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# taz.de -- Hamburger Ausstellung über Migration: Über euer scheiß Mittelmeer
> In den Deichtorhallen Hamburg untersucht die Ausstellung „Streamlines“
> Ozeane, Welthandel und Migration. Aber warum so seicht?
Bild: Peter Buggenhout: The Blind Leading the Blind (Herzliya Piece), #1 final …
Der Anfang immerhin ist vielversprechend: Gleich am Eingang zur Ausstellung
liegt ein riesiges Wrack. Zerlumpte Planen und aufgebrochene
Kunststoffteile hängen über einem Gerüst aus rostigen Stangen. Es erinnert
an den Rest eines untergegangenen Bootes. Eine ganze Weile muss es auf dem
Grund des Gewässers, in dem es unterwegs war, gelegen haben.
Warum es geborgen wurde, weiß man nicht. Man hätte es auch lassen können,
wo es war. Seine Oberfläche ist schlammfarbig und an einigen Stellen
verwuchert. Seltsam nur, dass es den weißen Galerieboden der Hamburger
Deichtorhallen nicht verschmutzt. Von seiner Geschichte gibt das große
hässliche Ding nichts preis. Weit mehr als sein Versinken ist ihm sein
Verrotten anzusehen. Es ist seltsam, aber der Schiffsrest ist hier viel
mehr ein natürlicher Gegenstand, weniger ein sozialer.
„The Blind Leading the Blind“ ist der Titel von Peter Buggenhouts
Katastrophenskulptur. Und weil wir nicht wissen, was hier geschah, die
Heftigkeit allerdings unübersehbar ist, stellen wir uns etwas vor. Uns wird
sicher etwas einfallen, denn die Welt ist voller Katastrophen. Gekenterte
Boote lassen zumindest in dieser Zeit an Flüchtlingsboote denken.
Buggenhousts Arbeit ist Teil der großen Gruppenausstellung „Streamlines“.
Die 1967 in Kamerun geborene Kuratorin Koyo Kouoh hat sie konzipiert. In
der Vergangenheit wirkte sie bereits an der documenta und der Biennale
Venedig unterstützend mit. Kouoh hat für ihre Hamburger Ausstellung
insgesamt 15 Künstler und Künstlerinnen aus der ganzen Welt eingeladen. Die
Ausstellungsidee legt ein internationales Setup nahe. Alle haben einen
besonderen eigenen Bezug zum Hamburger Hafen.
## Tradition der Sklaverei
Ozeane, Welthandel und Migration sind Thema ihrer Schau. So sagt es der
Untertitel. Das weist auf ein größeres Interesse an Gesellschaft denn an
Natur hin. Die Meere sind schließlich groß und ihre Themenvielfalt ist es
auch. Was sich wandelt, sind die gesellschaftlichen Filme, die sich über
die Wellen legen. Heute ist das Wasser zwischen den Kontinenten vor allem
als Flüchtlingsfriedhof besetzt. In diesem Zusammenhang erscheint dann auch
ein Schiffswrack wie das von Peter Buggenhout als Symbol einer
gescheiterten Überfahrt.
Der Titel der Ausstellung, „Streamlines“, bezeichnet die Meereswege. Und
zwar speziell die vom Süden in den Norden. Für den Transport von Menschen
und Waren muss man sie zurücklegen. Sklaverei gibt es zwar nach wie vor,
die Ausmaße von Warentransporten haben Sklaventransporte nun allerdings
nicht mehr. Wobei die amerikanischen Sklaventransporte natürlich wichtiger
Bestandteil unserer Kolonialgeschichte sind. Die Produktion von Waren in
Afrika und Lateinamerika für die westliche Welt steht zumindest in dieser
Tradition.
So werden nun nicht mehr die geraubten Menschen als Waren transportiert,
sondern ihre zu unfairen Bedingungen erkaufte Arbeitskraft. Wer diesen
Ausbeutungsverhältnissen entkommen möchte, versucht den gleichen Weg zu
nehmen wie die Produkte der eigenen Arbeit. Das heißt dann Armutsmigration
und gestaltet sich wie wir wissen weitaus schwieriger. „Über euer scheiß
Mittelmeer käm ich, wenn ich ein Turnschuh wär“, heißt es in einem Song der
Hamburger Punkband Die Goldenen Zitronen.
## Umschlagplatz Hamburger Hafen
Die drei Begriffe aus dem Untertitel verweisen also auf einen sehr
komplizierten und blutigen Zusammenhang. Enttäuschend, dass die Ausstellung
sich für diesen Komplex, den sie aufmacht, überhaupt nicht interessiert.
Keine einzige der gezeigten Arbeiten berührt das Wechselverhältnis zwischen
Migration und Handel. Beide Momente erscheinen in den Werken der von Koyo
Kouoh ausgewählten Künstler isoliert.
Als verbindendes Element ist einzig der Ort der Ausstellung (die Stadt
Hamburg) vorgesehen. Der Hamburger Hafen war für den frühen
Kolonialwarenhandel zentral; auch heute gilt er als wichtiger
Umschlagplatz. Aber selbst das bleibt in der Schau wenig greifbar und wage.
Kouoh reiht hier ihre Ausstellung in ein Stadtmarketing ein, das trotz der
restriktiven Flüchtlingspolitik des Hamburger Senats das hanseatische
Märchen vom „Tor zur Welt“ verbreitet.
Dadurch muss die Ausstellung natürlich äußerst harmlos geraten. Diese
Harmlosigkeit wird dann auch in den gezeigten Arbeiten sichtbar. Etwa in
der des nigerianischen Künstlers Otobong Nkanga. In eine zentral gelegene
Wand hat er eine Furche gezogen und sie mit afrikanischen Handelswaren wie
Tabak, Kaffee und Gewürzen aufgefüllt. Die Furche zeichnet die
Transportroute nach. Es stellt sich überhaupt nicht mehr die Frage, ob das
in irgendeiner Weise kritisch ist. Aber ist die illustrative
Veranschaulichung eines Vorgangs überhaupt Kunst?
Kuratorin Kouoh lässt in ihrem Ausstellungstext vollkommen außer Frage,
dass ihr mit „Streamlines“ an einer Schau gelegen ist, die zwar ein
riesiges Thema verfolgt, dies aber auf möglichst seichte Art und Weise tut:
„Unsere Überlegungen fußten auf dem Gedanken einer ‚Stromlinie‘ oder
mehrerer ‚Stromlinien‘. Für uns wurden Streamlines zum Bezugsfeld der
Wahrnehmung und Vorstellung von der Bewegung eines Wesens oder deren
mehrerer im Raum.“
## Verkitschung von Mord
Immerhin werden die Gemeinheiten, die den Individuen bei ihren Bewegungen
widerfahren, nicht ignoriert: „Nicht jeder erlebt Fließbewegungen derselben
Substanz. Denn Streamlines bedeutet auch Geschwindigkeit, Ökonomie und
Gewinn. Was uns interessiert, ist: Wer genau entscheidet über das Muster
dieser unsichtbaren Substanz?“
Man kann sich aber nicht sicher sein, ob ihr an einer Antwort tatsächlich
gelegen ist. Von der marokkanischen Künstlerin Bouchra Kalili ist eine
Serie von Drucken zu sehen, die „Constallations“ heißt, also Sternbilder.
Auf einer dunkelblauen Fläche erstrecken sich Punkte, die mit Ortsnamen
versehen sind, etwa Marseilles, Neapel und Tunis. Der Bogen, der die Städte
miteinander verbindet, ist schön und geschwungen.
Tatsächlich fühlt man sich an die Art von Sternbildern erinnert. Diese
basieren allerdings auf den Routen, die Menschen auf ihrer Flucht nach
Europa nehmen. Die Bögen innerhalb dieser Routen sind den Widrigkeiten
solcher gefährlicher Reisen geschuldet. Die moderne Flucht legt sich eng an
die Irrfahrten der antiken Sagen. Das ist im besten Fall die Verkitschung
mörderischer Umstände, die nicht sein müssten.
## Kritik schmiert ab
Fatal an der Ausstellung ist, dass die wenigen Arbeiten, die kritisch sein
wollen, künstlerisch abschmieren. So etwa Kader Attia: Der seit der letzten
documenta zum Star avancierte Künstler zeigt in Leuchtrahmen Fotos von
Jugendlichen, die am Strand von Algier auf seltsamen Quadern aus Beton
hocken und von der Überfahrt nach Europa träumen.
Attia selbst hat nach eigener Auskunft als Jugendlicher oft auf diesen
Steinen gesessen und den Schiffen nachgeschaut. Dem gegenüber hat er auf
dem Boden Kleider platziert, wie sie etwa an den Ufern von Lampedusa
angespült werden. „La Mer Morte“ hat er seine Installation genannt. Alle
diese Kleider sind blau. Die Farbe bezieht sich auf den arabischen Ausdruck
„Harragas“, der für diejenigen Flüchtlinge verwendet wird, die ihre
Ausweispapiere verbrennen. Das ist ganz schön viel Bedeutung für eine
Installation.
Das große Problem der Ausstellung sind aber vielleicht gar nicht die
einzelnen Arbeiten. Das Problem ist die fehlende Vermittlung eines
Zusammenhangs, eines Mechanismus, der im Titel eigentlich angelegt zu sein
schien. Außerhalb eines solchen Zusammenhangs erscheinen die Dinge hier
eben als Kitsch – poetisch oder politisch.
5 Jan 2016
## AUTOREN
Radek Krolczyk
## TAGS
Fluchtrouten
Moderne Sklaverei
Deichtorhallen Hamburg
zeitgenössische Fotografie
Ausstellung
Venedig
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Flüchtlinge
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