| # taz.de -- Albaner in Deutschland: Gekommen, um zu bleiben | |
| > Viele Albaner suchen in Deutschland ein gutes Leben. Sie beantragen hier | |
| > Asyl. Aber das ist sinnlos, weil Albanien als sicher gilt. | |
| Bild: Albanien ist ein über weite Strecken agrarisch geprägtes land. | |
| Tirana taz | „Tirana–Dortmund“ steht auf dem Bus. Der Kleinbus ist bis auf | |
| den letzten Platz gefüllt, er ruckelt über eine unbefestigte Straße entlang | |
| der Küste Albaniens. Gut zwei Tage lang wird er von dem kleinen Balkanland | |
| aus durchs Gebirge zuckeln. Durch Montenegro, Bosnien, Kroatien, Slowenien | |
| und Österreich bis nach Deutschland. Die Fahrt ist beschwerlich, im Bus ist | |
| es stickig und eng. Aber das ist den Insassen egal, sie wollen nach | |
| Deutschland. Nach Dortmund, Köln, Berlin. Egal wohin, egal wie, egal wie | |
| lange das dauert. Hauptsache Deutschland. | |
| Der Bus ist ein ganz normaler Reisebuch. Die Leute darin sind ganz normale | |
| Touristen. So sieht es auf den ersten Blick aus. Und so werden sie es | |
| sagen, wenn sie gefragt werden. Sie haben Gepäck dabei, Unterwäsche, Jeans, | |
| T-Shirts, Zahnbürsten, was man so braucht, wenn man verreist. | |
| Aber der Bus ist kein gewöhnlicher Reisebus und die Leute darin sind keine | |
| normale Touristen, die in Deutschland Urlaub machen. Sie wollen hier | |
| bleiben, am liebsten für immer. Wenigstens für eine gewisse Zeit. In den | |
| Bus, der zu einer Art legalem Schleppernetz gehört, legen sie ihre ganze | |
| Hoffnung. | |
| Albanien ist seit vergangenem Sommer offiziell Beitrittskandidat der | |
| Europäischen Union. Albaner können in Deutschland kein Asyl beantragen, | |
| nicht einmal als Wirtschaftsflüchtlinge werden sie angesehen. Bis auf die | |
| Hauptstadt Tirana und Hafenstädte wie Durrës ist das Land stark agrarisch | |
| geprägt, es ist eines der ärmsten Länder Europas. Das Bruttoinlandsprodukt | |
| beträgt nur etwa ein Drittel des EU-Durchschnitts. Knapp die Hälfte der | |
| Erwerbstätigen ist heute in der Landwirtschaft beschäftigt, aber dort wird | |
| nur ein Sechstel des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Die | |
| Arbeitslosigkeit liegt bei 18 Prozent, davon ist insbesondere die Jugend | |
| betroffen. | |
| ## Täglicher Stromausfall | |
| Das Land versinkt in Korruption, Drogen, Armut, Wohnungsnot. Man hört von | |
| Schülern, die ihre Lehrer für bessere Zensuren schmieren. Und von Dozenten | |
| und Beamten, die ihren künftigen Chefs Geld geben, um den neuen Job zu | |
| bekommen. Albanien gilt als einer der größten Drogenproduzenten der Welt, | |
| das Dorf Lazarat, etwa 200 Kilometer von Tirana entfernt in den Bergen, | |
| wird als Cannabis-Hauptstadt Europas bezeichnet. Jedes Jahr sollen hier | |
| etwa 900 Tonnen Marihuana geerntet werden. Die Drogen bringen etwa 4,5 | |
| Milliarden Euro, rund ein Drittel des albanischen Bruttoinlandsprodukts. | |
| Die marode Bausubstanz der Häuser ist vielfach mit reichlich Farbe | |
| übertüncht worden – eine Idee des jetzigen Staatspräsidenten und Künstlers | |
| Edi Rama. Täglich gibt es Stromausfall, mehr als die Hälfte der Straßen ist | |
| nicht asphaltiert, auf Wasser-, Strom- und Telefonanschlüsse wartet man | |
| mitunter jahrelang. | |
| Das Busticket, um diesem Leben zu entkommen, kostet rund 21.000 Lek, | |
| umgerechnet etwa 150 Euro. Viel Geld, das die Businsassen lange gespart | |
| haben. Oder Verwandte, die bereits in Deutschland sind, haben es geschickt. | |
| Das Geld ist kein Geschenk, sondern geborgt, die Reisenden müssen es | |
| zurückzahlen. Das schafft Abhängigkeiten von Tanten, Onkeln, Cousinen und | |
| Cousins. Und es erweitert den Strom albanischer Flüchtlinge immens. | |
| 114.125 Frauen, Männer und Kinder haben laut Bundesamt für Migration und | |
| Flüchtlinge von Januar bis April 2015 in Deutschland Asyl beantragt. 11.416 | |
| von ihnen waren Albaner, fast doppelt so viel wie in diesen Monaten ein | |
| Jahr zuvor. Einer von ihnen ist Adrian, 27, Obstverkäufer aus einem Dorf in | |
| der Nähe Tiranas. | |
| ## Warten im Aufnahmelager | |
| Mit einem Holzkarren zog Adrian jeden Tag in die Hauptstadt, mal zusammen | |
| mit seiner Mutter, manchmal mit seiner Großmutter. Er stellte den Karren an | |
| irgendeiner Straße ab, oft an einer großen Kreuzung. Er nahm das Verdeck | |
| vom Wagen ab und pries an, was er hatte: Äpfel, Oliven, Bananen. Viel | |
| verkaufte er nicht, auf den Märkten überall ist das Angebot reichhaltig. | |
| „Das soll mein Leben sein?“, sagt Adrian. Er würde gern heiraten, hat aber | |
| kein Geld, die Hochzeit zu bezahlen, und schon gar keines, um mit seiner | |
| Freundin in einer eigenen Wohnung zu leben. Wie soll es weitergehen? Dann | |
| hörte er von den Busreisen und der Idee, die dahintersteckt. Jetzt sitzt | |
| Adrian, der von seiner Situation nur unter anderem Namen berichten will, in | |
| einem Aufnahmelager irgendwo in Deutschland und wartet darauf, dass sein | |
| Asylantrag positiv beschieden wird. Dass die Behörden sagen: Du kannst | |
| hierbleiben. | |
| Aber das wird vermutlich nicht passieren. Die Probleme der Balkanlandes | |
| taugen nicht als Asylgrund, das Leben in Albanien gilt als sicher. Niemand | |
| wird dort verfolgt, weil er gebloggt oder regierungskritische Artikel | |
| veröffentlicht hat. Es gibt keinen Krieg und keine Angriffe gegen die | |
| Zivilbevölkerung. Homosexualität ist offiziell gelitten, Schwule und Lesben | |
| bekommen allenfalls Probleme mit ihren Familien. In Albanien werden Sinti | |
| und Roma nicht gejagt und ermordet – wie beispielsweise in Ungarn. Auch | |
| wenn sie armselig und in der Regel in Zelten in Camps leben. | |
| ## Aussichtslose Reise | |
| Wenn er nicht hierbleiben darf, sagt Adrian, dann will er in Deutschland | |
| wenigstens eine Zeitlang das leichte Leben, so wie er es sich vorstellt, | |
| genießen. Er will mal nach Berlin, in eine Bar, er will Bier trinken, sich | |
| gute Lederschuhe kaufen und seiner Freundin ein schönes Kleid. Wie will er | |
| das machen? Er bekommt nur ein Taschengeld, im Heim kann er kostenlos | |
| schlafen und bekommt etwas zu essen. „Mal sehen“, sagt Adrian. | |
| Die Behörden in Albanien und in Deutschland kennen das Problem. Aber sie | |
| sind machtlos. Albanien gehört neben Syrien und dem Kosovo zu den Ländern | |
| mit den meisten Asylanträgen in Deutschland. Die deutsche Botschaft in | |
| Tirana arbeitet eng mit der albanischen Regierung zusammen, es gibt | |
| Zeitungs- und Fernsehinterviews, in denen den Menschen erklärt wird, dass | |
| sie in Deutschland keinen Asylstatus bekommen. Dass jede Reise mit einer | |
| solchen Absicht aussichtslos ist. | |
| Umsonst. Kürzlich berichteten albanische Medien von Kukes, einer kleinen | |
| Stadt im Norden Albaniens. Im Frühjahr haben sich dort mit einem Schlag | |
| mehrere hundert Frauen und Männer ein Busticket nach Deutschland gekauft. | |
| Die albanischen Behörden würden die Busunternehmen, die als „legale | |
| Schleuser“ arbeiten, gern dingfest machen. Aber wie? Jeder, der will, kann | |
| sich eine Fahrkarte kaufen, es herrscht Reisefreiheit in Albanien. Ebenso | |
| wenig ist es verboten, sich einen biometrischen Pass ausstellen zu lassen, | |
| um legal über die Grenze zu kommen. | |
| Adrian überlegt jetzt, wie er schnell zu Geld kommt. Das will er seiner | |
| Freundin schicken – für den Bus von Tirana nach Dortmund. | |
| 16 Jun 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
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