# taz.de -- Ein Jahr Corona in Europa: Als die Lawine ins Rollen kam | |
> Politiker*innen warnten vor Panikmache, als die Zahl der | |
> europäischen Coronafälle plötzlich stieg. Die Reaktionen damals wirken im | |
> Rückblick naiv. | |
Bild: Codogno am 21. Februar: Die Bewohner*innen gedenken der Coronatoten | |
ROM taz | Geplant war ein ganz gewöhnlicher Kinoabend mit dem befreundeten | |
Paar, an jenem Freitag, dem 21. Februar 2020. Es gab „Parasite“, die | |
schräge dystopische südkoreanische Komödie, die bei den Oscars abgeräumt | |
hatte. Doch danach, beim Abendessen, war das Gespräch schnell woanders. Ob | |
wir denn davon gehört hätten, fragt Daniela, dass da oben in der Lombardei, | |
in einem Dorf irgendwo vor Mailand, ein Coronafall entdeckt worden sei, ein | |
junger Mann, keine Chinareisen, keine Kontakte mit Chines*innen, der mit | |
schwerer Lungenentzündung im Krankenhaus liege. | |
Ja, wir hatten davon gehört. Wir versuchten einander dann einzureden, es | |
könne ja so kommen wie bei jenem chinesischen Tourist*innenpaar drei | |
Wochen vorher in Rom, aufgespürt mit Corona-Infektion und sofort im | |
Krankenhaus isoliert, ohne auch nur einen einzigen anderen Menschen | |
angesteckt zu haben. | |
Doch es kam anders – ganz anders. Schon am nächsten Morgen machten die | |
Tageszeitungen mit alarmierenden Schlagzeilen auf, „Virus in Italien: der | |
erste Tote“, „Italien ist infiziert“, „Auch wir sind angesteckt“, „… | |
Norden in Angst“. | |
Schockierend waren die Nachrichten in der Tat. Binnen bloß eines Tages | |
hatten die Behörden nicht nur einen, sondern [1][gleich zwei Hotspots | |
ausgemacht], neben dem lombardischen 15.000-Einwohner-Nest Codogno mit | |
seinem angeblichen „Patienten 1“ auch das 180 Kilometer östlich im Veneto | |
gelegene Städtchen Vo’Euganeo. Binnen bloß eines Tages war schon der erste | |
Tote zu beklagen, binnen bloß eines Tages wurden allein in Codogno 15 | |
Covid-Kranke gemeldet. Und die Zahlen stiegen stündlich, noch am gleichen | |
Tag, dem Samstag, wurden 76 Infizierte verzeichnet. | |
## Die Illusion, das Virus lasse sich irgendwie einfangen | |
Allen war klar: Eine Lawine war da ins Rollen gekommen. Doch wohl kaum | |
jemand ahnte, wie mächtig sie werden würde, wie schnell sie Italien und | |
Europa überrollen sollte. Schnell reagierten jedenfalls die Behörden, in | |
der verzweifelten Hoffnung, die Infektionsherde noch einhegen zu können. | |
Codogno und Vo’Euganeo wurden militärisch abgeriegelt, die Bilder von den | |
Kontrollposten an den Ortszufahrten gingen um die Welt, aus den [2][„Roten | |
Zonen“] durfte niemand mehr heraus, Busse und Bahnen fuhren ab sofort ohne | |
Halt durch. | |
Und in den Nordregionen vom Piemont über die Lombardei zum Veneto und zur | |
Emilia-Romagna wurde das öffentliche Leben fast über Nacht weitgehend zum | |
Erliegen gebracht. Schon am Sonntag wurde der Karneval in Venedig | |
unterbrochen, am Montag dann stellten die Universitäten und die Schulen | |
ihren Lehrbetrieb ein, schlossen die Museen, Theater, Kinos. Da wurden auch | |
in den Kirchen keine Messen mehr gefeiert, wurde in den Gerichten nicht | |
mehr vor Publikum verhandelt – so etwas hatte Europa seit 1945 nicht | |
erlebt. | |
Immer noch aber herrschte die Illusion, irgendwie lasse sich das Virus doch | |
noch einfangen, irgendwo müsse Schluss sein mit den Einschränkungen. | |
Giorgio Gori, Bürgermeister von [3][Bergamo – der Stadt, die bald als am | |
schlimmsten betroffener Seuchenherd Italiens „Wuhan Italiens“] genannt | |
werden sollte –, trommelte dafür, dass die Wirtschaft weiterlaufen müsse, | |
dass Bars und Restaurants nicht eingeschränkt werden dürften. Und Mailands | |
Bürgermeister Beppe Sala zog sich extra ein T-Shirt mit dem Slogan „Milano | |
non si ferma“ („Mailand hält nicht inne“) über. | |
Derweil lud die Jugendorganisation der gemäßigt linken Partito Democratico | |
(PD) für den 27. Februar zu einem Aperitif im Mailänder Hip-Viertel Navigli | |
ein. Dicht gedrängt standen dort die Menschen, um dem Stargast zu lauschen, | |
dem extra aus Rom angereisten Parteivorsitzenden Nicola Zingaretti. Der | |
hatte zu verkünden, „man muss die Infektionsherde isolieren, aber man darf | |
das Leben nicht zerstören oder Panik verbreiten“. Acht Tage später fiel der | |
Coronatest bei Zingaretti positiv aus, wahrscheinlich hatte er sich bei | |
ebenjenem Event angesteckt, bei dem er der Panikmache den Kampf ansagte. | |
## Der flächendeckende Lockdown | |
Während Lokal- und Regionalpolitiker*innen aus der Lombardei | |
Besonnenheit predigten, nahm die Lawine weiter an Fahrt auf, und die | |
Italiener*innen lernten, was „exponentielles Wachstum“ bedeutet. Am 3. | |
März, nicht einmal zwei Wochen nach der ersten Covid-Diagnose in Codogno, | |
lag die Zahl der offiziell Infizierten im Land bei fast 2.300, mehr als | |
1.000 waren im Krankenhaus, schon 79 gestorben, 52 von ihnen alleine am | |
Vortag. | |
Die Lehrerin Febronia Campisi, die an dem römischen Gymnasium Virgilio | |
unterrichtet, erinnert sich noch Monate später sehr gut an den 4. März, „da | |
ging kurz vor Unterrichtsschluss um 14 Uhr eine begeisterter kollektiver | |
Aufschrei durch die Klassenzimmer, wie ein Riesendonner“. Die | |
Schüler*innen feierten die über ihre Whatsapp-Gruppen eingetroffene | |
Nachricht, die Regierung unter Ministerpräsident Conte habe die Schließung | |
aller Schulen vom Kinderhort zum Gymnasium im ganzen Land verfügt, von | |
Bozen bis Palermo. Damals klang das noch nach Extra-Frühlingsferien – der | |
Stopp sollte zunächst für zwei Wochen gelten –, nicht nach Lernplattformen | |
und Distanzunterricht. | |
All dies aber reichte nicht, um die Lawine zu bremsen. Am 9. März – nur | |
zweieinhalb Wochen nach dem ersten Covid-Fall in Codogno – ordnete die | |
Regierung an, vor die Tür dürften die Bürger*innen nur noch aus | |
zwingenden Gründen, darzulegen per Selbstbescheinigung. Und am 11. März | |
wandte sich Ministerpräsident Giuseppe Conte in einer dramatischen | |
TV-Ansprache ans Volk, um die sofortige Schließung aller nicht | |
lebensnotwendigen Läden, aller Bars und Restaurants, kurz: den | |
flächendeckenden Lockdown zu verkünden. „Wir bleiben auf Abstand, um uns in | |
Zukunft umso herzlicher zu umarmen“, schloss Conte. „Gemeinsam werden wir | |
es schaffen.“ | |
Schon am Vortag hatten die Tore des Petersdoms geschlossen, auf Monate, wie | |
sich zeigen würde. Das Zentrum Roms präsentiert sich zu dieser Zeit völlig | |
verwaist. Nur zwei Touristinnen aus Hannover können dem etwas Positives | |
abgewinnen, auch wenn sie ins geschlossene Kolosseum nicht hineinkommen. | |
„Wir genießen die Ruhe im Hotel“, ist ihr Fazit. | |
## Alles wird gut? | |
Kein Gedränge mehr herrschte vor den Touristen-Hotspots und den angesagten | |
Pizzerien im Stadtviertel. Schlange standen die Menschen jetzt vor dem | |
Supermarkt, auf einen Meter Abstand, die meisten bedrückt schweigend. | |
Allerdings war in Italien zu keinem Zeitpunkt Klopapier ausverkauft, Lücken | |
gähnten dagegen in den Pasta-, den Mehl-, den Konservenregalen. | |
Abgesehen vom Ausflug in den Supermarkt und von der Joggingrunde um den | |
Wohnblock befanden sich die Italiener*innen de facto im Hausarrest. Sie | |
reagierten mit trotzigem Durchhaltewillen. Erstmals am 12. März gab sich | |
das ganze Land ein Stelldichein auf den Balkonen, an den offenen Fenstern, | |
alle zusammen sangen Adriano Celentanos „Azzurro“ ebenso wie die | |
Nationalhymne. Viele hatten die italienische Trikolore aufgehängt, viele | |
auch Transparente mit dem Spruch „Andrà tutto bene“: Alles wird gut. | |
Doch erst einmal wurde gar nichts gut, wurde es noch viel schlimmer. Am 18. | |
März gab es Bilder aus Bergamo, die die ganze Welt schockierten: die elend | |
lange Kolonne von Militär-Lkws, die vor dem örtlichen Friedhof vorgefahren | |
war, um die Särge abzutransportieren. Das Krematorium kam mit deren | |
Verbrennung nicht mehr hinterher. Und am 27. März meldete die Regierung 969 | |
Covid-Tote – an nur einem Tag. | |
Die erste Welle der Pandemie war dann im Mai überstanden, der Lockdown | |
wurde aufgehoben, Italien hatte zwar 35.000 Tote zu beklagen, genoss aber | |
erst einmal einen unbeschwerten Sommer mit vollen Stränden. Doch vom | |
September an nahm Corona wieder Fahrt auf, stiegen die Infektionszahlen bis | |
zum November auf 40.000 täglich, erlagen weitere 60.000 Menschen dem Virus, | |
füllten sich wieder die Intensivstationen, standen die Krankenwagen mit den | |
nach Luft ringenden Covid-Patient*innen in Rom oder Neapel wieder | |
stundenlang Schlange vor den Notaufnahmen. | |
## Ein Déjà-Vu | |
Niemand mehr hängt Transparente mit dem „Es wird alles gut!“-Spruch aus dem | |
Fenster, keiner mehr singt auf den Balkonen. Auch in Italien haben gleich | |
nach Weihnachten die Impfungen begonnen, machte sich Hoffnung aufs Ende der | |
Pandemie breit. Doch pünktlich zum Covid-Jahrestag heißt es, in einigen | |
Regionen des Landes lägen die Infektionen mit den englischen, | |
brasilianischen, südafrikanischen Virusmutanten schon bei 30, ja bei 50 | |
Prozent. Die Zahlen gehen wieder hoch, am Freitag wurden 15.000 | |
Neuinfektionen vermeldet. | |
Den Bürger*innen wird derweil ein Déjà-vu geboten. Mit „chirurgischen | |
Schnitten“, mit kleinen, lokalen Roten Zonen will die Regierung jetzt der | |
Verbreitung der Virusvarianten beikommen. Genau so hatte alles angefangen, | |
vor einem Jahr in Codogno und Vo’Euganeo – mit den bekannten Resultaten. | |
21 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Coronavirus-in-Italien/!5665565 | |
[2] /Corona-in-Norditalien/!5669311 | |
[3] /Bergamo-ein-Jahr-danach/!5749885 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
## TAGS | |
Italien | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Lockdown | |
Reiseland Italien | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Italien | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Mafia | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Teure Rekonstruktion des Kolosseums: Netflix-Melodram auf antik | |
Italiens Kulturminister plant für Roms Amphitheater einen 18,5 Millionen | |
teuren Hightechboden. Die Nachhaltigkeit der Attraktion ist umstritten. | |
Ursachenforschung der Coronapandemie: WHO-Kritik an China erhärtet sich | |
Ein Bericht von Experten der Weltgesundheitsorganisation über die Ursprünge | |
von Corona fordert weitere Untersuchungen – und lässt viele Fragen offen. | |
Gedenken an Coronatote in Italien: „Ein Symbol des Schmerzes“ | |
Ein Jahr, nachdem die Bilder von Leichentransporten aus Bergamo um die Welt | |
gingen, erinnert Italiens Regierungschef Mario Draghi an die Toten. | |
Dritte Welle der Pandemie: Neuer Lockdown in Italien | |
In dem südeuropäischen Land sind zehn Regionen als „Rote Zonen“ eingestuft | |
worden. Bürger*innen dürfen nur noch mit einer Selbstbescheinigung vor | |
die Tür. | |
Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Merkel will stufenweise lockern | |
Die Kanzlerin plädiert dafür, den Lockdown nur vorsichtig aufzuheben. In | |
den meisten Bundesländern können Kinder ab Montag wieder Kitas und | |
Grundschulen besuchen. | |
Coronazahlen steigen wieder an: Trendwende bei Infektionen | |
Gute und schlechte Nachrichten: Corona-Infektionen nehmen in Deutschland | |
wieder zu. Grund zur Freude bietet eine Studie zum Biontech-Impfstoff. | |
Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: In Israel geht es voran | |
Daten aus Israel bestätigen die Wirksamkeit des Corona-Impfstoffs von | |
Biontech. In Deutschland steigt die Zahl die Sieben-Tage-Inzidenz. | |
Bergamo ein Jahr danach: Stadt ohne Atem | |
Renata Colombi ist Notfallärztin im Krankenhaus von Bergamo. Wie hat sie | |
das Jahr seit Ausbruch der Pandemie erlebt? | |
Tod von Mafiaboss Raffaele Cutolo: Zwischen Pop und Staat | |
Der Staat hat mit ihm zusammengearbeitet und er wurde besungen. Leben und | |
Tod des Camorra-Bosses Raffaele Cutolo sind typisch für die Mafia. |