# taz.de -- Essay Asylregelungen: Über ein kastriertes Grundrecht | |
> Das deutsche Asylrecht galt als das Leuchtfeuer der Verfassung. Nun wird | |
> daran herumgeflickt, bis es wegsaniert ist. | |
Bild: Die Zahl derer, die wirklich willkommen sind, wird immer weiter reduziert. | |
Es gab einmal den deutschen Innenminister Hermann Höcherl (CSU). Der | |
verteidigte illegale Abhörungspraktiken des Verfassungsschutzes einmal mit | |
dem Hinweis: „Die Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz | |
unter dem Arm herumlaufen.“ Das war im September 1963. Wenn man heute | |
Vorschläge zur „Lösung“ der Flüchtlingsfrage aus der ganz großen Koalit… | |
Umfragen und Teilen der Medien hört, verraten sie ein gleiches Verhältnis | |
zum Asylrecht. In Artikel 16, Absatz 2 des Grundgesetzes hieß es einst ganz | |
schlicht: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. | |
Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ | |
Dieses Recht nannte Burkhard Hirsch, der ehemalige Innenminister in NRW, | |
das „Leuchtfeuer der Verfassung“. Es war eine weltweit einzigartige Norm, | |
denn selbst der Art. 14.1 der Erklärung der Menschenrechte reicht weniger | |
weit: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl | |
zu suchen und zu genießen.“ | |
Der Art. 16 GG zeigt, welche Lehren die Väter und Mütter des Grundgesetzes | |
1949 in ihrer Beratung der Verfassung aus der zwölfjährigen Nazidiktatur | |
zogen, die 500.000 jüdische Bürger, oppositionelle Demokraten, Sozialisten | |
und Kommunisten ins Exil trieb. | |
Verglichen mit der schnörkellosen Diktion des Grundgesetzartikels wirkt der | |
geschäftsmäßige Jargon, mit dem der politisch herrschende Konformismus | |
heute das Asylrecht im Namen von „pragmatischem Humanismus“ aushebelt, nur | |
peinlich und provinziell: „Alles in der Welt ist ja relativ“, lautet der | |
steinern-behäbige Gemeinplatz des baden-württembergischen | |
Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Wer ihn kritisiert, bekommt seine | |
hausgemachten „Realitäten“ aufgetischt, die er mit wohlfeilen | |
Versprechungen ohne Datum und Substanz wie dem „Beschäftigungskorridor“ f�… | |
Balkanflüchtlinge garniert. Dieses Versprechen im papierenen Asylkompromiss | |
dient dem Ministerpräsidenten zur Selbstberuhigung über die Komplizenschaft | |
bei der bigotten Schandtat. | |
In seinem „pragmatischen Humanismus“ übertroffen wird Kretschmann nur noch | |
von seinem Parteifreund und Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der am | |
Grundgesetz vorbei „Obergrenzen“ für Asylbewerber einführen möchte, das | |
heißt, Flüchtlingen die Chancen zu nehmen, hier Schutz zu finden. Die | |
Abschiebung von Flüchtlingen mit militärischen Transportmaschinen findet | |
Palmer „hart, aber realistisch“ sowie „bitter, aber wahr“ – den Verzi… | |
auf Abschiebungen im Winter dagegen „nicht mehr zeitgemäß“. | |
Auf dieser Schwundstufe des „Humanismus“ trifft sich Palmer mit dem | |
Konservativen Reinhard Müller, der am 22. Oktober in der Frankfurter | |
Allgemeinen Zeitung schrieb: „Abschiebungen wirken inhuman – doch nur | |
deshalb, weil sie mit einer Illusion aufräumen. Humaner wäre es, | |
diejenigen, die ganz offensichtlich keinen Anspruch auf Schutz und Bleibe | |
haben, gar nicht ins Land zu lassen.“ Der Entschluss für Abschiebungen in | |
rechtsfreien Eilverfahren ist nur der letzte Akt beim Wegsanieren des | |
Asylrechts. | |
## Lange und trostlose Vorgeschichte | |
Solcher Umgang mit einem grundgesetzlich garantierten Recht für politisch | |
Verfolgte hat eine lange und trostlose Vorgeschichte. Als in den 1980er | |
Jahren immer mehr Asylsuchende aus den Krisengebieten in Asien, Afrika und | |
aus Europa, speziell aus der Türkei, nach Deutschland kamen, und erst recht | |
seit dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, stieg die Zahl der nur | |
geduldeten Kriegsflüchtlinge 1992 auf 640.000 und die der übrigen | |
Asylsuchenden auf 620.000. | |
Im Schulterschluss mit Boulevardmedien und konservativen Zeitungen, die wie | |
die rechtsradikale NPD hemmungslos von „Asylbetrug“ und „Asylmissbrauch“ | |
redeten, entfachte die CDU unter ihrem damaligen Generalsekretär Volker | |
Rühe eine Kampagne gegen Asylsuchende, die nun abwertend als „Asylanten“ | |
oder „Scheinasylanten“ und „Asylbetrüger“ bezeichnet wurden. Ziel der | |
Kampagne war es, die SPD weichzuklopfen, die man für die | |
Zweidrittelmehrheit zur Änderung des Asylrechts im Grundgesetz brauchte. | |
Hetze gegen Asylsuchende wurde zum Wahlkampfschlager, nachdem Volker Rühe | |
die SPD zur „Asylantenpartei“ erklärt hatte, und der bayerische | |
Ministerpräsident Max Streibl (CSU) vor der „multikriminellen“ und sein | |
Parteifreund Edmund Stoiber (CSU) vor der „durchrassten Gesellschaft“ | |
warnten. Schon 1990 brachte die CDU/CSU die Zahl von 50 Millionen | |
Asylsuchenden in einer von der Springerpresse orchestrierten Kampagne ins | |
Spiel. Der Historiker Ulrich Herbert bezeichnete diese als „polemischste | |
und folgenreichste Auseinandersetzung der Nachkriegsgeschichte“. | |
Am 26. Mai 1993 war es so weit: Auch die SPD stimmte einer | |
Grundgesetzänderung zur Neufassung des Asylrechts zu. Die Änderung war | |
gleichbedeutend mit der Austreten des „Leuchtfeuers“ Asylrecht. Obendrein | |
wurde dabei die glasklare, jedem Bürger verständliche Diktion der | |
Verfassung ersetzt durch ein juristisches Kauderwelsch, in dem sich nur | |
noch Paragrafenhengste zurechtfinden. | |
Der erste Absatz des Art. 16a GG wiederholt zwar den Kernsatz des | |
Asylrechts: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, aber nur, um diese | |
Norm mit dem zweiten Satz wieder zu kassieren: „Auf Absatz 1 kann sich | |
nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der EU oder einem sicheren | |
Drittstaat einreist.“ Damit wurde die moralische Selbstverpflichtung des | |
Landes zur Aufnahme politisch Verfolgter durch ein robustes Mauerwerk aus | |
Paragrafen ersetzt. Flüchtlinge konnten fortan nur noch per Flugzeug oder | |
Schiff nach Deutschland einreisen. | |
## Trend zur Aushöhlung | |
Aufgrund der rigiden Einschränkung des Asylrechts sank die Zahl der Anträge | |
von 322.599 (1993) auf 50.563 zehn Jahre später und ganze 19.164 im Jahr | |
2007. Durch eine schikanöse Handhabung des Residual-Rechts auf Asyl – mit | |
eingeschränkten Leistungen, Sach- statt Geldleistungen, Arbeitsverbot, | |
Gemeinschaftsunterkünften und anderen Abschreckungsmaßnahmen – gelang es, | |
die Zahl der anerkannten Asylberechtigten nach Art. 16a GG 2008 auf 233 | |
Personen zu drücken. 1994 waren es noch über 25.559. Das | |
Bundesverfassungsgericht kritisierte in einem Urteil von 1996 bereits die | |
„Erosion des Asylrechts“, konnte aber den Trend zur Aushöhlung nicht | |
unterbinden. Mit dem neuen Art. 16a GG hatte das Land „die neue Mauer“ | |
errichtet, die Justizminister Heinrich Lummer (CDU) schon im Herbst 1992 | |
gefordert hatte. | |
Am kastrierten Asylrecht wird nun seit über 30 Jahren im | |
Vierteljahresabstand herumgeflickt vom „Asylbewerberleistungsgesetz“ (1. | |
11. 1993) bis zu den jüngsten Vorschlägen zur Einrichtung von rechtsfreien | |
Transitzonen, Abschiebezentren, Eilverfahren und „Hotspots“ am Rande | |
Europas, um die Festung Europa zu verteidigen, da die 1993 errichteten | |
Rechtsschranken nun wanken. | |
Als Vorbild dient der deutschen Politik die Schweiz, wo im Prinzip das | |
großzügige Asylrecht von 1981 gilt, wonach Schutz findet, wer „in seiner | |
Heimat wegen Rasse, Religion, Nationalität, sozialer Stellung oder | |
politischer Anschauung“ verfolgt wird. Unter dem Druck der Medien und der | |
rechtspopulistischen Partei des Milliardärs Christoph Blocher (SVP), der | |
das Asylrecht suspendieren und die Grenzen abriegeln möchte, änderte das | |
Berner Parlament das Asylrecht seit 1981 zehnmal, zuletzt 2013. Mit dem | |
System der direkten Demokratie hat das so viel und so wenig zu tun wie der | |
Aufstieg des Front National mit dem republikanischen System. | |
Als Renner, für den sich CDU-Landtagsfraktionen und die Kanzlerin | |
interessierten, erwies sich das Schweizer „48-Stunden-Verfahren“ von 2012, | |
mit dem Flüchtlinge aus Balkanstaaten nach zwei Tagen mit ultraschnellen | |
Anhörungs-, Prüfungs- und Entscheidungsverfahren zurückgeschickt werden. | |
Asylgesuche aus Balkanstaaten haben seither abgenommen, die Abschreckung | |
funktioniert. | |
## „Fast-Track-Verfahren“ | |
Ein typisch schweizerisches Verfahren entwickelte man gegen Asylsuchende | |
aus Afrika. Im „Fast-Track-Verfahren“ bieten die reichen Eidgenossen diesen | |
2.000 Franken „Rückkehrhilfe“, wenn sie freiwillig ausreisen. Diese zentral | |
geführten Verfahren werden in 35 bis 65 Tagen durchgezogen. Damit will die | |
Schweiz auch Sozialhilfeleistungen sparen. | |
Diese buchhalterisch-monetaristische „Lösung“ humanitärer Probleme passt | |
hervorragend zur neoliberal und rechtspopulistisch imprägnierten | |
Selbstgerechtigkeit der heutigen Schweiz. Das war auch schon mal anders. | |
Der 1848 gegründete, liberal-demokratische Bundesstaat gewährte | |
Oppositionellen aus vielen Ländern Asyl – Republikanern, Demokraten, | |
Sozialisten, Anarchisten, Deserteuren. Der Kleinstaat widerstand dem | |
politischen Druck der Großmächte Wien, Sankt Petersburg und Berlin. Erst | |
nach 1933 verhärtete sich die Haltung der Schweiz gegenüber Flüchtlingen. | |
24 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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