# taz.de -- Debatte Obergrenze für Flüchtlinge: Moral muss nachhaltig sein | |
> Wird jetzt keine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen vereinbart, | |
> werden langfristig kaum noch Menschen zu uns kommen können. | |
Bild: Betten in holzverkleideten Kabinen im Wartezentrum Asyl in Erding (Bayern… | |
Es ist jetzt vernünftig und geboten, über Obergrenzen für die Aufnahme von | |
Flüchtlingen nachzudenken. Auch wer glaubt, dass Deutschland jährlich eine | |
Million Flüchtlinge integrieren kann, kann nicht ausschließen, dass 2016 | |
plötzlich 2,7 Millionen Menschen zu uns wollen – oder 3,4 Millionen. Gute | |
Gründe, die Heimat zu verlassen, gibt es in viel zu vielen Teilen der Welt. | |
Und in sehr vielen Fällen sind die Gründe auch asylrelevant, können also zu | |
einem Bleiberecht in Deutschland führen. | |
Zwar könnte man schon irgendwie die Lüneburger Heide, das Emsland und die | |
Uckermark mit Zeltstädten und Containern füllen. Deutschland will | |
schutzberechtigte Flüchtlinge aber nicht nur irgendwie verwalten und | |
durchfüttern (wie dies global eher üblich ist), sondern integrieren, das | |
heißt sprachlich, beruflich und sozial zum Bestandteil der Gesellschaft | |
werden lassen. Und eine so verstandene Aufnahmefähigkeit ist natürlich | |
niedriger als die rein organisatorische. | |
Das Grundgesetz steht solchen Obergrenzen nicht entgegen. Wer hier noch mit | |
dem deutschen Asylgrundrecht argumentiert, hat vergessen, dass CDU/CSU und | |
SPD dieses 1993 weitgehend abgeschafft haben. Es wurde in den Folgejahren | |
zwar durch ein eher großzügigeres europäisches Asylrecht ersetzt, | |
allerdings ist das EU-Recht nicht so gestrickt, dass jeder Flüchtling sich | |
den Staat seiner Zuflucht aussuchen kann. Formal gilt nämlich weiterhin die | |
Dublin-Verordnung. Ihr zufolge ist das Asylverfahren in der Regel dort | |
durchzuführen, wo der Flüchtling die EU betreten hat. | |
Deutschland pocht derzeit nicht allzu sehr auf die Dublin-Regeln, sondern | |
macht weitgehend von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch. Das heißt, die | |
Bundesregierung schickt asylberechtigte Flüchtlinge nicht weg, obwohl sie | |
das rechtlich könnte. Unter anderem mit dem Selbsteintrittsrecht kann die | |
Bundesregierung durchaus steuern, wie viele der Flüchtlinge, die nach | |
Europa kommen, dann tatsächlich von Deutschland aufgenommen werden. | |
Rechtlich ist sowohl ein großzügiger als auch ein restriktiver Kurs | |
möglich. | |
Kontingentlösungen, über die die Bundesregierung derzeit spricht, sind | |
zunächst etwas anderes als Obergrenzen. Kontingente haben den Vorteil, dass | |
Flüchtlinge von den Aufnahmestaaten direkt in konfliktnahen | |
Flüchtlingslagern abgeholt werden. Es ist also keine lebensgefährliche | |
Reise erforderlich und die Flüchtlinge können sich auch das Geld für | |
Schlepper sparen. Kontingente könnten sich zudem auf die | |
schutzbedürftigsten Flüchtlinge konzentrieren. Problematisch ist aber, dass | |
bei der demokratischen Bestimmung von Kontingenten meist lächerlich geringe | |
Zahlen herauskommen, wie etwa in Großbritannien und den Vereinigten | |
Staaten. Die USA wollen nur 10.000 syrische Flüchtlinge aufnehmen - so | |
viele kommen nach Deutschland an einem Tag. | |
## Merkel würde am Ende einen Kompromiss vermitteln | |
Dies spricht dafür, in Deutschland eher eine Obergrenze auszuhandeln, die | |
von den derzeitigen Aufnahmezahlen ausgeht. Wenn heute eine Obergrenze | |
bestimmt würde, könnte die SPD eine Million Flüchtlinge pro Jahr | |
vorschlagen, die CSU würde nur 500.000 Flüchtlinge akzeptieren wollen und | |
Merkel würde am Ende den Kompromiss von jährlich 800.000 Flüchtlingen | |
vermitteln. Das wäre eine Zahl, für die sich – verglichen mit den anderen | |
demokratischen Staaten – niemand zu schämen bräuchte und die voriges Jahr | |
noch jeder als unvorstellbar bezeichnet hätte. | |
Was aber passiert, wenn mehr als die vereinbarten 800.000 Flüchtlinge nach | |
Deutschland kämen? Dann wären die anderen EU-Staaten mehr als heute in der | |
Pflicht, sich stärker zu engagieren. Sie könnten sich dann nicht mehr | |
darauf verlassen, dass die Bundesrepublik schon alle Bleibeberechtigten | |
aufnehmen wird. Sollte sich auch unter diesen veränderten Rahmenbedingungen | |
die europäische Solidarität nicht verbessern, müsste die EU an den | |
Außengrenzen oder in Konfliktnähe Wartelager einrichten, die gut versorgt | |
werden. Verboten ist laut Genfer Flüchtlingskonvention nur die | |
Zurückschiebung in den Verfolgerstaat. | |
Eine so gestaltete Obergrenze wäre für Deutschland zugleich eine | |
Selbstverpflichtung, dann tatsächlich so viele Flüchtlinge aufzunehmen. | |
Derzeit ist die Bereitschaft noch da, 800.000 Menschen jährlich zu | |
integrieren. Die Willkommenskultur und der Glaube an Merkels „Wir schaffen | |
das“ hat vor allem gelitten, weil es keine Antwort auf die Frage gab, ob | |
die Flüchtlingszahlen immer weiter steigen werden. | |
Falls aber auf eine Obergrenze verzichtet wird und die Flüchtlingszahlen | |
weiter steigen, wäre der gesellschaftliche Rechtsruck kaum aufzuhalten. | |
Sollte erst einmal die AfD in Sachsen regieren und sie im Bund 23 Prozent | |
erzielen, so würde wohl auch die dann dekretierte Obergrenze ganz anders | |
aussehen. Allenfalls würden dann noch 10.000 Christen aus dem Irak | |
aufgenommen. Wenn jetzt auf Obergrenzen verzichtet würde, brächte dies also | |
wohl nur einen recht kurzfristigen humanitären Vorteil. | |
23 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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