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# taz.de -- Silvesternacht, Gewalt und Migration: Kölner Nächte sind lang
> Das Postulat doppelter Integration: Freiheit, ohne die Freiheit anderer
> einzuschränken. Ein Beitrag zur aktuellen Debatte.
Bild: „All diesen potenziellen Gewalttätern muss der Staat Einhalt gebieten.…
Es war an einem Juliabend 1983, als im New Yorker Central Park die Hölle
losbrach. Diana Ross hatte gerade ihren Schlussgesang „All for one, and one
for all“ gehaucht, gut gelaunt strebten 400.000 Besucher des legendären
Open-Air-Konzerts den umliegenden Restaurants und U-Bahn-Stationen zu, da
wurden sie von Dutzenden Jugendlicher angefallen und ausgeraubt.
Der Spuk war bald vorbei, es gab ein paar Verhaftungen und Verurteilungen,
man spekulierte über Gangster aus der Bronx und Spanish Harlem. In großen
Städten passiere so was, meinte man damals, aber dass 800 Polizisten nichts
unternehmen konnten, verwunderte doch. Verwunderlich war auch, dass solche
Raubzüge im Verlauf der Fifth Avenue, wo Multimilliardäre einen Steinwurf
von den Ärmsten der Armen leben, nicht häufiger zu registrieren sind. New
York ging damals zur Tagesordnung über, wie so oft.
In Köln ist es noch nicht soweit. Es fällt offenbar schwer, zu den
Vorgängen in der Silvesternacht eine nichtprojektive, der Aufklärung und
Prävention dienliche Position zu entwickeln. Feministinnen begleichen
offene Rechnungen mit dem Islam und dem Patriarchat, dogmatische
Multikulturalisten riechen wie üblich Rassismus und Stigmatisierung,
Populisten finden ihre Vorurteile über die politisch korrekte Presse
bestätigt und die Stunde gekommen, die Aufnahme von Flüchtlingen zu
revidieren.
Doch weder hat die Silvesternacht die Willkommenskultur kompromittiert noch
ist ausgeschlossen, dass Menschen, die Rassismus erfahren haben und durch
Flucht und Migration traumatisiert sind, selbst einen misogynen oder
antideutschen Rassismus pflegen. Noch kann man sie mit all jenen über einen
Kamm scheren, die in arabisch-islamischem Ambiente von Kindes Beinen an
einer Mischung aus Patriarchat (draußen) und Matriarchat (zu Hause)
unterworfen waren und durch Migration versuchen, sich davon endlich zu
lösen.
Es irritiert vor allem, dass sich auch Vertreter der Exekutive in
Forderungen nach „mehr Staat“ überbieten. Der Staat muss im Besonderen den
Ansprüchen der weiblichen Opfer auf Aufklärung und Bestrafung der Täter
Genüge tun und im Allgemeinen glaubwürdig demonstrieren, dass jeder
bestraft wird, der Gewalt gegen wen auch immer anwendet.
## Unterstellung von Rechtspopulisten
Der Ruf nach „schärferen Gesetzen“ ignoriert, dass Polizei und Justiz nicht
nur in Köln die allergrößten Schwierigkeiten unter Beweis gestellt haben,
die bestehenden Strafgesetze anzuwenden. Neue Verschärfungen zu fordern,
ist hier nur Futter für die Unterstellung von Rechtspopulisten, der
liberale Staat könne sein Gewaltmonopol nicht durchsetzen, nur noch eine
starke Hand werde dazu fähig sein.
In Köln haben binnen weniger Monate ganz verschiedene Akteure der Polizei
auf der Nase herumtanzen können: Im Oktober fand der Showdown zwischen
Hooligans und Salafisten statt, nun erlebte man die Zusammenrottung
männlicher Migranten(kinder) am Domplatz. Das ist nicht alles: Auch in der
Domstadt entziehen Familienclans aus dem arabischen Raum und vom Balkan
ihre Kinder der Schulpflicht, lassen ihnen kriminelle Aktivitäten
durchgehen oder animieren sie dazu. Auch gibt es eine Paralleljustiz unter
dem Deckmantel der Scharia.
Das kann keine Staatsmacht hinnehmen, die diesen Namen verdient.
Erschwerend kommt hinzu, dass es auch an Rhein und Ruhr islamistische
Schläfer gibt, die Terroranschläge vorbereiten. Des Weiteren plustern sich
Nazis mit der Behauptung auf, in NRW „befreite Zonen“ erobert zu haben, wo
Fremde, Antifaschisten, Flüchtlingsunterstützer, Journalisten oder
Bürgermeister Angst um ihr Leben haben sollen. Die Rede ist von No-go-Areas
für die Polizei.
## Dutzende untergetauchter Rechtsterroristen
Alarmierend ist auch, dass seit dem NSU-Debakel von Dutzenden
untergetauchter Rechtsterroristen die Rede ist. Gewalttäter aus der
militanten Antifa, die rechtsradikale Aufmärsche zum Anlass für Scharmützel
mit der Polizei nehmen, kann man als Kollateralerscheinung noch anfügen.
All diesen (potenziellen) Gewalttätern muss der Staat Einhalt gebieten. Und
wenn die Polizei diesem Auftrag in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht
nachkommen kann, weil ihr Personal oder Strategie fehlt, muss sie gestärkt
werden. Das betrifft nicht allein die Strafverfolgung, sondern auch
präventive Arbeit, um potenziellen Tätern „auf den Füßen zu stehen“ und…
demonstrieren, dass man sie im Auge hat.
Wer damit Schwierigkeiten hat, muss sich fragen lassen, warum: weil das
staatliche Gewaltmonopol, das Gewalt ja immer nur als Ultima Ratio vorhält,
grundsätzlich oder aus einem „linken“ Bauchgefühl heraus bestritten wird,
oder weil es – so eine alte Debatte der Rechtspolitik – nicht für sich
steht, sondern stets eingebettet sein muss in alternative Formen
gesellschaftlicher Konfliktaustragung, letztlich also in außerrechtliche
kommunikative Verständigung.
## Gewaltmonopol nur formal zu begründbar
Letzteres verlangt das Postulat doppelter Integration den Einwanderern und
Flüchtlingen genauso wie den Ansässigen ab – beide sollen sich immer neu
auf Normen und Werte verständigen. Also letztlich darüber, wie kulturelle,
ethnische und nicht zuletzt religiöse Freiheit gelebt werden kann, ohne die
Freiheit anderer einzuschränken. Das beschreibt den normativen Horizont
europäischer Staatlichkeit, die dabei auf die inhaltliche Definition von
„gemeinsamen Werten“ verzichtet. Denn ein Gewaltmonopol ist immer nur
formal zu begründen.
Ein in dieser Hinsicht wertneutrales Gewaltmonopol setzt nicht mehr (aber
auch nicht weniger) als eine Gewaltgrenze, wo immer jemand Privatjustiz
gegen unliebsame Mitbürger ausübt, andere mit Gewalt überzieht oder dazu
aufhetzt, Gewaltakte auszuüben. Dabei ist völlig gleichgültig, woher jemand
stammt, an welchen Gott einer glaubt, ob es sich um Männer oder Frauen
handelt.
Relevant werden diese Faktoren, wo man sich in der Tat präventive Gedanken
machen muss, wenn eine Häufung von Straftätern in einem bestimmten Milieu,
in einer Szene oder Region festgestellt wird, wo also der
Gesellschaftsvertrag nicht funktioniert. Dazu trägt eine reaktionäre, der
Stammes- und Familienehre dienende Religionspraxis ebenso bei wie eine
rechtspopulistische Heimatschutzgesinnung.
## Risikogruppen soziologisch exakt benennen
Bei den nun ins Visier genommenen „Nordafrikanern“ (gemeint sind Algerier,
Marokkaner, Tunesier) ist durchaus von Interesse, welche Rolle mitgebrachte
oder hier entwickelte misogyne Haltungen spielen. Aber auch, welche
Erfahrungen sie mit Diskriminierung und Chancenlosigkeit machen. Gerade wer
solche Menschen sozialpädagogisch betreuen will, muss Risikogruppen
soziologisch exakt benennen – was etwas ganz anderes ist als racial
profiling oder Generalverdacht.
Die französische Sozialpolitik hat in den Vorstädten über Jahrzehnte einen
farbenblinden Ansatz verfolgt, der republikanisch korrekt war, aber an der
Lebenswelt vorbeigegangen ist. Und schon mehrere lost generations
hinterlassen hat.
Jugendbanden sind immer besonders hervorgetreten, wo sich in Stadträumen
Devianz, widerständiges Verhalten und Kriminalität eng verwoben haben. Der
Sozialgeograf Louis Chevalier sprach von „gefährlichen Klassen“. Das
mündete häufig in Territorialkonflikte um Stadtteile und öffentliche
Plätze, wobei sich die einstige Rechts-links-Polarisierung in
Einwanderungsgesellschaften ethnisch oder religiös politisiert.
Was nordafrikanische Jugendliche übers Mittelmeer getrieben hat, ist uns
jahrzehntelang gleichgültig gewesen. Doch wer weltweit wachsende
Ungleichheit zulässt, kündigt den Gesellschaftsvertrag von oben und bekommt
die Quittung in sozialer Anomie. Von Diana Ross’ „Alle für einen, einer f�…
alle“ sind wir weit entfernt.
13 Jan 2016
## AUTOREN
Claus Leggewie
## TAGS
Köln
Silvester
Integration
Claus Leggewie
Schwerpunkt Rassismus
Köln
Kriminalität
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Sexuelle Gewalt
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