# taz.de -- Schwedische Willkommenskultur: Zum Anstand entschlossen | |
> Schweden nimmt pro Einwohner so viele Flüchtlinge auf wie kein anderes | |
> Land. Doch die Kapazitäten gehen zur Neige. | |
Bild: Flüchtlinge in Schweden, wie hier in Stockholm. | |
Schweden taz | Die Sofas im Aufenthaltsraum stammen aus den 70ern, die | |
Schlafräume bestehen aus zwei oder vier doppelstöckigen Betten, einem Tisch | |
und Stühlen. Dazu gibt es Gemeinschaftsduschen. Das Camp, das mit seinen | |
falunroten Holzhäusern am Waldrand liegt, wurde in den letzten Jahren nur | |
noch selten von Sportvereinen oder Pfandfindern für ihre Sommerlager | |
genutzt. Am Donnerstag zogen hier die ersten von 56 Flüchtlingen ein. Es | |
ist ihre erste Unterkunft im neuen Land. | |
„Das liegt natürlich etwas isoliert“, gibt Fedja Serhatlic, kommunaler | |
Flüchtlingskoordinator, zu: Zwei Kilometer bis zu einer Bushaltestelle, | |
zehn bis zum nächsten Dorfladen und 30 nach Linköping, der nächstgelegenen | |
Stadt. „Nicht ideal. Aber man hat Mobiltelefondeckung und drahtloses | |
Internet ist installiert.“ | |
Schweden mobilisiert derzeit die letzten Reserven. Der Einwanderungsbehörde | |
Migrationsverket sind die Unterbringungskapazitäten ausgegangen. Mitte | |
Oktober hatte sie an alle Kommunen appelliert, ihre Evakuierungsplätze zur | |
Verfügung zu stellen: Notunterkünfte, die man überall im Land für den Fall | |
von Naturkatastrophen bereit hält. Fast alle Gemeinden haben umgebend | |
positiv reagiert. Und falls das nicht reichen sollte, sind schon Zeltlager | |
und eine Nutzung militärischer Schutzräume geplant. | |
„Wir helfen, wenn die Not groß ist“, hatte Schwedens Ministerpräsident | |
Stefan Löfven als Redner bei einer antirassistischen Demonstration in | |
Stockholm versichert. Das war Anfang September, als täglich Hunderte neuer | |
Flüchtlinge ins Land kamen. Als Neonazis sich zu den ersten Brandanschlägen | |
auf Asylunterkünfte bekannten und als die Zustimmungswerte der | |
rechtspopulistischen Schwedendemokraten nach oben schnellten. In Umfragen | |
platzierten sie sich mit 23 Prozentpunkten als zweitstärkste Partei. | |
## Tausende kommen täglich nach Schweden | |
Mittlerweile kommen täglich Tausende über die Grenze und die Prognose für | |
dieses Jahr wurde auf bis zu 190.000 Asylsuchende – darunter über 30.000 | |
allein reisende Kinder –mehr als verdoppelt. Auf deutsche | |
Bevölkerungsverhältnisse umgerechnet wären das 1,6 Millionen. | |
„In meinem Europa baut man keine Mauern“ hatte Ministerpräsident Löfven im | |
September verkündet. Sieben Wochen später verständigte sich seine rot-grüne | |
Regierung mit den liberalen und konservativen Oppositionsparteien auf | |
praktische und rechtliche Verschärfungen. Sie zielen darauf ab, Schweden | |
weniger attraktiv für Asylsuchende zu machen. Vor allem wird es für | |
syrische Flüchtlinge nur noch eine auf drei Jahre befristete | |
Aufenthaltserlaubnis geben. Familien mit Kindern und allein reisende Kinder | |
sollen aber auch weiterhin ein permanentes Bleiberecht erhalten. | |
Mit Ausnahme der Schwedendemokraten sind sich alle Parlamentsparteien nach | |
wie vor einig, dass das Land an seiner humanen Flüchtlingspolitik | |
festhalten soll: Schweden soll „anständig“ bleiben und nicht zu einem | |
zweiten Dänemark werden. Das Nachbarland, das es mit seiner | |
Abschottungslinie geschafft hat, dass mit 9.800 Asylsuchenden in den ersten | |
9 Monaten dieses Jahres weniger kamen, als nach Schweden derzeit pro Woche, | |
ist Vorbild der Rechtspopulisten. | |
Sie faseln von der „größten Katastrophe in der schwedischen Geschichte der | |
Neuzeit“, wollen die Grenzen dicht machen – notfalls höchstpersönlich –… | |
per Zeitungsannoncen in der Türkei, dem Libanon und Jordanien ihr | |
alternatives Schwedenbild vermitteln: „Dass Asylsuchende in Schweden nur | |
Zelte, Kälte, Schnee und keine Hilfe erwartet“, so die migrationspolitische | |
Sprecherin Paula Bieler. | |
## „Größte Katastrophe in der Geschichte“ | |
Selbst wenn laut Umfragen ein Fünftel der SchwedInnen offenbar Sympathien | |
für die Schwedendemokraten und solche Rezepte zeigt: Parallel zum | |
steigenden Flüchtlingsstrom sind die Zustimmungswerte für die | |
Rechtsaußenpartei in den letzten beiden Monaten erstmals seit einem Jahr | |
gesunken. Was im übrigen einer ähnlichen Tendenz bei ihren | |
Schwesterparteien in den anderen nordischen Ländern entspricht. | |
„Sie haben an Schwung verloren, weil sie von der Wirklichkeit überholt | |
wurden“, sagt Daniel Poohl, Chefredakteur der antirassistischen Zeitschrift | |
Expo: „Die Flüchtlinge sind da und davor kann man eben nicht einfach die | |
Augen verschließen.“ Der Zustrom sei durch Maßnahmen, die eine Mehrheit der | |
SchwedInnen akzeptieren würde – „anständig“ eben – nicht zu stoppen. … | |
wenn sich Brandanschläge auf geplante Asylunterkünfte in den letzten Tagen | |
so gehäuft haben, dass das Migrationsverket deren Standorte nun vor | |
Eröffnung nicht mehr öffentlich bekannt gibt. | |
In den vergangenen Jahren hat Schweden im Vergleich zur Bevölkerung soviel | |
Flüchtlinge aufgenommen, wie kein anderes EU-Land. Doch Stockholm stand | |
auch immer uneingeschränkt hinter der restriktiven EU-Politik der | |
geschlossenen Außengrenzen, die Tausenden Menschen das Leben kostete und | |
wurde aufgrund der Behandlung von Asylsuchenden wiederholt wegen Verstößen | |
gegen die Menschenrechtskonvention gerügt und verurteilt. | |
Wie an vielen anderen Orten im Land wird im kleinen Dorf Malexander gerade | |
die dort 2005 geschlossene Schule als vorläufige Flüchtlingsunterkunft | |
hergerichtet. Die Einwohnerzahl des idyllisch am Sommen-See gelegenen aber | |
seit Jahren von Abwanderung geprägten Ortes wird in der ersten | |
Novemberwoche von 245 auf 313 steigen. „Wir heißen die Flüchtlinge | |
willkommen“, schreibt der Dorfgemeinschaftsverein auf seiner Internetseite | |
und kündigt an: „Wir werden alle zusammen helfen!“ Kleidung wurde | |
gesammelt, Sprachkurse vorbereitet und man hat sich Gedanken über | |
Freizeitaktivitäten und praktische Unterstützung für die neuen | |
DorfbewohnerInnen gemacht. | |
Die syrischen Familien mit ihren Kindern versprechen in den außerhalb der | |
sommerlichen Touristensaison recht stillen Ort etwas mehr Leben zu bringen. | |
Und vielleicht auch wirtschaftliche Stimulanz: Für den kleinen Laden an der | |
Tankstelle wird es sich womöglich lohnen, in den Wintermonaten wieder zu | |
öffnen. | |
3 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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