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# taz.de -- Portraits von S21-Protestlern: Resignieren? Niemals!
> Sie diskutieren, demonstrieren und machen Politik. Drei
> Stuttgart-21-Gegner widmen ihre Freizeit seit drei Jahren dem Protest
> gegen den Tiefbahnhof.
Bild: Ungeliebt: Stuttgart 21.
Teilzeit arbeiten, Vollzeit protestieren
Mit ein paar Flyern und einem Sonnenschirm fing alles an. Als S21 noch kaum
Schlagzeilen schrieb, standen Sabine Schmidt und zwei Mitstreiterinnen das
erste Mal im Schlossgarten, um über die Risiken des Tiefbahnhofs
aufzuklären. Das war im April 2010. Kurz darauf war klar, dass die Bahn
Fakten schaffen und den Nordflügel abreißen wird. Die Dauermahnwache war
geboren.
Am 17. Juli 2010 zog der Stand vom Park an den Nordausgang. Seitdem ist die
Mahnwache mit zwei bis drei Personen rund um die Uhr besetzt, versorgt die
Bewegung mit Informationen und Protestmaterial und dient als Treffpunkt für
Diskussionen. „In den drei Jahren mussten wir nur für eine Viertelstunde
raus, weil hinter dem Zelt ein Baum gefällt wurde“, sagt Schmidt.
An diesem Mittag sitzt die 52-Jährige in der Sonne neben der Mahnwache und
blickt zurück. „Ich habe das Gefühl, wir sind durch eine Waschmaschine an
Emotionen gegangen: Wut, Trauer, Hoffnung …“ Doch egal, was war: die
Schlichtung, die Volksabstimmung für den Weiterbau, Sabine Schmidt wollte
einfach nicht aufhören.
Während außerhalb Stuttgarts die Meinung vorherrscht, dass S21 ohnehin
gebaut wird, gehen in der Stadt noch immer wöchentlich bis zu 3.000 Gegner
am Montagabend auf die Straße. Schmidts Geschichte ist eine von vielen, die
diese Beharrlichkeit widerspiegeln.
Seit Beginn an kümmert sie sich mit ihren Mitstreiterinnen um die
Organisation der Mahnwache. „Das ist wie in einem Großunternehmen“, sagt
sie. Schmidt vernetzt Leute, teilt sie in die Mahnwachen-Pläne ein, leitet
Infos weiter.
Auf etwa zwei Stunden pro Tag schätzt Schmidt ihr minimales Arbeitspensum
für die Bewegung. „Das ist wahnsinnig anstrengend und manchmal auch
deprimierend“, sagt sie. „Aber von meiner inneren Überzeugung ist mir klar,
dass ich weitermache.“
In der Anfangszeit der Mahnwache reduzierte sie sogar ihre Arbeit als
Selbstständige im sozialen Bereich. Heute integriert sie in ihren
Berufsalltag Mittagessen, um die nächste Demo zu besprechen, und arbeitet
morgens und abends Mails ab. „Ich kann keine halben Sachen machen“, sagt
Schmidt. „Und es ist klar, dass wir einen langen Atem brauchen.“
Nur für ihren Garten bleibt keine Zeit mehr. „Der würde sich mehr
Aufmerksamkeit wünschen. Die Pflanzen wachsen munter drauflos.“
Der Mann für die Nichtwähler
Frank Schweizer fasst sich an den Kopf. „Was da alles zusammenkommt“, sagt
der 68-Jährige. Doch wie viele Stunden Zeit er genau mit dem Widerstand
gegen Stuttgart 21 verbringt, hat er sich eigentlich noch nie überlegt.
Einmal im Monat Netzwerktreffen, Infoveranstaltungen vorbereiten,
Flugblätter drucken, täglich Mails beantworten, Akten beim Umweltamt
einsehen – was anderen schon längst zu viel geworden wäre, das bereite ihm
immer noch Spaß.
„Ich bin kein verbitterter Kämpfer. Und weil die Bitterkeit nicht aufkommt,
denke ich auch nicht ans Aufhören“, sagt Schweizer. Auch deshalb nicht,
weil er vom Bau des Tiefbahnhofs persönlich betroffen ist. Die Bahn will
sein Grundstück untertunneln. Über die Entschädigung, die ihm bislang im
Gegenzug geboten wird, schüttelt er nur den Kopf – und rebelliert gemeinsam
mit über hundert Betroffenen aus dem Kernerviertel nahe dem Bahnhof.
Schweizer versucht, sich sowohl auf dem Rechtsweg als auch direkt gegen das
Projekt zu wehren – und mit der persönlichen Betroffenheit auch Nachbarn
vom Widerstand zu überzeugen. „Wenns dem Schwaben an den Geldbeutel geht,
hört er einem besser zu“, sagt er.
Als gelernter Bauingenieur mit den Schwerpunkten Städtebau und
Wasserwirtschaft hat ihn das Thema schon lange umgetrieben. „Deshalb bin
ich für Grundwasserprobleme besonders sensibel“, sagt er. Auch im Bereich
Denkmalschutz engagiert sich Schweizer seit den 70er Jahren. „Und dann
kommen die daher und wollen den Bahnhof abreißen.“
All das habe dazu geführt, dass er „von Anfang an und für immer gegen
Stuttgart 21“ gewesen sei. Die Frage sei nur, wann man resigniert. Doch
unbekümmert von allem, was schon geschehen ist, gibt er die Antwort: „Nie.“
Im Gegenteil. Im Bundestagswahlkampf will Schweizer dafür sorgen, dass das
Thema nicht totgeschwiegen wird – mit einer Kandidatur als Einzelperson.
200 Unterschriften musste er dafür sammeln. Am vergangenen Montag wurde ihm
die Kandidatur offiziell bestätigt. Nun will er den Wahlkampf aufmischen,
hofft auf ein öffentliches Interesse und die Möglichkeit, bei
Podiumsdiskussionen die anderen Kandidaten mit Stuttgart 21 zu bedrängen.
„Viele aus der Bewegung wären vielleicht gar nicht mehr zur Wahl gegangen.
Denen gebe ich die Möglichkeit, sich an der Wahl zu beteiligen.“
Also noch mehr Zeitaufwand für Stuttgart 21? „Ich habe einen großen
Vorteil: Ich habe eine Frau, die der gleichen Meinung ist wie ich.“
Buttons gegen den Tiefbahnhof
„Hast du wieder was Neues?“ Die Frau nimmt ihre Sonnenbrille ab und beugt
sich über den Bauchladen von Bettina Bocksch. An ihm hängen zahlreiche
Anstecknadeln gegen Stuttgart 21. Neu ist eine, auf dem ein gelbes
Straßenschild mit „Großbetrug 21“ durchgestrichen ist. Es ist der 318.
Button, den Bocksch gestaltet hat.
Mit ihrem Bauchladen läuft Bocksch jede Woche über die Stuttgarter
Montagsdemo und sammelt Spenden für die Bewegung. Nur elf der bislang 180
Montagsdemos habe sie verpasst, sagt sie.
Im November 2010, dem letzten Tag der Schlichtung, stand sie mit einem
Plakat „Ingenieure gegen Stuttgart 21“ im Park und musste sich den Spruch
anhören: „Wieder so eine instrumentalisierte Berufsgruppe“. Kurzerhand
kaufte sie eine Buttonmaschine und gestaltete den „Selbstdenker“-Button –
die Nummer eins in ihrer Reihe. Sie wollte zeigen, dass sie es als
Sicherheitsingenieurin nicht nötig habe, sich instrumentalisieren zu
lassen. Ende Dezember waren die ersten 1.000 Buttons weg. „Inzwischen bin
ich bei 38.000.“
Die Einnahmen spendet sie vor allem für Gutachten über den Bau des
Tiefbahnhofs und dessen Auswirkungen. Und damit beginnt Bocksch zweites
Engagement. Neben den Buttons engagiert sich die 48-Jährige in der Gruppe
„Ingenieure 22“. Jeden Dienstagabend treffen sich etwa 30 Ingenieure und
besprechen alles technisch Kritische rund um Stuttgart 21. Zusätzlich
treffen sich in der Woche kleinere Arbeitsgruppen zu Einzelthemen, wie etwa
Brandschutz oder Grundwassermanagement.
„Um zu verstehen, was die mit dem Wasser machen, muss man sich jeden Wert
genau angucken“, sagt Bocksch. „Langweilig wird uns nicht.“ Insgesamt
gehören zu ihrer Gruppe etwa 90 S21-Gegner. Manchmal würden sie davon auch
welche verlieren. „Einige sagen einfach, ich kann nicht mehr, ich will
nicht mehr.“
Kommen bei ihr selbst nie Zweifel auf, wofür sie das alles macht? „Nein“,
sagt sie. „Dafür weiß ich zu viel über das Projekt und dafür liebe ich
meine Heimatstadt zu sehr.“ Auch auf die Frage, ob sie tatsächlich noch die
Hoffnung hat, dass der Tiefbahnhof tatsächlich nicht gebaut wird, sagt sie
in einem ruhigen Ton: „Ich bin mir sicher, dass er nicht gebaut werden
kann.“
Drei bis vier Abende pro Woche nimmt ihr Engagement gegen den umstritten
Tiefbahnhof ein, schätzt Bocksch. „Es gibt so viele Dinge, bei denen es
irrsinnig ist, mit dem Projekt weiterzumachen – und sie machen einfach
weiter“, so Bocksch. „Das macht mich mutlos – und dann denke ich: Montag
ist wieder die Demo!“
17 Jul 2013
## AUTOREN
Nadine Michel
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