| # taz.de -- Im größten Squat Athens: Nicht am Ziel ihrer Träume | |
| > Im Häuserblock Prosfygika leben Bewohner, Besetzer – und Flüchtlinge. Für | |
| > sie ist das Projekt Mittel zum Zweck, nicht zum Kampf. | |
| Bild: Prosfygika heißt auf Griechisch Flüchtling: Rund 300 Menschen leben in … | |
| Athen taz | Kam hockt in einem Innenhof vor der bröckelnden Fassade eines | |
| Hauses. Der kaum 1,60 Meter große junge Mann mit der Beatles-Frisur steckt | |
| sich eine Zigarette an, prüfend wandert sein Blick umher. Ein Straßenhund | |
| mit zerzaustem Fell humpelt an ihm vorbei, eine lädierte Taube sucht das | |
| Weite. „Ella“, ruft er dem Hund zu, „komm!“ Es ist eines der wenigen | |
| Wörter, die Kam auf Griechisch kennt. | |
| Der 23-jährige Afghane ist auf seinem Weg nach Europa in Athen gestrandet. | |
| Hier wartet er seit sechs Monaten auf die Anerkennung als Flüchtling. | |
| Sobald Kam gültige Papiere hat, will er Griechenland verlassen. Zurück nach | |
| England, wo er schon einmal drei Jahre gelebt hat, oder auch nach | |
| Deutschland oder Schweden. „Erst musst du in Sicherheit sein, und dann | |
| kannst du anfangen zu leben – egal wo“, sagt er. | |
| Bis es so weit ist, hat Kam Zuflucht bei Bekannten in Prosfygika gefunden, | |
| einem Häuserkomplex in der Innenstadt Athens. Prosfygika ist ein Squat, der | |
| wohl größte in ganz Griechenland. Acht dreigeschossige Bauten stehen dicht | |
| an dicht, ein von der Gesellschaft vergessener Ort, ein Hort der Armut; | |
| manche würden es wohl als Slum bezeichnen. | |
| Die gelbe Fassade der Häuser ist wie durch einen Schmutzschleier verhangen, | |
| überall blättert der Putz von den Wänden. Dass die Balkone noch an Ort und | |
| Stelle sind, grenzt an ein Wunder. Viele Fensterscheiben in den | |
| Treppenaufgängen sind zerschlagen, die Wände mit Graffiti besprüht. Vom | |
| Rest der Stadt ist das Areal städtebaulich abgegrenzt, ringsherum erheben | |
| sich mächtige Bauten: der oberste Gerichtshof, die Hauptwache der Polizei, | |
| ein Krankenhaus und das Stadion von Panathinaikos Athen, dem beliebtesten | |
| Fußballverein des Landes. | |
| Die Krise, die Griechenland seit 2010 erfasst hat, zeigt sich in Prosfygika | |
| schon deutlich länger. Ursprünglich hatte der Staat alle 228 Wohnungen | |
| aufkaufen wollen. Doch das Vorhaben scheiterte 2001 an einer erfolgreichen | |
| Klage von 51 Bewohnern, die ihre Wohnungen nicht verkaufen wollten. Statt | |
| des geplanten Abrisses der Häuser folgte die Besetzung der übrigen | |
| Wohnungen durch die Ärmsten der Armen: Obdachlose, Drogenabhängige, | |
| Flüchtlinge. Heute leben hier drei Gruppen von Menschen: die früheren | |
| Bewohner, die mittlerweile in der Minderheit sind; die Aktivisten, die mit | |
| der Besetzung ihre politischen Ziele verwirklichen wollen und das Projekt | |
| zusammenhalten; und Flüchtlinge wie Kam, die meisten aus dem Iran und | |
| Afghanistan. | |
| Dass sie heute ausgerechnet hier leben, macht aus dem Wohnkomplex einen | |
| Ort, an dem sich die Geschichte kreuzt oder schließt: „Prosfygika“ bedeutet | |
| übersetzt Flüchtlinge. Die Häuser wurden in den frühen 1930er Jahren | |
| errichtet. Sie sollten einem kleinen Teil der insgesamt 1,5 Millionen | |
| vertriebenen griechisch-orthodoxen Bürger Kleinasiens Zuflucht bieten, die | |
| infolge des griechisch-türkischen Kriegs von 1919 bis 1922 vertrieben | |
| wurden. | |
| ## Bankkarte in England | |
| Die Erzählung seines Lebens, die Kam an diesen Ort führte, erledigt er im | |
| Schnelldurchlauf, als müsse er gleich wieder aufbrechen. Als er noch ein | |
| Kind war, floh seine Familie in den Iran. Dort sind sie bis heute nur | |
| Bürger zweiter Klasse, ohne Chance auf Papiere. Mit 17 brach er auf, | |
| schaffte es über die französische Küstenstadt Calais bis nach England – der | |
| Liverpool FC ist Kams Lieblingsverein. Drei Jahre lebte er in Derby, hatte | |
| „ein richtiges Zuhause“. Sogar eine Bankkarte habe er besessen, berichtet | |
| er. Dann die Abschiebung zurück nach Afghanistan. | |
| Drei Wochen später der nächste Anlauf. Bei dem Versuch, in Griechenland ein | |
| Schiff in Richtung Italien zu besteigen, schnappt ihn die griechische | |
| Polizei. Es folgt die schlimmste Zeit seines Lebens: 18 Monate im | |
| geschlossenen Lager in Komotini im äußersten Nordosten des Landes, mit acht | |
| Mann in einem Raum und nur einer Stunde Ausgang am Tag. Nicht mal einen | |
| Ball oder Stifte hätten die Wärter ihnen gegeben. „Griechenland ist ein | |
| rassistischer Staat“, sagt Kam. Zwar sei er hier sicherer als im Iran, aber | |
| bleiben, nein, bleiben wolle er nicht. | |
| ## „Ich bin hier beschützt“ | |
| Für Vaggelis dagegen ist Prosfygika ein Ort, an dem er möglichst lange | |
| verweilen möchte. Der lang aufgeschossene Grieche, 32 Jahre alt, zog 2006 | |
| in eine der etwa vierzig Quadratmeter großen Wohnungen, auch weil er sich | |
| die Miete woanders nicht mehr leisten konnte. Eine bezahlte Arbeit hat der | |
| gelernte Koch schon seit Jahren nicht. Aber klagen will er nicht: „Ich bin | |
| hier beschützt vor extremer Armut“, sagt Vaggelis. Seine freie Zeit | |
| investiert er in sein Wohnumfeld. | |
| Vaggelis gehört zum Kollektiv der etwa 20 bis 25 Bewohner, die eine Art | |
| Hausverwaltung bilden. Griechen, Italiener und eine junge Deutsche gehören | |
| dazu. Sie wollen selbstorganisiert leben, dafür packen sie bei Aufräum- und | |
| Reparaturarbeiten an, sammeln Essen bei Supermärkten, backen Brot und | |
| bieten am Wochenende eine Betreuung und Sprachunterricht für die | |
| Flüchtlingskinder an. | |
| Vom äußeren Verfall der Häuser ist in der liebevoll eingerichteten Wohnung | |
| von Vaggelis’Mitstreiterin kaum etwas zu spüren. Es duftet nach Kaffee, die | |
| Wände in dem kleinen Raum sind grün gestrichen, alle Schränke und das | |
| Gewürzregal knallrot lackiert. Ruhig, aber bestimmt spricht Vaggelis davon, | |
| dass Prosfygika viel mehr sei als ein Elendsquartier. Es ist für ihn ein | |
| Symbol des Kampfs von unten, einer Gemeinschaft fernab staatlicher | |
| Strukturen. „Ich bin hier, weil ich an den Kampf glaube“, sagt er. | |
| Seit fast 20 Jahren kämpfen die Bewohner für den Erhalt der Häuser. Auch | |
| die Gerichtsentscheidungen, die den Komplettaufkauf der Wohnungen durch die | |
| Stadtverwaltung stoppten und die Häuser unter Denkmalschutz stellten, | |
| bedeuten keine Sicherheit. Während der Olympischen Spiele im Jahr 2004 | |
| wurde der „Schandfleck“ hinter großen Abdeckplanen vor den internationalen | |
| Gästen versteckt. Seit 2011 findet sich Prosfygika auf einer Liste des | |
| griechischen Privatisierungsfonds Taiped, der auf Verlangen der ehemals als | |
| Troika bekannten Institutionen Staatseigentum im Wert von 50 Milliarden | |
| Euro veräußern soll. | |
| ## Die Privatisierungswelle | |
| Vaggelis’bisher monotone Stimme gerät in Wallung, wenn er davon erzählt. | |
| „Die Veröffentlichung der Liste damals hat dem Kollektiv Auftrieb gegeben“, | |
| sagt er. Die Prosfygika-Leute schlossen sich zusammen mit den Arbeitern im | |
| Hafen von Piräus, der ebenfalls zum Verkauf ausgeschrieben wurde, der | |
| Gewerkschaft im benachbarten Krankenhaus, politischen Gruppen und Fans von | |
| Panathinaikos. In dieser Zeit schmückten Transparente die Fassade, | |
| organisierten sie Demonstrationen und Gespräche mit der Stadtverwaltung. | |
| Etwa hundert Bewohner von Prosfygika konnte das Kollektiv für Aktionen | |
| gewinnen. | |
| Auf dem Hof hat sich eine Menschentraube gebildet. Aufgeregte griechische | |
| Wortfetzen dringen nach draußen. Eine junge Aktivistin erklärt, dass | |
| Mitglieder des Kollektivs am Morgen eine Wohnung gesäubert haben, vor allem | |
| von menschlichen Exkrementen. Eine ältere Dame, die zu den Alteingesessenen | |
| gehört, rief wegen des Lärms und des Staubs im Treppenhaus die Polizei. Die | |
| Wohnung, die sie nur mit Gasmasken betreten konnten, war wohl von | |
| Drogenabhängigen als Toilette genutzt worden. | |
| Die Aktivisten wehren sich gegen Dealer, die in den Küchen Sisa kochen, | |
| eine griechische Armutsdroge, für die Crystal Meth mit Batteriesäure oder | |
| Motoröl gestreckt wird. Erst an diesem Tag haben sie wieder eine | |
| Drogenküche geräumt. „Nicht weil wir uns als Polizei des Hauses verstehen, | |
| aber um das Projekt, seine Bewohner und die vielen Kinder in den Häusern zu | |
| schützen“, erklärt Vaggelis. | |
| ## A für Anarchismus | |
| Ein großer Kreis aus wild zusammengewürfelten Stühlen bildet den | |
| Mittelpunkt der Wohnung, die dem Kollektiv als Zentrale und Anlaufstelle | |
| dient. Hier finden regelmäßig die Versammlungen statt. An den Wänden hängen | |
| Plakate von Straßenschlachten mit der Polizei oder mit Aufrufen für | |
| Demonstrationen und Aktionen. Fast alle sind sie mit einem „A“ im Kreis | |
| verziert, dem Symbol des Anarchismus, im Bücherregal stehen die Klassiker | |
| von Michail Bakunin. | |
| Doch die Mehrheit der Hausbewohner hat mit dem politischen Ansinnen der | |
| Hausbesetzer nichts am Hut. Vor allem viele Flüchtlinge haben weder die | |
| Kraft noch den Willen, sich einzubringen. Für sie zählt, dass sie hier eine | |
| Bleibe haben, für die sie nichts oder nur sehr wenig zahlen müssen. | |
| Prosfygika ist nicht das Ziel ihrer Träume, nicht der Platz ihrer Kämpfe, | |
| sondern lediglich eine Station auf ihrem Weg. | |
| 200 Bewohner haben den Häusern – und Griechenland – bereits den Rücken | |
| gekehrt, seit Syriza im Frühjahr die Vergabe von Papieren an Flüchtlinge | |
| deutlich erleichtert hat. Vor dem Regierungswechsel lebten in Prosfygika | |
| bis zu 500 Menschen. Doch noch immer geht es in einigen Wohnungen beengt | |
| zu. Eine Etage über der gerade geräumten Wohnung leben 16 Menschen aus drei | |
| afghanischen Familien in zwei Zimmern. | |
| Es kommt vor, dass Menschen, die aus einer der besetzten Wohnungen | |
| ausziehen, diese gegen Geld weitergeben. Dies ist der Fall bei Kam. Froh, | |
| überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben, zahlt er monatlich zwischen 30 | |
| und 40 Euro für seine Bleibe. So kommt es, dass ein Hausbesetzer in diesem | |
| Fall doch Miete zahlen muss. | |
| Für Vaggelis und seine Mitstreiter ist das ein No-Go. Ihrer Meinung nach | |
| soll Prosfygika nicht nach den Regeln der kapitalistischen Gesellschaft | |
| funktionieren. Doch ihre Interventionen scheitern oft an der | |
| Sprachbarriere. In Prosfygika sprechen die Menschen Griechisch, Farsi, | |
| Paschtu und Englisch, und oft findet sich keine Sprache, die beide | |
| Gesprächsparteien beherrschen. Ein erstes Gespräch von Mitgliedern des | |
| Kollektivs mit den Bekannten von Kam, die ihm monatlich Geld abknöpfen, | |
| blieb erfolglos. Bald wollen sie einen neuen Versuch starten. Prosfygika | |
| mag ein Elendsort sein. Doch für die Aktivisten ist es der Baukasten, aus | |
| dem sie das Miniaturmodell einer besseren Gesellschaft formen wollen. | |
| 4 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Erik Peter | |
| Dinah Riese | |
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