung. Als ginge es dann | |
nicht mehr um die Sache, sondern um mich. In einer Erhebung der | |
Europäischen Union von 2014 geben 55 Prozent der Frauen an, sexuelle | |
„Belästigung“ erlebt zu haben. Und die Dunkelziffer? 30-60-370+. | |
Sexuelle Gewalt ist Diebstahl, nein Raub. Raub, weil Täter und Opfer in | |
einer gefährlichen Konfrontation sind. (Bei Diebstahl, vor allem dem, der | |
erst später bemerkt wird, bezahlt noch nicht einmal die Versicherung.) | |
## Eine Demonstration von Macht | |
Sexuelle Gewalt ist zudem eine Demonstration von Macht. Bekannt ist, dass | |
sie hierzulande in allen Milieus vorkommt, vom Außenseitermilieu bis zur | |
Elite. Als bisher unbekannt dagegen gilt nun laut Polizeibericht die | |
Gruppenbildung der Täter; dass diese in Gruppen die Frauen umzingelten und | |
ihnen sexuelle Gewalt antaten. Unbekannt sei auch gewesen, dass diese | |
sexualisierte Gruppengewalt in aller Öffentlichkeit geschehen könne. Oder | |
müsste ich sagen: Es war nur vergessen, dass so etwas möglich ist? Denn es | |
gibt eine Parallele, die im historischen Gedächtnis gespeichert sein | |
müsste: Vergewaltigung im Krieg. | |
Vergewaltigung im Krieg ist ein Mittel, dem Gegner seine Überlegenheit zu | |
demonstrieren. Die Frauen sollen entwürdigt werden. So soll über den Umweg | |
der Frauen dem Gegner die Würde genommen werden. Auf dem Bahnhofsplatz | |
verhielten sich Täter, als wären sie im Krieg. Sie schossen mit | |
Leuchtkugeln auf Menschen, ihre Körperhaltungen diejenigen erfahrener | |
Kämpfer. Das zumindest geben die Videos her. | |
Die Silvesternacht in Köln zeigt: Die Würde der Frauen ist antastbar. | |
Warum? Weil sie es nie nicht war. Trotz aller positiven Entwicklungen der | |
letzten Jahre; trotz Männern, die wissen, dass sie – vor allem nachts – | |
Abstand halten sollen zu Frauen, die allein unterwegs sind; trotz Männern, | |
die bereit sind, Frauen zu helfen, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind; | |
trotz der öffentlichen Thematisierung von Vergewaltigung und Missbrauch. | |
## Sie wollen es nicht wahrnehmen | |
Aber da gibt es auch dieses Andere, und es wiegt schwer: Im ersten Reflex | |
wollte die Kölner Polizei nicht wahrnehmen, was sich wirklich am Bahnhof | |
abspielte. Fast wäre sie damit durchgekommen, weil die Würde der Frau in | |
unser Gesellschaft nur vom Kopf her benannt wird, aber nicht vom Gefühl, | |
vom Mitgefühl, vom Herzen. Sonst gäbe es nicht die juristischen Windungen, | |
mit denen die Asylanerkennung bei geschlechtsspezifischen Fluchtgründen | |
erschwert wird. | |
Sonst würden Opfer in Vergewaltigungsprozessen nicht bis heute oft | |
gedemütigt. Sonst wäre nicht die Frau angezeigt worden, die auf dem | |
Oktoberfest 2015 dem Mann, der sexuelle Gewalt ausübte, im Reflex den | |
Bierkrug gegen den Kopf haute, sondern er. | |
Die Täter, die rund um den Kölner Bahnhof Frauen sexuelle Gewalt angetan | |
haben, werden für diese Taten vermutlich ebenfalls nicht zur Verantwortung | |
gezogen werden. Es knallte, es war dunkel, es floss Alkohol: Jede | |
Verteidigung der Welt wird es leicht haben, mögliche Täter da rauszuhauen. | |
Die Zeuginnen haben keine Fotos, keine Beweise. Im Klartext: Als Zeuginnen | |
sind die Frauen nicht glaubwürdig. | |
Dass Frauen so behandelt werden können, geht alle an. 30-60-370+. | |
* Anmerkung der Redaktion: Zahl der Anzeigen laut Angaben der Polizei bis | |
Samstagabend, 9. Januar 2016. | |
9 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
## TAGS | |
Sexuelle Gewalt | |
Köln | |
Opfer | |
Sexuelle Gewalt | |
Schwerpunkt Flucht | |
Sexuelle Gewalt | |
Köln | |
Köln | |
Köln | |
Sexuelle Gewalt | |
Köln | |
Vergewaltigung | |
Sexismusdebatte | |
Rape Culture | |
Sexuelle Gewalt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Zahlen zur sexuellen Gewalt: Die Sache mit der Statistik | |
Hunderte? Tausende? Oder doch einfach nur viele? Wie gut lässt sich | |
sexuelle Gewalt in Zahlen fassen? Ein Faktencheck. | |
Aufklärungskurse für neu Angekommene: Dem Kulturschock offensiv begegnen | |
Frauen sind gleichberechtigt und Sex muss nicht „haram“ sein. Damit das | |
alle verstehen, müssen Aufklärungskurse her. | |
Sexuelle Gewalt auf dem Oktoberfest: „Der Blick muss sich verändern“ | |
Kristina Gottlöber von „Sichere Wiesn“ über alltäglichen Sexismus, die | |
Dunkelziffer sexueller Übergriffe und Präventionsmaßnahmen. | |
Silvesternacht, Gewalt und Migration: Kölner Nächte sind lang | |
Das Postulat doppelter Integration: Freiheit, ohne die Freiheit anderer | |
einzuschränken. Ein Beitrag zur aktuellen Debatte. | |
Offener Brief an Angela Merkel: „Wir sind gute Menschen“ | |
Die Verfasser des offenen Briefes äußern sich zu den Übergriffen in Köln | |
und anderen Städten. Die Flüchtlinge sammeln Unterschriften. | |
Nach der Silvesternacht in Köln: De Maizière will rasche Konsequenzen | |
Schneller abschieben, mehr Videoüberwachung: Die Bundesregierung plant, die | |
Gangart gegen kriminelle Asylbewerber zu verschärfen. | |
Der muslimische Mann: Legende vom triebhaften Orientalen | |
In der Debatte über die Silvesternacht in Köln trüben antimuslimische | |
Ressentiments den Blick auf ein globales Problem. | |
Polizeibericht zu Übergriffen in Köln: „Chaotisch und beschämend“ | |
Der interne Bericht eines Polizeibeamten offenbart die Überforderung der | |
Polizei. Auch die Aggressivität der Täter wird beschrieben. | |
Verschärfung des Strafrechts: Besserer Schutz vor Vergewaltigung | |
Das Kanzleramt gibt grünes Licht für eine Verschärfung des | |
Vergewaltigungsparagrafen. Vorher hatte es diese monatelang blockiert. | |
Gewalt gegen Frauen: Willkommen in der Hölle, Ladys | |
Seit der Kölner Silvesternacht wird einer sexismusfreien Zeit | |
hinterhergetrauert. Die hat es in Deutschland nie gegeben. | |
Schuldzuweisungen bei Übergriffen: #EineArmlänge zu unnütz | |
Kölns OB Henriette Reker rät Frauen, Abstand zu halten. Das verschiebt die | |
Schuldfrage. Im Netz erntet sie dafür viel Häme. | |
Kommentar Übergriffe in Köln: Ein Täter ist ein Täter ist ein Täter | |
Sexuelle Gewalt ist an keine Ethnie gebunden. Wer anderes behauptet, ist | |
nicht nur rassistisch, sondern auch frauenverachtend. |