# taz.de -- Kommentar Merkels Flüchtlingspolitik: Nur gute Miene oder mutige P… | |
> Christliche Nächstenliebe – oder verlogene Gesten? Merkels | |
> Flüchtlingspolitik wird von zwei taz-Autoren sehr unterschiedlich | |
> beurteilt. | |
Bild: Kanzlerin Merkel „schafft das schon“. | |
## Nur ein freundliches Gesicht | |
Na toll, ihr besorgten Bürger! So weit habt ihr es schon gebracht mit eurer | |
paranoiden Überfremdungsfurcht, eurer Pöbelei vor Flüchtlingsheimen und | |
euren Facebook-Hetzbildchen. Dass einem allmählich schon Leute wie Til | |
Schweiger sympathisch werden. Oder Angela Merkel. Ein Herz für die | |
Kanzlerin? Da gehen doch endgültig alle unsere abendländischen Werte und | |
Traditionen verloren! | |
Selbstverständlich wirkt Merkel wie eine Ausgeburt an Warmherzigkeit und | |
Rationalität, wenn man sie neben Finsterlinge wie Markus Söder oder Frauke | |
Petry stellt. In einem tiefen Kellerloch erscheint eben auch die trübste | |
Funzel noch als strahlendes Licht. Aber deswegen die Kanzlerin gleich zur | |
Vorkämpferin für Humanität verklären? | |
Nur weil sie nicht mitmacht beim Volkssturmsport Flüchtlingsbashing? Weil | |
sie die intellektuell entkernte Plattitüde „Wir schaffen das“ gesagt hat? | |
Wenn sie sich dafür entschuldigen müsse, den Flüchtlingen ein freundliches | |
Gesicht zu zeigen, dann sei das nicht ihr Land, hat Merkel gesagt, und | |
dafür wird sie nun also als Lichtgestalt gefeiert. Aber wie sieht es denn | |
aus, dieses freundliche Gesicht Deutschlands, das die Flüchtlinge so gütig | |
anstrahlt? | |
Mit genau diesem Gesicht exportiert Deutschland die Waffen in alle Welt, | |
mit denen die Häuser der späteren Flüchtlinge in Schutt und Asche | |
geschossen werden. Dieses Gesicht lächelt gewinnend bei jedem | |
Geschäftsabschluss mit arabischen Despoten, die später zur Wahrung ihrer | |
Machtinteressen genau jene islamistischen Terroristen nähren, vor denen die | |
Menschen dann fliehen. Es wirkt auch sehr warmherzig bei | |
Vertragsabschlüssen für Handelsabkommen, die wirtschaftliche Strukturen in | |
den Herkunftsländern so zu zerstören, dass es Menschen als attraktivere | |
Alternative erscheint, ihre Heimat zu verlassen und durch die Wüste in | |
Richtung Europa zu irren. | |
Vielleicht ein bisschen ernst, aber ganz sicher nicht unfreundlich schaute | |
das Gesicht drein, als beschlossen wurde, die Außengrenzen der EU so | |
abzuschotten, dass jeder Versuch, das grundgesetzlich verbriefte Recht auf | |
Asyl in Anspruch zu nehmen, zum lebensgefährlichen Himmelfahrtskommando | |
wurde. Nachdem zuvor freundlich lächelnd schon praktisch jede Möglichkeit, | |
legal in Deutschland Asyl zu suchen, abgeschafft worden war. | |
Ein freundliches Gesicht schließlich, das ein ohnehin absurd unzureichendes | |
Rettungsprogramm wie „Mare Nostrum“ ersetzt hat gegen eine nur als | |
vorsätzliches Absaufenlassen zu begreifende Abschreckungsmaßnahme wie | |
„Triton“. Kurz: Das Gesicht Deutschlands ist so freundlich wie das eines | |
Mafioso, der einem erst zwischen die Beine tritt, um einem dann lächelnd | |
die Hand zum Aufstehen zu reichen. Und Angela Merkel ist sozusagen die | |
Patin. | |
Angesichts dessen ist die Idee, der Kanzlerin nun den Friedensnobelpreis zu | |
verleihen, ganz zauberhaft. Da könnte man ihn ja gleich an Politiker geben, | |
die Krankenhäuser in Krisengebieten bombardieren lassen. In diesem Sinne | |
wäre ein solcher Schritt durchaus konsequent. Aber nur, wenn die | |
Auszeichnung dann gerecht verteilt und neben Merkel zumindest auch noch, | |
sagen wir, Putin und Erdoğanbedacht werden. Die freundlichen Gesichter | |
unserer Welt eben. HW | |
## Anwältin der Nächstenliebe | |
Angela Merkel hat ein Machtwort gesprochen. Nicht im Basta-Stil wie ihr | |
Vorgänger Gerhard Schröder. Aber sie hat sich in eine TV-Talkshow begeben, | |
um sich gegen Kritik gerade aus den eigenen Reihen zu verteidigen. Und sie | |
hat die Verantwortung für die Flüchtlingspolitik ihrem Innenminister de | |
Maizière entzogen, der zuletzt wirkte, als sei er von der CSU | |
ferngesteuert. Damit hat sie, wie einst Schröder, ihr politisches Schicksal | |
an eine Agenda geknüpft. Scheitert ihre Flüchtlingspolitik, scheitert | |
Merkel. | |
Ihr Auftritt bei „Anne Will“ dürfte ihre Gegner kaum besänftigt haben. | |
Unbeirrt hielt sie an ihrem „Wir schaffen das“-Credo fest und bekannte sich | |
zu einer vergleichsweise humanen Flüchtlingspolitik. Es habe keinen Sinn zu | |
versprechen, der Treck nach Europa ließe sich stoppen, wandte sie sich an | |
die Adresse von Horst Seehofer. Und den Vorwurf, sie habe Syrer quasi nach | |
Deutschland eingeladen, konterte sie salopp: „Glauben Sie, dass Flüchtlinge | |
ihr Land verlassen wegen eines Selfies mit der Kanzlerin?“ | |
Merkel geht ein beachtliches Risiko ein: Es ist nicht ausgemacht, dass die | |
Mehrheit der Deutschen sich nicht doch überfordert fühlt, sollte die Zahl | |
der Flüchtlinge weiter anschwellen. Schon jetzt ist ihre Beliebtheit in | |
Umfragen gesunken, und es knarzt kräftig im Gebälk der Union. Merkel kann | |
derzeit mehr auf die SPD bauen als auf ihre eigene Partei. Sie weiß aber, | |
dass es derzeit in der CDU keine personelle Alternative gibt, die ihr | |
gefährlich werden könnte. | |
Klar, Merkel wird dadurch noch lange keine Linke. Eher verteidigt die | |
Pastorentochter das Prinzip der christlichen Nächstenliebe gegen jene, die | |
ihre Vorstellung eines christlich geprägten Abendlands auf | |
Abschottungsfantasien gründen. Aber klar auch, dass das manche Linke | |
verwirrt: Muss man Merkel jetzt gut finden? Ein guter Typ, nur leider in | |
der falschen Partei – dieses zweischneidige Kompliment ist schon vielen | |
großen Kanzlern gemacht worden. | |
Dabei ist Merkel nie für einen „ungesteuerten Zustrom“ eingetreten, wie ihr | |
Kritiker von rechts unterstellen. Sie ist für raschere Abschiebungen, eine | |
stärkere Abschottung der EU-Außengrenzen und will mehr Geld für die | |
Flüchtlingscamps in der Türkei, damit weniger Menschen von dort nach Europa | |
wollen. Aber sie wolle „nicht in einen Wettbewerb eintreten, wer | |
Flüchtlingen das unfreundlichste Gesicht zeigt“, sagte sie bei „Anne Will�… | |
Es wird sich zeigen, ob sie dieses Versprechen halten kann. Wenn es nach | |
manchen in der Union geht, sollten Flüchtlinge an den deutschen Grenzen | |
gleich wieder zurückgeschickt werden. Und Merkels Parteifreunde in den | |
Bundesländern, in denen im nächsten Jahr Landtagswahlen anstehen, schlagen | |
ganz andere Töne an: Julia Klöckner will Imame zum Händeschütteln zwingen. | |
Und Thomas Strobl tönt, in Deutschland herrsche nicht das Gesetz des | |
Propheten. | |
Ob das reichen wird, die „besorgten Bürger“ bei der Stange zu halten, die | |
sich vor zu viel Flüchtlingen fürchten? Die Alternative für Deutschland | |
steht schon bereit, die Unzufriedenen einzusammeln, die sich von der | |
Merkel-CDU nicht mehr vertreten fühlen. Sie könnte damit in den nächsten | |
Bundestag einziehen. Diese Konsequenz ihrer Richtungsentscheidung hat | |
Merkel offenbar eingepreist. DB | |
8 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Heiko Werning | |
Daniel Bax | |
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