| # taz.de -- Teure Rekonstruktion des Kolosseums: Netflix-Melodram auf antik | |
| > Italiens Kulturminister plant für Roms Amphitheater einen 18,5 Millionen | |
| > teuren Hightechboden. Die Nachhaltigkeit der Attraktion ist umstritten. | |
| Bild: Bald kommt ein neuer Fußboden drüber: sichtbare Unterkellerung des Kolo… | |
| Von oben betrachtet gleicht das Kolosseum einem Backenzahn, in dessen | |
| trichterartigen Schlund sich dunkle Karies gefressen hat. Zu einer Ruine | |
| geklopft haben es Volk und bauwütige Päpste, die sich in dem größten | |
| Amphitheater des Altertums über Jahrhunderte mit Steinmaterial versorgten. | |
| Ursprünglich hatte es weiße Sitzstufen und einen hölzernen Arenaboden, der | |
| mit Sand ausgestreut war. | |
| Da der Boden fehlt, blickt der Besucher heute in den Maschinenraum der | |
| Unterkellerung: auf ein unterirdisches Labyrinth aus Korridoren, finsteren | |
| Kammern und Schächten, wo Gladiatoren und ausgehungerte Bestien darauf | |
| warteten, per Fahrstuhl in das gleißende Sonnenlicht der Kampfarena gehievt | |
| zu werden. Auf wilde Löwen wird man wohl verzichten, aber bald schon | |
| könnten in der ehemaligen Spielstätte von panem et circenses wieder | |
| Spektakel stattfinden. | |
| Das Zentrum der antiken Massenunterhaltung nach 1.500 Jahren wieder zum | |
| Leben zu erwecken, ist ein lang gehegter Wunsch von Kulturminister Dario | |
| Franceschini. Die Unterkellerung, Hypogäum genannt, wird nun bis 2023 mit | |
| einem beweglichen, 76 mal 44 Meter großen Hightechboden verschlossen. Das | |
| Ingenieursbüro Milan Ingegneria, Gewinner der Ausschreibung, hat einen | |
| Boden aus wetterfesten, holzverkleideten Karbonleisten entworfen, die | |
| zwecks Belüftung des Kellers wie eine horizontale Jalousie drehbar sind. | |
| ## Käfige und Lastenaufzüge rekonstruiert | |
| Damit nicht genug, werden auch Teile der ausgeklügelten Bühnentechnik mit | |
| ihren Käfigen und Lastenaufzügen rekonstruiert. Der Tourist soll in Zukunft | |
| nicht nur die Arena wie ein antiker Gladiator betreten, er soll sich auch | |
| den stickig-schummrigen Arbeitsort der etwa zweihundert Sklaven unter Tage | |
| besser vorstellen, die auf gebrüllte Befehle von einer Winde zu anderen | |
| hetzten. | |
| Er soll sehen, wo die zum Tode Verurteilten ihre letzten Minuten | |
| verbrachten, wie riesige Landschaftskulissen hochgezogen wurden, und er | |
| soll den Überraschungseffekt einer plötzlich aufgehenden Falltür erleben. | |
| Die Antike als Netflix-Melodram. Der bildfixierte Besucher will nicht mehr | |
| vor Schautafeln stehen und lesen, er will Emotionen und Selfies. | |
| Seit jeher schielen die Stadtväter neidisch auf die Arena von Verona, die | |
| der Stadt Popularität und Geldsegen einträgt. Bisher scheiterte in Rom eine | |
| entsprechende Rekonstruktion am grünen Licht der mächtigen Soprintendenz, | |
| die in Italien über die Kulturgüter wacht. Sie bangte um die antike | |
| Bausubstanz, abgesehen von der diffusen Abneigung der Fachwelt gegen eine | |
| Zweckentfremdung des Monuments. | |
| ## Erfolgsmodell Pompeji | |
| Mit Franceschini und seiner 2015 initiierten Kulturreform änderte sich das | |
| akademische Klima jedoch schlagartig. Zeigte doch das [1][Erfolgsmodell | |
| Pompeji], dass die Vermarktungsstrategien des Ministers Früchte tragen und | |
| dass Massen- und Qualitätstourismus kein Widerspruch sind. Einen | |
| Mitstreiter fand der Sozialdemokrat in Daniele Manacorda, | |
| Archäologieprofessor an der Roma Tre. Dieser provozierte die Fachkollegen | |
| 2014 mit dem Vorschlag, die Arena wieder begehbar zu machen, wie sie auf | |
| alten Alinari-Fotos aus dem 19. Jahrhundert zu sehen ist. | |
| Zwar existierte der Holzboden schon damals nicht mehr, aber die sechs Meter | |
| tiefe Unterkellerung war mit Erde aufgefüllt. Einst trug die Arena Altäre | |
| und Kapellen der Kreuzwegstationen, war Verehrungsstätte der Märtyrer, im | |
| Mittelalter diente der ganze Bau gar als Festung. Warum sollte das | |
| Kolosseum heute nur totes Museum sein? | |
| Rekonstruktionen gehören eigentlich der Vergangenheit an, sie stehen im | |
| Kontrast zur modernen Theorie von Restaurierung. Um dem Besucher zu | |
| veranschaulichen, wie eine Ruine ursprünglich aussah, werden heute | |
| Lasershows eingesetzt wie im benachbarten Circus Maximus. Der Arenanachbau | |
| stellt also ein Unikum dar. Die Ingenieure beteuern, dass modernste | |
| Technologie den Eingriff wenig invasiv machen würde. | |
| Heinz Beste vom Deutschen Archäologischen Institut in Rom hat zumindest | |
| hinsichtlich der Statik keine Bedenken: „Sie wurde bei der Bauaufnahme 1999 | |
| geprüft. Der neue Boden kann tatsächlich von den Strukturen aus der Zeit | |
| des Kaisers Domitian (81–96 n. Chr.) getragen werden – wie der antike“. | |
| ## Schutz vor Regen und Sonne | |
| Alfonsina Russo, seit 2017 Direktorin des Kolosseums, begrüßt – anders als | |
| ihre Vorgängerin – das Projekt aus konservatorischem Interesse. „Ein Boden | |
| wird die frisch restaurierten Mauern des Hypogäums vor Regen und Sonne | |
| schützen.“ Und Franceschini beteuert, „der Holzboden sei komplett | |
| reversibel und green“, das „Regenwasser würde für die Klosettspülung | |
| drainiert“. Das scheint ein gewaltiger Fortschritt, denn bisher mussten | |
| sich die 7,5 Millionen Besucher (2019) mit Dixi-Klo-ähnlichen Aborten | |
| begnügen. | |
| Doch ein zentrales Problem kann selbst Hightech nicht lösen. Der | |
| fragmentarische Zustand der Substruktionen der Tribüne erlaubt kein | |
| Montieren von neuen Sitzstufen wie in Verona. Zuschauer müssen zwangsläufig | |
| in der Arena sitzen – also ebenerdig. Damit sind nicht nur Akustik und | |
| Erlebnis geschmälert, sondern auch der Anzahl der Zuschauer Grenzen | |
| gesetzt. Von den Großveranstaltungen in der Kaiserzeit, als sich bis zu | |
| 75.000 Menschen auf den fünf steilen Sitzrängen drängten, können die | |
| Veranstalter heute nur träumen. | |
| Kleine Theaterstücke und Konzerte wurden bereits versuchsweise aufgeführt, | |
| und zwar auf dem kleinen Segment Arenaboden, das man für das Pilgerjubiläum | |
| 2000 errichtet hatte. Paul McCartney gab hier ein Benefizkonzert vor 400 | |
| Sponsoren, während sich die plebejischen Fans mit einem Stehplatz vor dem | |
| Amphitheater oder mit einer Übertragung am heimischen Bildschirm | |
| zufriedengaben. Einen exklusiven Charakter werden auch zukünftige | |
| Aufführungen haben. | |
| Auf die Art der zukünftigen Darbietungen, ob Gladiatorenzirkus, Pop oder | |
| Klassik, will sich Franceschini nicht festlegen. Doch verspricht er | |
| „höchstes Niveau“. Opernkenner kräuseln die Nase. Lyrische Abende | |
| beschränken sich doch eher auf ein atmosphärisches Erlebnis, die Akustik | |
| sei zu schlecht. Davon abgesehen hat die römische Oper mit ihrer | |
| Sommerbühne in den antiken Caracalla-Thermen bereits eine stimmungsvolle | |
| Kulisse. | |
| ## Einladung zum Konsumieren von Kunst | |
| Keine Frage, das Projekt gefällt der Öffentlichkeit. Dennoch sind Sinn und | |
| Nutzen des kostspieligen Arenanachbaus überaus fragwürdig. Für den | |
| illustren Kunsthistoriker Tomaso Montanari erfüllt es „nicht einen Aspekt | |
| von Nachhaltigkeit, sondern lädt zum Konsumieren von Kunst ein“. Es passt | |
| nicht in das neue Konzept des sanften, reflektierten Tourismus, sondern | |
| setzt auf alte Strategien: auf Massentourismus und eine populistische, | |
| gleichzeitig aber auch elitäre Kulturvermittlung. | |
| In jedem Fall kommt die fast 20 Millionen teure Touristenattraktion zur | |
| ungünstigen Stunde. Sie könnte zu einem Politikum werden, da die Nachwehen | |
| der Pandemie in der Kultur- und Reisebranche am längsten anhalten werden. | |
| Mit über 50 Millionen Euro Einnahmen jährlich (2019) war das Kolosseum | |
| Kassenschlager unter den zwanzig autonomen Kunststätten, die als Motor des | |
| italienischen Kulturbetriebs fungierten. | |
| Nun sind die Einnahmen massiv eingebrochen, der Erhalt der Kulturgüter muss | |
| allein vom hochverschuldeten Staat getragen werden. Bereits vor Covid-19 | |
| waren die Ressourcen für die Denkmalpflege verknappt. In Rom verfällt die | |
| antike Stadtmauer und in Mittelitalien regnet es in die vom Erdbeben | |
| beschädigten mittelalterlichen Kirchen. „Die Pflege der Kulturschätze | |
| erfolgt nach einer Notfalllogik anstatt nach einer programmierten Wartung | |
| und Instandsetzung“, heißt es in dem letzten Report des Rechnungshofes. | |
| Vor diesem Hintergrund fragt sich der [2][Archäologe Salvatore Settis], der | |
| stärkste Kritiker der Franceschini-Reform, zu Recht, „welche Priorität der | |
| Arenanachbau habe“. Vielleicht hätte es eine virtuelle | |
| Multimedia-Rekonstruktion auch getan. | |
| 29 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Archaeologischer-Fund-in-Pompeji/!5736353 | |
| [2] /Entwicklung-der-Stadt-Venedig/!5303104 | |
| ## AUTOREN | |
| Tanja Schultz | |
| ## TAGS | |
| Reiseland Italien | |
| Italien | |
| Rom | |
| Antike | |
| Rekonstruktion | |
| Kulturgüter | |
| Antike | |
| Italien | |
| Vegetarismus | |
| Venedig | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neuer Fund in Pompeji: Sklav*innen der Antike | |
| Neues vom Fuß des Vesuv: Archäolog*innen haben ein Zimmer entdeckt, in | |
| der Sklav*innen schliefen. Es diente auch als Abstellkammer. | |
| Ein Jahr Corona in Europa: Als die Lawine ins Rollen kam | |
| Politiker*innen warnten vor Panikmache, als die Zahl der europäischen | |
| Coronafälle plötzlich stieg. Die Reaktionen damals wirken im Rückblick | |
| naiv. | |
| Archäologischer Fund in Pompeji: Antikes Fast Food | |
| Die Entdeckung einer antiken Snackbar fasziniert: Die Menschen waren schon | |
| immer hungrig und vergnügten sich genau wie wir. | |
| Entwicklung der Stadt Venedig: Wer sind die Bürger? | |
| Jede Stadt ist eine lebendige Erzählung der eigenen Geschichte. Wir Bürger | |
| müssen sie bewahren. Das gilt auch für NichtvenezianerInnen. |