| # taz.de -- Flüchtlingskrise im Feuilleton: Im Geiste „Schiffe versenken“ | |
| > Konservative Feuilletonisten wettern gegen die Flüchtlingspolitik der | |
| > Kanzlerin. Und ihre Parolen finden auf den Straßen Widerhall. | |
| Bild: Thilo Sarrazin. 2010 erschien sein Buch „Deutschland schafft sich ab“. | |
| Die „Flüchtlingskrise“ ist vor allem eine Krise der Worte. Niemand weiß, | |
| wie viele Flüchtlinge in diesem Jahr nach Deutschland kommen und wie viele | |
| hier bleiben werden. Aber dass Angela Merkel das offen zugibt und mit der | |
| Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn ein Zeichen der Großzügigkeit setzte, | |
| hat sie für konservative Leitartikler und Feuilletonisten zum Feindbild | |
| gemacht. | |
| Sollten Historiker in Zukunft einmal ergründen wollen, wie die Stimmung in | |
| Deutschland in der Flüchtlingsfrage so schnell kippen und Merkel so unter | |
| Druck geraten konnte, werden sie nicht umhinkommen, sich die Rolle der | |
| meinungsbildenden Medien anzuschauen. Und dabei dürften sie zu dem Schluss | |
| kommen, dass diese den Stimmungsumschwung kräftig herbeigeschrieben haben. | |
| Noch bevor der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer und Teile ihrer | |
| eigenen Partei offen Front gegen Merkel machten, setzten die Leitmedien den | |
| skeptischen Ton. „Weiß sie, was sie tut?“, fragte die Zeit und unterstellte | |
| ihr damit quasi Unzurechnungsfähigkeit. Und der Spiegel porträtierte sie | |
| auf dem Titel als barmherzige Mutter Teresa, raunte von „Abenteuer“ und | |
| warf ihr vor, Europa zu spalten – (wohlgemerkt Merkel und nicht der | |
| ungarische Staatschef Victor Orbán, der die Fraktion jener osteuropäischen | |
| Länder anführt, die am liebsten überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen | |
| möchten). | |
| Ein begriffliches Gegensatzpaar hat sich seitdem in der Flüchtlingsdebatte | |
| fest etabliert: „Gefühl“ gegen „Verstand“ – ganz so, als ob ausgerec… | |
| Angela Merkel jemals gefühlsgesteuert agierte und ausgerechnet Victor Orbán | |
| noch bei Verstand sei. | |
| ## Ein „fast nationalistischer Pathos“ | |
| Man hätte ja auch stolz sein können darauf, dass die Kanzlerin mit ihrer | |
| humanitären Geste eine Debatte angestoßen, eine Führungsrolle übernommen | |
| und andere Regierungen in Europa unter Druck gesetzt hat, selbst mehr | |
| Flüchtlinge aufzunehmen. Das wäre angesichts der globalen Verantwortung für | |
| die Flüchtlinge eigentlich nur konsequent. In Polen oder Großbritannien hat | |
| sich seither der Ton der Debatte geändert, linke, liberale und kirchliche | |
| Kräfte in diesen Ländern sahen sich durch Merkel ermutigt. | |
| Konservative Kommentatoren und Intellektuelle in Deutschland selbst sehen | |
| das aber negativ. Der Historiker Heinrich August Winkler deutete den Kurs | |
| der Bundeskanzlerin als Ausdruck einer „moralischen Selbstüberhöhung“ und | |
| meinte, einen „fast nationalistischen Pathos“ zu erkennen. | |
| Und der Spiegel-Kolumnist [1][Jan Fleischhauer warnte vor einem „deutschen | |
| Sonderweg“ in der Flüchtlingsfrage und sah „Chauvinismus“ und einen | |
| „Imperialismus des Herzens“ am Werk]. Beide befinden sich damit auf einer | |
| Wellenlänge mit Ungarns Staatschef Victor Orbán, der den Deutschen | |
| „moralischem Imperialismus“ vorwarf. So wenig Nationalstolz war unter | |
| deutschen Konservativen selten, so viel deutscher Selbsthass noch nie. | |
| Auch die Angstbilder aus den Islamdebatten der letzten Jahre tauchen in der | |
| Flüchtlingsdebatte wieder auf. Die Angst vor einer „Islamisierung“, vor der | |
| auch viele Intellektuelle nicht frei sind, paart sich jetzt mit der Furcht | |
| vor dem Kontrollverlust. Der Fernsehphilosoph Rüdiger Safranski, 70, wirft | |
| der Kanzlerin vor, Deutschland zu „fluten“, und meint daran erinnern zu | |
| müssen, dass die Verfassung über dem Koran stehe. | |
| ## „Völkerwanderung“ oder gar „Invasion“ | |
| Auch die [2][Schriftstellerin Monika Maron, 74, sieht „vorwiegend junge, | |
| muslimische Männer“, die „unkontrolliert nach Deutschland“ strömten], u… | |
| erschaudert. | |
| Heinz Buschkowsky, 67, fantasiert mittlerweile von zehn Millionen | |
| Flüchtlingen, deren „muslimische Weltsicht“ mit „dem | |
| demokratisch-westlichen Wertekanon nicht kompatibel“ sei. Der Muslimfresser | |
| Thilo Sarrazin durfte in der Zeit bereits im Geiste „Schiffe versenken“ | |
| spielen. Und der Dorfdichter Botho Strauss, 70, warnt vor einer „Flutung | |
| des Landes mit Fremden“ und die angeblich drohende „Auslöschung“ der | |
| Deutschen durch Muslime. Andere Stimmen raunen von „Völkerwanderung“, | |
| „Bevölkerungsaustausch“ oder gar „Invasion“. | |
| Als Scharfmacher geriert sich auch der Historiker und Osteuropa-Experte | |
| Jörg Baberowski, 54. In der Neue Zürcher Zeitung beklagte er, die Kanzlerin | |
| breche europäisches Recht, forciere eine „unkontrollierte | |
| Masseneinwanderung“ und führe Deutschland in eine „Katastrophe“, das Land | |
| werde sich „bis zur Unkenntlichkeit verändern“. Sein Fazit: Merkel müsse | |
| zurücktreten. | |
| Das finden auch Roland Tichy, 60, Exchefredakteur der Wirtschaftswoche und | |
| häufiger Talkshowgast, sowie der Welt-Kolumnist Henryk Broder, 69, der | |
| Merkel jüngst „Untreue im Amt“ vorwarf, habe sie doch einen Eid geschworen, | |
| Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, und nun tue sie das Gegenteil. Von | |
| da ist es nicht mehr weit zum Ruf „Volksverräterin“ und dem Pegida-Galgen | |
| für Merkel. | |
| ## „Merkel muss weg“ | |
| Man könnte das als einen Aufstand gekränkter Bürger abtun, die unter | |
| Altersradikalismus leiden, aber die Promipublizisten dienen als | |
| Stichwortgeber für rechte bis rechtsextreme Kreise. Manchmal ganz direkt: | |
| Baberowski wurde Anfang Oktober zu einem CSU-Kongress in Erding geladen, | |
| seine Thesen werden aber auch von der NPD geteilt. Und Thilo Sarrazin trat | |
| kürzlich vor der rechtspopulistischen FPÖ auf, wo er sich mit deren | |
| Parteichef, dem Exburschenschaftler Heinz-Christian Strache einig war, dass | |
| Europa seine Grenzen schließen müsse. | |
| Die Parolen finden aber auch auf der Straße ihren Widerhall. „Merkel muss | |
| weg“, skandierten Tausende AfD-Demonstranten in den vergangenen Wochen in | |
| Erfurt und Magdeburg. Und Götz Kubischek, ein Vordenker der neuen Rechten, | |
| rief bei Pegida in Dresden die Deutschen zum Widerstand gegen eine | |
| angeblich drohende „Auflösung unseres Volkes“ auf. | |
| Zu viele nehmen das wörtlich. Rund 500 Übergriffe auf Flüchtlingsheime | |
| haben die Polizeibehörden allein in diesem Jahr bereits gezählt. Die | |
| Messerattacke von Köln fügt sich in diese Logik der Eskalation. | |
| Dass solche Täter glauben können, sie agierten als Vertreter eines | |
| heimlichen Volkswillens, liegt auch an der Radikalisierung in manchen | |
| Feuilletons. | |
| 19 Oct 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlingskrise-die-rueckkehr-d… | |
| [2] http://www.welt.de/debatte/kommentare/article147213299/Genau-die-Kanzlerin-… | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Bax | |
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