| # taz.de -- Entwicklung der Stadt Venedig: Wer sind die Bürger? | |
| > Jede Stadt ist eine lebendige Erzählung der eigenen Geschichte. Wir | |
| > Bürger müssen sie bewahren. Das gilt auch für NichtvenezianerInnen. | |
| Bild: In Venedig ist Maskenball | |
| Noch immer vermag man in italienischen Städten Straßenzüge zu entdecken, | |
| denen ähnlich oder gar mit jenen identisch, die Vergil, Dante oder Ariost | |
| entlanggegangen sind – lebendige Spuren einer Vergangenheit, die so reich | |
| ist, dass man sie unmöglich ignorieren kann. Von den Alpen bis nach | |
| Sizilien erkennen wir eine unvergleichliche Vielfalt lokaler Formen des | |
| städtischen Lebens, von denen jede einzelne nicht nur in Palästen, Kirchen | |
| und Plätzen Gestalt annahm, sondern sich auch in Institutionen und | |
| Regierungspraktiken niederschlug. | |
| In diesem abwechslungsreichen Szenario der Städte vollzog sich über | |
| Generationen hinweg ein intensives Nachdenken über das Wesen der | |
| Bürgerschaft (im Italienischen wird der Begriff „Stadtbürger“, cittadino, | |
| und nicht „Staatsbürger“ benutzt), mit der Vergangenheit als Folie, vor | |
| deren Hintergrund die Gegenwart gelesen wurde. | |
| In dem Zusammenspiel von Konstanten und Varianten wird eine „italienische“ | |
| urbane Form erkennbar, die in weiten Teilen der Welt zu einem der | |
| einflussreichsten Modelle wurde. Und es ist gerade die Polarität zwischen | |
| Stadt und Land, die den ursprünglichen Kontrast zwischen natürlichem Raum | |
| und urbanem Raum, zwischen einer natürlichen Ordnung und einer Ordnung der | |
| Kultur auf immer neue Weise zum Ausdruck bringt. Jede Stadt ist also eine | |
| lebendige Erzählung der eigenen Geschichte, aber auch das Gesicht und in | |
| Stein übersetzter Ausdruck der Bevölkerung, die in ihr lebt, sie bewahrt | |
| und gestaltet. Stadt und Bevölkerung sind eins, ein einzelner Knoten | |
| verknüpft die Erfahrung der Lebenden mit der Erinnerung der Dinge. | |
| ## Eine neue Epidemie | |
| Aber wie steht es um die Bewohner von Venedig? Betrachten wir die im | |
| historischen Zentrum ansässige Bevölkerung, liefern die Daten ein | |
| dramatisches Bild. Venedig hat in den vergangenen Jahrhunderten nur einmal | |
| einen vergleichbaren Bevölkerungseinbruch wie heute erlebt, und zwar | |
| infolge der Pestepidemie von 1630, nach der fast ein Jahrhundert vergehen | |
| musste, bis das ursprüngliche Niveau wieder erreicht wurde. | |
| Seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts hat sich in Venedig jedoch | |
| eine neue Epidemie eingenistet. 1950 gab es in Venedig 1.924 Neugeborene | |
| gegenüber 1.932 Verstorbenen (also ein fast ausgeglichenes Verhältnis). Im | |
| Jahr 2000 ändern sich die Proportionen, und die Bilanz kippt ins Negative: | |
| 404 Neugeborene, 1.058 Verstorbene. Überalterung und Wegzug der Ansässigen, | |
| Auflösung der Familien, niedrige Geburtenrate und stetiger Rückgang der | |
| Bevölkerung zeichnen das Bild einer Stadt auf der Flucht vor sich selbst. | |
| Vor diesem Hintergrund verstehen wir, warum in der Apotheke Morelli am | |
| Campo San Bartolomeo ein Leuchtzählwerk installiert wurde, das Tag für Tag | |
| die kontinuierlich abnehmende Zahl der Einwohner Venedigs dokumentiert. | |
| Keine öffentliche Institution hat diesen dramatischen Countdown inszeniert, | |
| sondern eine Bürgergruppe. Einer von ihnen, Matteo Secchi, verkündet: „Sehr | |
| bald werden wir Venedigs Begräbnis feiern und den Sarg in einem Trauerzug | |
| zum Rathaus tragen.“ Hinzu kommt, dass die im historischen Zentrum | |
| wohnhaften Venezianer „ihren Bürgermeister gar nicht wählen, weil die Zahl | |
| der Einwohner von Mestre [das Festland der Gemeinde] dreimal so hoch ist“, | |
| so der Ökonom Francesco Giavazzi. | |
| Wer sind also „die Bürger“ Venedigs? Und was ist das für eine Seuche, die | |
| dabei ist, sie auszulöschen? Während die Stadt sich leert, fallen die | |
| Reichen und Berühmten über sie her, die bereitwillig Höchstpreise für ein | |
| Haus zahlen, ein Statussymbol, das sie dann fünf Tage im Jahr bewohnen. | |
| Dieser allmähliche Austausch der Bevölkerung hat zu einer Verzerrung des | |
| Marktes geführt und zwingt ihm ein Preissystem auf, das die Venezianer aus | |
| ihrer Stadt hinausdrängt und sie zur Hauptstadt der Zweitwohnungsbesitzer | |
| macht, die mit viel Pomp und Mondänität in Erscheinung treten, um dann | |
| wieder für Monate im Nichts zu verschwinden. | |
| Unterdessen schieben sich jedes Jahr acht Millionen Touristen durch die | |
| Straßen und Kanäle von Venedig, den Übernachtungszahlen von 34 Millionen | |
| steht eine maximale „Traglast“ von zwölf Millionen gegenüber (G. Tattara, | |
| „Contare il crocerismo“, 2014). Mit anderen Worten: Auf jede Person, die | |
| dauerhaft in Venedig lebt, kommen mehr oder weniger 600 flüchtige Besucher. | |
| Dieses desaströse Missverhältnis hat die Sprengkraft einer Bombe, mit | |
| drastischen demografischen und wirtschaftlichen Folgen. | |
| Die Stadt wird inzwischen von einer touristischen Monokultur dominiert, | |
| welche die Einheimischen vertreibt und das Überleben der Zurückgebliebenen | |
| und der Stadt fast ausschließlich an die Bereitschaft zur touristischen | |
| Dienstleistung knüpft. Nichts anderes scheint Venedig hervorbringen zu | |
| können als Bed and Breakfast, Restaurants und Hotels, Immobilienagenturen, | |
| den Verkauf typischer Produkte (von Glas bis zu Masken) und das Ausrichten | |
| sinnentleerter Karnevale, mit melancholisch geschminkter Miene, um den | |
| Anschein eines pausenlosen Dorffestes zu wahren. Und die Seuche, die das | |
| soziale Gefüge der Stadt, ihren Zusammenhalt und die öffentliche Kultur | |
| heimsucht und unterwandert, wird aus dem Bewusstsein verdrängt. | |
| ## Die Steine und das Volk | |
| Und doch dominiert der Tourismus, der Venedig entvölkert, nach wie vor | |
| alles, so sehr, dass nicht einmal die aktuellen 2.400 | |
| Unterbringungseinrichtungen die Begierden zu stillen vermögen. Sollte es | |
| nicht gelingen, den von der Region Venetien beschlossenen piano casa zur | |
| Gebäudeerweiterung zu stoppen, könnte die Zahl der Beherbergungsbetriebe im | |
| historischen Zentrum auf 50.000 anwachsen und damit den Großteil des | |
| Stadtkerns vereinnahmen. | |
| Allein entlang des Canal Grande, dieser so besonderen Straße einer | |
| besonderen Stadt, haben seit dem Jahr 2000 das Schulamt, der Consiglio | |
| Nazionale delle Richerche(Nationaler Forschungsrat), eine Reihe von | |
| Justizbüros, jene der Verkehrsbetriebe, das deutsche Konsulat, der Sitz von | |
| Mediocredito, darüber hinaus rund 20 Gebäudeeinheiten, Arztpraxen und | |
| Lagerhäuser geschlossen. An ihrer Stelle wurden 16 neue Hotels eröffnet | |
| (mehr als eines pro Jahr, allein elf seit 2007), mit einer Kapazität von | |
| 797 Betten. Auf den vier derzeitigen Baustellen entstehen Luxushotels. Auf | |
| diese Weise wird die natürliche Mischung von Funktionen in der historischen | |
| Altstadt abgetötet und durch eine Monokultur des Tourismus und | |
| Hotelgewerbes ersetzt. | |
| Weder die Touristen noch die Zweit-, Dritt-, Viertwohnungsbesitzer vermögen | |
| das zu sein, was Menschen für eine Stadt sein sollten: Lebenssaft in jenen | |
| Adern, die ihre Straßen und Plätze sind; die Bewahrer und Urheber der | |
| Erinnerung; eine Gemeinschaft, welche die materielle Form der Stadt und | |
| ihre ethische Vernunft definiert – le pietre e il popolo, die Steine und | |
| das Volk, wie es der Kunsthistoriker Tomaso Montanari 2013 im Titel seines | |
| Buches formuliert. | |
| ## Nichtvenezianer, werdet Bürger Venedigs | |
| Ist heute tatsächlich der immer spärlichere Haufen der in Venedig | |
| ansässigen Einwohner, die einem fast wie Überlebende nach einem Kahlschlag | |
| erscheinen, dieses Volk von Venedig? Sie werden es sein können, allerdings | |
| nur, wenn wir jene unter ihnen nicht alleine lassen, die „den stolzen und | |
| verzweifelten Versuch unternehmen zu überleben, während ihre Stadt tagein, | |
| tagaus von einem nicht abreißenden Strom der Millionen von Fremden | |
| überschwemmt wird, die dort keine wirkliche Investition tätigen können“ | |
| (Polly Coles). Venedig läuft Gefahr, bald ohne Bürger dazustehen. | |
| Wenn wir dies verhindern wollen, müssen auch wir Nichtvenezianer uns zu | |
| Bürgern von Venedig, zu Bewahrern seiner Schönheit und Erinnerung machen | |
| und sorgsam über seine Zukunft wachen. Bürger sein müssen wir während | |
| unserer seltenen Besuche, vor allem aber, indem wir dieser Stadt den Tribut | |
| zollen, den sie von uns einfordert: eine tiefgreifende Reflexion über jene | |
| Stadtform, die Venedig auf höchstem Niveau darstellt, über die Lebensart | |
| (und das Dasein als Bürger in der Stadt), die in ihr verkörpert ist, sowie | |
| über die Notwendigkeit, ein Konzept zu erarbeiten, das den Lebenssaft – die | |
| Bürger – wieder durch seine Adern strömen lässt. | |
| Wir müssen Venedigs „Volk“ sein, weil uns das Nachdenken über Venedig etw… | |
| über die anderen Städte – die, in denen wir leben – begreiflich machen wi… | |
| und uns hilft, ihren Sinn und ihr Schicksal – unser Schicksal – zu | |
| verstehen. | |
| 22 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Salvatore Settis | |
| ## TAGS | |
| Venedig | |
| Urbanität | |
| Essay | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Reiseland Italien | |
| Fluchtrouten | |
| Kolonialismus | |
| Panama | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Teure Rekonstruktion des Kolosseums: Netflix-Melodram auf antik | |
| Italiens Kulturminister plant für Roms Amphitheater einen 18,5 Millionen | |
| teuren Hightechboden. Die Nachhaltigkeit der Attraktion ist umstritten. | |
| Hamburger Ausstellung über Migration: Über euer scheiß Mittelmeer | |
| In den Deichtorhallen Hamburg untersucht die Ausstellung „Streamlines“ | |
| Ozeane, Welthandel und Migration. Aber warum so seicht? | |
| Kolumne Schlagloch: Mein Garten in Venedig | |
| Selbsterhaltung durch Expansion lautet die Formel westlicher Existenz oder | |
| wie ich zur Sehenswürdigkeit wurde – am Canal Grande. | |
| Der Panamakanal: Auf dem Canal Grande | |
| Er ist das Tor zwischen den beiden größten Meeren der Erde und neben dem | |
| Suezkanal die wichtigste künstliche Wasserstraße der Welt. | |
| Gentrifizierung und Stadtrand: „Urbanität kann man nachrüsten“ | |
| Der Run auf die Innenstädte ist ungebrochen. Was aber wird aus den | |
| Stadträndern? Ein neues Zuhause für Verdrängte? Der Stadtplaner Aljoscha | |
| Hofmann hofft das. |