# taz.de -- Der muslimische Mann: Legende vom triebhaften Orientalen | |
> In der Debatte über die Silvesternacht in Köln trüben antimuslimische | |
> Ressentiments den Blick auf ein globales Problem. | |
Bild: Der Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofes am Silvesterabend. | |
Plötzlich leben wir in einem Land, in dem man sich ständig Sorgen um die | |
Sicherheit und Würde von Frauen macht. Aber nicht etwa, weil eine EU-Studie | |
zu dem Ergebnis kommt, dass jede dritte Frau in Deutschland bereits | |
sexuelle oder körperliche Gewalt erlebt hat. Es geht auch nicht um das | |
häufig sexistische und frauenverachtende Rollenbild, das auf Werbeplakaten, | |
Zeitschriftencovern, in Musikvideos und Hollywoodfilmen verbreitet wird. | |
Daran haben wir uns längst gewöhnt. | |
Es geht darum, dass die deutsche Frau vom muslimischen Mann bedroht wird. | |
Deswegen diskutieren wir jetzt nicht über sexuelle Gewalt gegen Frauen, wie | |
es dringend geboten wäre. Wir diskutieren über den muslimischen Mann. Eine | |
„Horde“ von 1.000 arabischen und nordafrikanischen Männern, ein „Sex-Mob… | |
so die Bild-Zeitung, sei in der Silvesternacht in Köln über deutsche Frauen | |
hergefallen. 1.000 Täter, das ist eine Märchenzahl. Zumal noch immer | |
ungeklärt ist, wie viele Männer sich tatsächlich rund um den Hauptbahnhof | |
aufhielten. Und wie viele davon Täter waren. | |
Doch die Debatte wird ohnehin vor allem von Stereotypen bestimmt, die jetzt | |
aktiviert werden: Von 1001 Nacht, vom Orient, der schon seit jeher als | |
Projektionsfläche für sexuelle Ausschweifungen dient. Der fremde Barbar, | |
der die unschuldige weiße Frau bedrängt, das ist ein klassisches, ein | |
uraltes Stereotyp. | |
Bislang aber gibt es keine Belege dafür, dass es zu einer Zunahme sexueller | |
Belästigungen durch Migranten oder Flüchtlinge gekommen ist. So gab das BKA | |
im Oktober 2015 bekannt, dass Flüchtlinge nicht häufiger straffällig werden | |
als der Durchschnittsbürger. Der Anteil der Sexualdelikte an den von ihnen | |
begangenen Straftaten liege bei „unter einem Prozent“. Diesen Zahlen stehen | |
nun die Kölner Ausschreitungen gegenüber – sie passen zu gut in das | |
Klischee des muslimischen Mannes, der seine Triebe nicht beherrschen kann. | |
Natürlich muss man fragen dürfen, ob das Frauenbild in Teilen der | |
sogenannten islamischen Welt ein problematisches Verhalten Frauen gegenüber | |
begünstigt. Doch rechtspopulistischen Stimmungsmachern, die nun meinen, | |
einen Kulturkampf heraufbeschwören zu müssen, kann man entgegnen, dass der | |
Islam Partner statt Problem sein sollte im Kampf gegen eine | |
frauenverachtende Mentalität. Die Täter von Köln, sie dürften sich nicht | |
wirklich um die Gebote des Korans scheren. Das Alkoholverbot des Korans | |
jedenfalls haben sie ignoriert. | |
## Ein krasses Gegenbild | |
Seit jeher gehört es zum antimuslimischen Ressentiment, die muslimische | |
Sexualität als krasses Gegenbild zur westlichen zu konstruieren. Was mehr | |
über den Westen sagt als über den Islam: Solange in Deutschland noch eine | |
prüde, christlich geprägte Sexualmoral herrschte, wurde diese als Garant | |
für Fortschritt und Zivilisation und in Abgrenzung zur „dekadenten“ | |
muslimischen Sexualmoral idealisiert. Gleichzeitig war der Orient eine | |
Projektionsfläche für Fantasien: ein Ort ungehemmter Haremserotik. Der | |
Islam, eine unzivilisierte Religion der erotischen Libertinage. Doch durch | |
die sexuelle Revolution in den 1960er-Jahren änderte sich das Bild. | |
Plötzlich wurde in Deutschland eine selbstbestimmte und freie Sexualität | |
propagiert. Nun galt der Islam als rigide, lust- und körperfeindlich. Das | |
Bild, das damals wie heute vom Islam gezeichnet wird, sagt mehr darüber | |
aus, wie wir uns selbst sehen möchten, als über die vielfältige sogenannte | |
islamische Welt. | |
„Was ist der Geist von Europa? Auf jeden Fall gehört zu ihm die Hochachtung | |
der Frau – ein großer Unterschied zur arabischen Tradition. Und das müssen | |
die Flüchtlinge akzeptieren“, heißt es in der Welt. Die Überlegenheit der | |
europäischen Kultur gründe auf der Tatsache, dass die „Europäer | |
Maskulinität in Schach zu halten wussten“. | |
Der Europäer als edler Kavalier, der Muslim als unzivilisierter Barbar, der | |
Frauen unterdrückt. Angesichts fanatischer Islamisten mag eine derartig | |
bipolare Sicht nahe legen. Doch gerade die simplifizierende Aufteilung der | |
Welt in Gut und Böse ist es, die ein fundamentalistisches Weltbild | |
ausmacht. | |
Sicher kann nicht geleugnet werden, dass es autoritäre Staaten in islamisch | |
geprägten Teilen der Welt gibt, in denen Frauen strukturell diskriminiert | |
werden. Körperliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen ist jedoch weltweit | |
derart verbreitet, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von einem | |
„epidemischen Ausmaß“ spricht. Sie kommt in allen Ländern und in allen | |
Schichten vor. Ob wir an die Vergewaltigungsskandale im hinduistischen | |
Indien denken oder eben an häusliche und sexuelle Gewalt in Deutschland: | |
Gewalt gegen Frauen und Sexismus bleiben globale Massenphänomene, die in | |
allen Schichten vorkommen. | |
## Der geistige Humus | |
Dennoch ist der öffentliche Diskurs davon geprägt, Diskriminierung von | |
Frauen zu einem Spezifikum des Islam zu erklären. Die Religion sei es, die | |
den geistigen Humus für eine patriarchale Mentalität bilde. Dabei gibt es | |
einen Unterschied zwischen patriarchalen Kulturpraktiken, wie sie gerade in | |
ländlichen Regionen tatsächlich verbreitet sind und der islamischen | |
Religion, die mitunter dazu benutzt wird, solche Praktiken zu legitimieren. | |
Wenn es nun heißt, muslimische Männer würden dazu erzogen, Frauen wie | |
Freiwild zu behandeln, wenn sie sich nicht verschleiern, muss man aber auch | |
sehen, dass solche Männer auch nicht davor zurückschrecken, | |
kopftuchtragende Frauen zu belästigen. Muslimische Frauenrechtlerinnen, | |
darunter zwei Friedensnobelpreisträgerinnen, plädieren dafür, die Lehre des | |
Islam als Mittel im Kampf gegen patriarchale Strukturen einzusetzen, da der | |
Koran frauenverachtende Praktiken, die kulturell weiterhin verbreitetet | |
sind, kritisiert. Die beiden Nobelpreisträgerinnen tragen ein Kopftuch. Für | |
die deutsche Feministin Alice Schwarzer hingegen steht eben dieses Stück | |
Stoff für einen Sexismus, den die Täter der Kölner Silvesterausschreitungen | |
nach Deutschland importieren. | |
Doch die Vorstellung, Frauen müssten sich verschleiern, weil der | |
muslimische Mann sich nicht kontrollieren könne, verkennt, dass der Koran | |
religiöse Grundwerte formuliert, die für Männer und Frauen gleichermaßen | |
gelten. Dazu gehört nicht nur das Alkoholverbot, sondern auch die | |
Aufforderung, dem anderen Geschlecht mit Respekt zu begegnen und Treue zum | |
Partner als Wert zu leben. | |
## Die Überwindung des Egos | |
Für beide Geschlechter gilt die Philosophie, die den Islam im Kern | |
ausmacht: die Überwindung des Egos. Dazu gehört, leidenschaftliche Triebe | |
mit der Vernunft zu steuern, um moralische Eigenschaften zu entwickeln. Der | |
oft missbrauchte Begriff „Dschihad“ meint ursprünglich diesen Kampf des | |
Menschen gegen sein Ego, gegen niedere Leidenschaften. Passt zu diesem | |
islamischen Menschenbild das Narrativ vom triebgesteuerten muslimischen | |
Mann? Nicht wirklich. | |
Er wird jedoch gebraucht, um den westlichen Mann trotz durchsexualisierter | |
Massenkultur als besonders zivilisiert und aufgeklärt darstellen zu können. | |
Indem dem Fremden Rückständigkeit und Primitivität attestiert wird, gelingt | |
es, sich selbst in Abgrenzung dazu als höherwertig definieren zu können. | |
Patriarchale Gewalt und Sexismus? Darum brauchen wir uns dann in unseren | |
Reihen nicht mehr zu kümmern. Das Problem wird ausgelagert und auf den | |
muslimischen Mann projiziert. Mit seiner Dämonisierung geht die | |
Idealisierung der deutschen Mehrheitsgesellschaft einher, die das Projekt | |
der Geschlechtergerechtigkeit vermeintlich erfolgreich umgesetzt zu haben | |
scheint. | |
Hinter der Empörung über muslimischen Sexismus versteckt sich nicht selten | |
ein antimuslimischer Rassismus, der an emanzipative Diskurse anknüpft, um | |
den dahinterliegenden plumpen Rechtspopulismus zu verschleiern. Stutzig | |
machen sollte die Tatsache, dass sich im aktuellen Diskurs um den Kölner | |
Silvestermob nun ausgerechnet solche Stimmen den Kampf gegen das | |
Patriarchat an die Brust heften, die bisher eher mit antifeministischen | |
Positionen aufgefallen sind. Die neuen alten Ressentiments gegen den | |
muslimischen Mann sind vor allem Ausdruck eines Kulturchauvinismus, der den | |
Feminismus vereinnahmt, um vom eigenen Sexismus und Rassismus abzulenken. | |
10 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Khola Maryam Hübsch | |
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