# taz.de -- Angela Merkel bei Anne Will: Optimismus ist ein Holunderbonbon | |
> Mehr Gerechtigkeit – ist das zu schaffen? Die Kanzlerin gibt sich | |
> optimistisch und steht zu ihren humanistischen Überzeugungen. Wie | |
> irritierend. | |
Bild: „Wir schaffen das. Da bin ich ganz fest von überzeugt“, sagte Merkel… | |
Fast hätte die Autorin dieses Textes den Beginn der | |
Supermerkel-Krisentalkshow verpasst. Auf ihrem Heimweg nämlich hatte sie in | |
der S-Bahn eine Gruppe Flüchtlinge getroffen: drei Erwachsene, die mit | |
sauber bestempelten Papieren und ihren sechs Kindern durch Berlin geirrt | |
waren. Zu später Stunde stapfte also die Autorin mit der kleinen Karawane | |
durch Brandenburg, um sie am Ende in einer ehemaligen Kaserne einem | |
zweifellos netten, aber völlig überforderten Sicherheitsmann zu übergeben. | |
Er sprach zwar kein Wort Englisch, war sich aber andererseits ganz sicher, | |
dass mit diesen sechs erschöpften Kindern, der hochschwangeren Frau und den | |
beiden bartschattigen Männern gerade ein Riesenproblem vor ihm aufgetaucht | |
war. „Die kommen alle in die Turnhalle, sagen Sie denen das!“ Und dass er | |
gerade gar nicht wisse, ob noch Bettwäsche vorrätig sei. | |
Es dauerte deshalb also alles ein bisschen länger, bis die Autorin hin und | |
her übersetzt hatte, bis sie für die übermüdeten Kinder ein paar | |
Holunderbonbons aus der Tasche gekramt und bis sie dem Sicherheitsmann das | |
feste Versprechen abgenommen hatte, diese Leute auf keinen Fall wieder | |
wegzuschicken. Ansonsten: hier meine Telefonnummer. Sie schaffen das doch, | |
oder? „Klar, ich schick doch die kleenen Dinger nicht in die Nacht.“ | |
Um Punkt Viertel vor zehn also sank die Autorin in ihren Fernsehsessel, auf | |
den Knien ihren Laptop, neben sich ein Glas Wein, in sich ein ganz maues | |
Gefühl. Das Thema, zu dem sich die Kanzlerin bei Anne Will jetzt gleich | |
äußern würde, die Frage der Unterbringung von Hunderttausenden Flüchtlingen | |
– ist dieses Problem überhaupt zu bewältigen? | |
## Schwangerschaftsyoga und dunkle Turnhallen | |
Die neun Menschen, die jetzt gerade hoffentlich ihre Bettdecken bezogen, | |
hatten wenigstens ein festes Dach über dem Kopf. Aber war das | |
menschenwürdig? Für eine Schwangere? Für kleine Kinder, die Platz und Licht | |
brauchen? In einem Land, in dem Frauen Schwangerschaftsyoga machen und | |
Kinder in ökologisch sanierte Kitas gehen? Mehr Gerechtigkeit – ist so was | |
zu schaffen? | |
Angela Merkel war dann deutlich optimistischer. „Wir schaffen das. Da bin | |
ich ganz fest von überzeugt“, sagte die Kanzlerin. „Stellen Sie sich vor, | |
wir sagen, wir schaffen das nicht“, stellte sie Anne Will die Gegenfrage. | |
„Und dann? Optimismus und innere Gewissheit – so gehe ich da ran.“ Man | |
spürte: Das meinte sie tatsächlich so. Angela Merkel kommt nicht umsonst | |
aus einem Pfarrershaus. Ihre Sätze hatten zweifellos etwas | |
Bekenntnishaftes. Macht mit mir, was ihr wollt – ich kann nicht anders. | |
So erfreulich es ist, dieser Regierungschefin dabei zuzusehen, wie sie vor | |
einem Millionenpublikum zu ihren humanistischen Überzeugungen steht – so | |
irritierend ist das auch. Noch nie, das spürt man, war die Kanzlerin so | |
weit entfernt von ihrer Partei. Von deren zwar christlichen, gleichwohl im | |
nun eingetretenen Bewährungsfall kühl besitzstandswahrenden Grundsätzen: | |
Hilfe gern, aber nur solange sich nichts an unserem Leben ändert. Das kann | |
Angela Merkel nicht mehr versprechen. | |
## Entfremdung und der endgültige Bruch | |
Und genau das könnte zu Entfremdung und zum endgültigen Bruch führen. Man | |
kennt das. Nachdem der SPD-Kanzler Gerhard Schröder 2003 mit der Agenda | |
2010 Maßnahmen fernab vom sozialdemokratischen Selbstverständnis verkündet | |
hatte, kündigte ihm seine Partei die Gefolgschaft. Zwei Jahre später war | |
Angela Merkel Regierungschefin. | |
Als Anne Will Merkel also fragt, ob sie ihre Kanzlerschaft mit der | |
Flüchtlingsfrage verknüpfe, antwortete sie: „Ich werbe für meinen Weg.“ … | |
dass sie bereit ist, für die Lösung des Flüchtlingsproblems zu kämpfen, | |
„wie ich es nur kann“. Flüchtlinge, jeder einzelne von ihnen, sind für sie | |
„Menschen, die ihre Heimat bestimmt nicht leichtfertig verlassen haben“. | |
Am Morgen nach der Supermerkel-Krisentalkshow wachen sechs Kinder in einer | |
Brandenburger Sporthalle auf. Mehr ist gerade nicht drin. Aber es ist: ein | |
Anfang. | |
8 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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