| # taz.de -- Im Jahr des Willkommens: Die neue deutsche Gelassenheit | |
| > Deutschland trotzte den Krisen 2015 mit „Wir schaffen das“. Die | |
| > Willkommenskultur kam in Zeiten außenpolitischer Lethargie überraschend. | |
| Bild: Die Lichterkette fand unter dem Motto „Lichtzeichen setzen“ statt und… | |
| Hört man sich ein wenig um, stellt sich derzeit wohl weniger die Frage nach | |
| dem „Wie wollen wir leben?“, als vielmehr nach dem „Mit wem?“. Die in | |
| diesem Jahr zu Hunderttausenden in Europa und Deutschland angelangten | |
| Flüchtlinge, stellen die europäischen Staaten und ihre Bürgerinnen und | |
| Bürger vor Herausforderungen, wie sie sie zuletzt bei den Epochenbrüchen | |
| von 1945 (Befreiung vom Faschismus) und 1989 (Befreiung von der | |
| Sowjetdiktatur) erlebt hatten. Und die Europäer reagieren darauf sehr | |
| unterschiedlich. Kleinkariert und rassistisch wie die Regierungen der | |
| jungen EU-Mitgliedstaaten Ungarn und Polen, solidarisch und mitfühlend wie | |
| die Schwedens oder der Bundesrepublik Deutschland. | |
| Die Menschen südlich des Mittelmeers fliehen zu Millionen aus von | |
| Bürgerkriegen verheerten Staaten und vor ökonomisch unfähigen, korrupten | |
| Regimen. Spitzenreiter des Grauens ist aktuell Syriens Assad, ein | |
| Völkermörder der Hunderttausende seiner Landsleute auf dem Gewissen hat und | |
| im eigenen Land eine Politik der verbrannten Erde betreibt. Millionen Syrer | |
| befinden sich im In- oder Ausland auf der Flucht. Die Flüchtlingslager in | |
| Jordanien, im Libanon oder in der Türkei sind überfüllt, die Hilfen dort | |
| oft mangelhaft, arbeiten dürfen die Flüchtlinge zumeist nicht. | |
| Kein Wunder, dass sich in diesem Jahr Hunderttausende | |
| Bürgerkriegsflüchtlinge in Richtung westeuropäischer Wohlfahrtsstaaten in | |
| Bewegung setzten. Die überraschten Mitteleuropäer sahen sich in diesem | |
| Sommer einer wahren Völkerwanderung gegenüber, Tausende zu Fuß, in | |
| überfüllten Zügen, Kinder ohne Eltern. Bis zur Ankunft der | |
| Flüchtlingsmassen regierte oft ein abstrakt schlechtes Gewissen, ob der an | |
| den EU-Außengrenzen angeschwemmten Leichen im Mittelmeer. | |
| Die oberste Maxime der deutschen Außenpolitik lautete, sich in Syrien bloß | |
| nicht einzumischen. Auch wenn man wusste, was die russische und iranische | |
| Hilfe für Assad bedeutete. Man scheint den Konflikt mit diesen Mächten zu | |
| scheuen. Ganze Gebiete sind inzwischen entvölkert, ethnisch gesäubert. | |
| Erst beim verzweifelten Kampf der Kurden um Kobani gegen den IS horchte die | |
| Welt auf. Und sogar die Deutschen begannen Waffen zu liefern. Die | |
| Gemäßigten unter den Aufständischen sind dennoch seit vier Kriegsjahren | |
| weitgehend auf sich allein gestellt. Den Luftraum über Syrien für Assads | |
| Luftwaffe zu sperren, dazu konnten sich weder UNO noch Nato durchringen. | |
| Die Zivilbevölkerung tut das Einzige, was sie in einer solchen Situation | |
| tun kann: Sie kämpft gegen das Regime oder flüchtet. Es geht ums nackte | |
| Überleben. Regierungssoldaten, die sich weigern, auf Zivilisten zu | |
| schießen, lässt das Regime foltern und hinrichten. Und die von | |
| Aufständischen gehaltenen Gebiete werden aus der Luft so lange bombardiert, | |
| bis am Boden nicht mehr viel übrig ist. Danach dringen die aus dem Ausland | |
| geförderten Islamistengruppen in die Regionen ein, um wie der IS ihre | |
| Besatzungsregime zu errichten. Die Islamisten sind „die nützlichen | |
| Idioten“, die Assad braucht, um aus einen demokratischen Aufstand einen | |
| Religionskonflikt zu machen. | |
| ## Herzlich und offen | |
| Entgegen der außenpolitischen Lethargie entwickelte sich in Deutschland | |
| (zumindest im Westen) im Sommer eine ganz Europa überraschende | |
| „Willkommenskultur“. Tausende freiwillige Helfer nahmen Flüchtlinge offen | |
| und herzlich in Empfang, verteilten Getränke und Decken, dort, wo die | |
| Behörden sich überfordert zeigten. Die berühmt gewordenen Worte der | |
| Kanzlerin „Wir schaffen das“ konterkarieren das bis dato existierende | |
| Klischee von den neid- und wohlstandsfixierten „hässlichen Deutschen“. | |
| Auch wenn dies aggressive Nationalisten wie bei den Pegida-Versammlungen in | |
| Dresden schmerzt: Der Wind hat seit den 1990er Jahren in Deutschland | |
| gedreht. Globalisierung und offene Gesellschaft sind eine von der Mehrheit | |
| und allen im Bundestag vertretenen Parteien anerkannte Realität. | |
| Diejenigen, die das auf der traditionalistischen Rechten anders sehen, | |
| erinnern ein wenig an die linke KPD im Westen in den 1950er Jahren: noch | |
| nicht verboten, aber von der historischen Entwicklung schon überholt. | |
| Dennoch droht weiterhin eine Terrorgefahr durch völkische Nationalisten | |
| (NSU), vor allen aber durch international agierende Gruppen des | |
| Islamofaschismus. So gegensätzlich beide zu sein scheinen, gedeihen sie im | |
| größeren Maßstab dort, wo sie staatlich ideologische Deckung erhalten und | |
| man sie im Praktischen gewähren lässt. | |
| Deutschlands Politik und Justiz dürfte heute die Defizite erkannt haben, | |
| die ab den 1990er Jahren und im Rausch des deutschen Einheitsnationalismus | |
| die Herausbildung des Terrornetzwerks NSU begünstigten. Und auch wenn die | |
| derzeitige braune Anschlagswelle beängstigend wirkt, im Gegensatz zu den | |
| 1990ern Jahren (Hoyerswerda, Rostock, Mölln) beziehen Bevölkerung und | |
| Politik heute zumeist eindeutig dagegen Position. | |
| ## Harte Haltung gegen fundamentalistische Prediger | |
| Beim Islamofaschismus sieht es hingegen schlecht aus. Er reproduziert sich | |
| über die von Islamisten gehaltenen Territorien in zerstörten Staaten wie | |
| Syrien, Irak, Libyen, Somalia, Jemen, Teilen Afghanistans oder Pakistans. | |
| Er baut zudem ideologisch auf die hetzerischen Strukturen von Diktaturen in | |
| der islamischen Welt auf und profitiert von der religiösen Intoleranz in | |
| der Region. | |
| Mit fatalen Folgen, wie man sie in Frankreich bei den Attentaten gegen | |
| Charlie Hebdo im Januar und nun am 13. 11. zu spüren bekam. Wo | |
| fundamentalistische Prediger und simpel denkende Unzufriedene sich | |
| zusammenfinden und mit global agierenden Kriegsökonomien kurzschließen, | |
| besteht allerhöchste Terrorgefahr. | |
| Doch was folgt daraus? Bestimmt kein Generalverdacht gegen Flüchtlinge | |
| muslimischer Herkunft. Eine unvoreingenommene und freundliche | |
| Willkommenskultur schließt aber durchaus eine harte Haltung gegen | |
| fundamentalistischen Prediger in Europa mit ein. Man muss gerade die | |
| Geflüchteten vor falschen Heilsbringern schützen. | |
| Und immer wieder daran erinnern: Es sind die korrupten postkolonialen | |
| Eliten im Zusammenspiel mit den religiösen Fundamentalisten selbst, die die | |
| wohlfahrtsstaatlich demokratische Entwicklung in Nordafrika und im Nahen | |
| Osten blockieren. Sie tragen die Hauptverantwortung für Missstände, vor | |
| denen Millionen Menschen auch bis nach Europa fliehen. | |
| ## Ein historisches Jahr der Verantwortung | |
| Politik ist immer ein Kampf um die Köpfe. Und auch wenn es keinen | |
| unmittelbaren Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und einer miesen | |
| Gesinnung gibt, wie sie die Attentäter von Paris am 13. 11. an den Tag | |
| legten, müssen die europäischen Gesellschaften ihre Chancengerechtigkeit | |
| erhöhen. Europäische Sozialdemokraten mögen mit Außenpolitik und mit | |
| Verhältnissen wie in Syrien überfordert sein, Ideen für die nachhaltige | |
| Bekämpfung einer Jugendarbeitslosigkeit von durchschnittlich 25 Prozent wie | |
| in Frankreich sollten sie aber doch haben. | |
| Falsch wäre es jedoch den grassierenden Verschwörungstheorien oder | |
| Selbstviktimisierungsstrategien nachzugeben. Weder ist das Kapital an allem | |
| Schuld, noch ist es weiß; noch liegt es in der Verantwortung des | |
| europäischen Kolonialismus, dass die saudischen Herrscher einen Blogger wie | |
| Raif Badawi zu Tode peitschen lassen wollen oder dass die Mullahs im Iran | |
| unfähig sind, trotz Erdölmilliarden etwas ökonomisch Sinnvolles zustande zu | |
| bringen. Die Atombombe ist es nicht. | |
| Es gibt für Europas südliche Nachbarstaaten, den unter Diktaturen ächzenden | |
| Gesellschaften des Nahen Ostens oder Nordafrikas keinen kurzen Weg zur | |
| Befreiung, zumal das Gespenst des Islamismus weiterhin umgeht. Schade, bei | |
| der außenpolitischen Fragestellung hilft keine Willkommenskultur. Doch 2015 | |
| könnte als das Jahr in die Geschichte eingehen, da Europa begann, sich | |
| seiner politischen Verantwortung für die Länder des Südens neu zu stellen. | |
| 24 Dec 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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