# taz.de -- Hass in Deutschland: Wir haben ja nur den Stock besorgt | |
> Sie fühlen sich als Opfer, die niemand repräsentiert. Das Gegenteil ist | |
> der Fall: Die gesellschaftliche Mitte hat Gewalt und Hass entdeckt. | |
Bild: Pegidisten: gerne auch mit Südstaatenfahne | |
BERLIN taz | Es gab einen Moment im Leben von Arno Gruen, über den sich der | |
Herr mit den zerfurchten Wangen und dem so eigenen, unerschütterlichen | |
Blick immer wieder wunderte. Es war die Frage nach dem Rohrstock. Es war | |
Ende der Zwanzigerjahre, Gruen war sechs Jahre alt, als seine Lehrerin vor | |
ihm und seiner lärmenden Klasse stand. | |
Sie wollte einen Stock beschaffen, zur Züchtigung, denn sie hatte keinen. | |
Sie fragte ihre Schüler, wer denn gehen wolle, um den Hiebstock zu | |
besorgen. Arno Gruen hat sich damals nicht gemeldet – als Einziger. „Alle | |
wollten unbedingt den Stock kaufen, mit dem sie geschlagen werden sollten“, | |
schrieb er später. Das Ausgeliefertsein führt zu den seltsamsten Dingen. | |
Es gab wohl Gründe für diese Willigkeit: Würde nicht, wer den Stock | |
besorgte, noch am ehesten geschont werden? Und ist es nicht besser, an der | |
Seite der Täter zu stehen, als sich zum Opfer machen zu lassen? Die | |
Konkurrenz von 30 Kindern, die alle vielleicht bald zum Opfer werden | |
könnten, brachte kleine, scheue Mittäter hervor. Eins, das ist das Perfide | |
an der Taktik der Lehrerin, könnten diese Kinder immer sagen: Sie haben ja | |
nicht den Stock geführt, sie haben ihn nur besorgt. | |
Am Dienstag dieser Woche starb der Psychoanalytiker, dem es in seinem Leben | |
so sehr um Hass und Empathie und um die Angst vor dem Fremden ging, im | |
Alter von 92 Jahren. | |
Dies ist kein Nachruf, sondern eine Erkundung. Sie beginnt mit der Ohnmacht | |
und jenem Rohrstock, den 29 Kinder kaufen wollten, sie überspringt den | |
deutschen Nationalsozialismus, und zunächst überspringt sie auch einen | |
sächsischen Ort mit 33.800 Einwohnern und einem Sorbenbrunnen vor dem | |
Rathaus: Hoyerswerda. | |
## Bekennender Rechtsextremer | |
Die Erkundung führt direkt in die Gegenwart, auf einen Marktplatz in | |
Köln-Braunsfeld, auf dem sich am Samstag, den 17. Oktober 2015, ein | |
44-jähriger Mann einer Frau in grauer Steppjacke mit braun abgesetzten | |
Nähten nähert. Henriette Reker, die einen Tag später zur neuen | |
Oberbürgermeisterin von Köln gewählt werden wird, trägt neun orangefarbene | |
Rosen in der Hand. Dann sticht Frank S. ihr mit einem 46 Zentimeter langen | |
Jagdmesser in den Hals. Reker fällt auf den Boden, die Rosen auch. Frank S. | |
ist ein bekennender Rechtsextremer. | |
Zwei Tage später, am Montag, den 19. Oktober 2015, steht ein Mann namens | |
Akif Pirinçcivor Tausenden Menschen auf einer Bühne am Theaterplatz in | |
Dresden. Der Himmel ist nachtschwarz. Dann sagt der Mann, unter anderem, | |
diesen Satz: „Es gäbe natürlich andere Alternativen, aber die KZs sind ja | |
leider derzeit außer Betrieb.“ Es soll wohl eine ironische Anspielung sein. | |
Tröglitz. | |
Heidenau. | |
Hogesa. | |
[1][Über 60 Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte] allein in diesem | |
Jahr. Demonstranten, die Galgen mit sich führen. Der Hass ist da. | |
Gemeinhin heißt es, Hass entstehe aus Ohnmacht. Wo kulturelle und | |
gesellschaftliche, politische und materielle Teilhabe verwehrt blieben, | |
erwachse jenes Gefühl. Dies soll erklären, weshalb gerade im wirtschaftlich | |
abgehängten Osten und gerade im sogenannten Prekariat erst die Angst, dann | |
der Hass besonders ausgeprägt sind. Die Erklärung ist wahr, aber | |
unzureichend. | |
## Der Hassbürger | |
Der Kasseler Soziologe Heinz Bude kann erklären, wie es sich verhält mit | |
der Lehrerin und dem Stock. Denn viele wollen ja heute diejenigen sein, die | |
den Stock nur geholt haben. Schlagen? Nein, das würden sie nicht. | |
Flüchtlingsheime anzünden? Auch nicht. Bude nennt sie die „Hassbürger“. … | |
habe, sagt Bude, natürlich auch das Proletariat im Blick: die, die heute | |
die Pakete bringen. | |
Doch der Hassbürger entstamme einem anderen Gesellschaftskreis: einem | |
„Verbitterungsmilieu“ in der Mitte der Gesellschaft. „Das sind in der Reg… | |
Leute, die relativ hochgebildet sind; die sogar für sich in Anspruch | |
nehmen, dass sie ein offenes Weltbild haben, aber von dem tiefen Gefühl | |
geplagt sind, dass sie in ihrem Leben unter ihren Möglichkeiten geblieben | |
sind aufgrund von Bedingungen, die sie selbst nicht haben kontrollieren | |
können.“ Erhöht womöglich, wie damals in der Schulklasse von Arno Gruen, | |
wer reglos bleibt, die Chance, selbst zum Opfer zu werden? | |
Wenn Frank S., der Mann, der die Kölnerin Reker niedergestochen hat, die | |
Lehrerin ist in Gruens Schulszene, dann sind die Menschen auf den Straßen | |
Dresdens ihre Schüler. Sie sind in einer Art Zwischenrolle, weder Opfer | |
noch Täter. Sie machen doch nichts, sie sagen doch nur. Sie benennen. So | |
sehen sie das. Die Frage ist: Wann lässt ihre Angst, ihr Hass es zu, dass | |
sie Grenzen vergessen? | |
## Intellektuelle Lüge des Wohlstandsmilieus | |
Es ist eine intellektuelle Lüge des Wohlstandsmilieus, vermitteln zu | |
können, von Zuwanderung sei nur oder vor allem Gutes zu erwarten. Woher | |
sollen die sozial Gedemütigten und die verunsicherte Mittelschicht die | |
Erfahrung beziehen, dass signifikante Zuwanderung ihnen Gutes bringt? | |
Kann angesichts der Bilder kommender und wartender, orientierungsloser und | |
natürlich auch fordernder Mengen von Flüchtenden ein kollektives | |
Ohnmachtsgefühl entstehen, das ja gewohnheitsmäßig lange keinen Platz mehr | |
in der Alltagswahrnehmung dieses ordentlichen Deutschlands hatte? | |
Natürlich. Um ehrlich zu sein: Die Geschichte des deutschen | |
Sozialstaatsmodells hat nicht gerade bewiesen, dass große | |
Integrationsaufgaben von den Vermögenden dieses Landes bewältigt werden. | |
„Ab nach Auschwitz und Buchenwald, da ist genügend Platz, die Öfen müssen | |
nur angeheizt werden.“ Ein 44-jähriger Lkw-Fahrer aus einem Ort bei | |
Hoyerswerda, wo im September 1991 tagelang Hunderte Menschen ein | |
Flüchtlingsheim angriffen, hat diesen Satz erst vor kurzer Zeit auf | |
Facebook notiert. Die Bild-Zeitung hat seinen Satz dann herausgegriffen, | |
neben Dutzenden weiteren, und veröffentlicht. Als die Zeitung den Mann | |
danach befragte, sagte er: „Man muss auch mal überspitzen, um gehört zu | |
werden von der Obrigkeit. Ich entschuldige mich, dass ich so extreme Worte | |
gewählt habe.“ | |
Hass und Gewalt im Allgemeinen und Fremdenfeindlichkeit im Besonderen | |
entstehen, so heißt es gemeinhin, gerade dort, wo sich Menschen nicht mehr | |
repräsentiert fühlen. In Sachsen versucht die CDU seit Anfang der | |
Neunzigerjahre, genau diese dunkle Seite einer sich kollektiv ohnmächtig | |
fühlenden Bevölkerung zu repräsentieren, in der Regierung und ihren | |
Institutionen, bis hinein in die Staatsanwaltschaften. | |
## Die Repräsentierten | |
Auch jenseits von Sachsen gibt es kaum eine politische Sphäre, in der der | |
hassgetriebene Nationalismus nicht offenbar ist. Auf der Ebene des Terrors: | |
Brandanschläge, Mordversuche, Mord. Auf der Straße: Pegida und all ihre | |
Ableger. In der Opposition: die AfD. An der Regierung: Männer wie Horst | |
Seehofer, der Zonen und Zäune fordert und sich, als Ministerpräsident, auf | |
„Notwehr“ beruft. Notwehr, das ist die Gewissheit, affektiv handeln zu | |
können, ohne bestraft zu werden. Ist die Ohnmacht der Opfer also wirklich | |
unterrepräsentiert? Nein, ganz im Gegenteil. | |
Dürfen wir weiter ertragen, dass die vermeintliche Repräsentationskrise | |
derer, die in diesen Tagen den Diskurs bestimmen, ihre institutionellen | |
Entsprechungen erhält? In Form von Transitzonen und in Form von Zäunen? | |
Arno Gruen hob an jenem Schultag nicht seine Hand, als all seine Mitschüler | |
zum Rohrstock laufen wollten. Einige Jahre später, 1936, emigrierte der | |
damals 13-jährige Junge mit seiner jüdischen Familie in die USA, auf der | |
Flucht vor dem aufkommenden Nationalsozialismus. | |
23 Oct 2015 | |
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## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
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