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# taz.de -- 10 Jahre gegen Hartz IV: Dann bis nächsten Montag
> Erst waren sie Hunderte, dann Tausende. Jetzt sind noch zwanzig übrig:
> Seit zehn Jahren wird auf dem Alexanderplatz gegen Hartz IV demonstriert.
Bild: Da waren's einige mehr: "Herbstdemo" der Montagsdemonstranten gegen Hartz…
Hans-Heinrich und Klaus sind nicht da, ausgerechnet. Die elf unter der
Weltzeituhr schauen sich fragend an. „Beide krank“, sagt einer. „Letzte
Woche hatte ich mit Klaus noch ’n Bier getrunken.“ Hans-Heinrich und Klaus
sollten die Transparente mitbringen und den Lautsprecher, wie immer. Was
nun? Schulterzucken. Dann eben so.
Mitten auf den Alexanderplatz haben sie sich gestellt am letzten
Montagabend, an die Weltzeituhr, genau unter die „18“. Die Startuhrzeit
ihrer Kundgebung, wie immer montags, wie immer gegen Hartz IV. An diesem
Montag wieder: Dann werden es zehn Jahre Protest sein.
Der Wind fegt über den Alex, zerrt an den Jacken des knappen Dutzends. Es
ist schon dunkel, die Passanten eilen vorbei. Ein paar Touristen stellen
sich neben die Uhr, posieren für Fotos. Dass hier gerade gegen Sozialabbau
demonstriert wird, bemerkt niemand. Wie auch, ohne Transparente.
Die elf Montagsdemonstranten beschränken sich also aufs Plaudern. Es wird
von jüngsten Urteilen zu Hartz IV berichtet, über den „real existierenden
Kapitalismus“ gelästert. Man kennt sich, schon lange. Viele, die nach all
den Jahren noch hier stehen, sind von Anfang an dabei.
## „Es geht volle Kanne bergab“
Ingeborg Müller aus Hellersdorf etwa, früh verrentet, seit der Wende schon.
„Wegen einer Nervengeschichte.“ Über „Umwelt“ wollte sie heute eigentl…
einen Redebeitrag halten. Nicht nur da, überall gehe es „volle Kanne
bergab“, sagt die einstige Bauzeichnern, an der roten Windjacke ein
Anti-Atom-Button. Oder Hartmuth Gerecke, der Gewerkschafter, 63 Jahre,
schnittige Brille, gestutzter Bart, früher Schichtarbeiter in Neukölln,
seit zwei Monaten arbeitslos. Über einen papierlosen Flüchtling wollte er
heute berichten, dem die Abschiebung droht. Nun tauscht man sich eben so
aus.
Noch bevor die Hartz-IV-Gesetze in Kraft traten, hatten sie sich gegründet,
am 3. November 2003: das „Berliner Bündnis gegen die Agenda 2010“. Anfangs
vorrangig Gewerkschafter, zur ersten Demo kamen 300 Leute. Ein Jahr später
zogen sie mit 10.000 vom Alexanderplatz. Es war die Hochphase des
Hartz-IV-Widerstands, bundesweit wurde demonstriert. Lange her.
Die elf auf dem Alexanderplatz demonstrieren noch immer. „Es ändert sich
doch nischt“, sagt Ingeborg Müller. Deshalb müsse man weitermachen. Auch
von den jetzigen Koalitionsverhandlungen erwarten sie hier nichts, nicht
mit Schwarz-Rot. Mindestlohn von 8,50 Euro? „Ein Armutslohn.“ Die elf
fordern weiter die Abschaffung der Hartz-IV-Gesetze, „ersatzlos“. „Wir
bleiben auf der Lauer“, sagt Müller. „Wir sind das Flämmchen, bis es wied…
explodiert.“
Vor zwei Wochen war die Flamme noch einmal groß. Zur „10. Herbstdemo gegen
die Regierung“ kamen über 1.000 Protestierer nach Berlin. „Aus 80 Städten…
wie sie unter der Weltzeituhr schwärmen. Drei Bundesregierungen habe man
überlebt, verkündeten die Redner auf der Großdemo. „Und jetzt auch die
FDP.“ Das gab Applaus.
Doch die Erfolgsmomente sind rar geworden. Selten kommen mehr zwanzig auf
den Alexanderplatz. Und vor zweieinhalb Jahren hat sich der Protest auch
noch gespalten. Die Abtrünnigen stehen jetzt um die Ecke, unterm
Fernsehturm: auch jeden Montag, auch um 18 Uhr. Von der MLPD unterwandert
seien die an der Weltzeituhr, heißt es dort. Sie selbst nennen sich die
„Unabhängige Montagsdemo“. Die Weltzeituhrler schimpfen die anderen
„Spalter“. Natürlich sei die MLPD dabei. Wie andere auch. „Bei uns dürf…
alle ans offene Mikro“, sagt Gerecke, „außer Faschisten.“
Einer der Abtrünnigen ist Hans Haase, ein Mann mit rotem Basecape voller
Buttons. An diesem Abend steht er mit acht Protestierern unterm
Fernsehturm. Er erzählt, wie die Polizei der Montagsdemo in Stuttgart den
Generator verbot, berichtet von einer neuen Protest-CD, dann ist er
plötzlich bei der NSA. Haase redet ohne Pause, fordert die
25-Stunden-Woche, schimpft Parteien als „Auslaufmodell“, sagt, „direkte
Demokratie ist die Zukunft“. Die Mitdemonstranten unterbrechen ihn nicht.
Hans Haase ist heute Vollzeit-Montagsdemonstrant. Mit seinem Auto bereist
der 63-Jährige den bundesweit verbliebenen Widerstand. Früher war Haase mal
Vertriebsingenieur, war Betriebsrat. 2005 wurde er arbeitslos, dazu kam die
Scheidung. „Ich war völlig verzweifelt.“ Über den Protest, sagt Haase, ha…
er wieder Kraft gefunden.
Es ist auch das, was den Widerstand noch zusammenhält: Man hilft sich.
Unter der Weltzeituhr berichtet ein Zeitarbeiter aus Gropiusstadt, wo es
kostenlose Rechtsberatung gibt. Gewerkschafter Gerecke erzählt, wie man
sich aufs Amt begleitet. Wenn einer Geburtstag hat, singe man ein
Ständchen. Einer der Hauptinhalte der Montagsdemo sind inzwischen
Grußbotschaften: an die Opelaner in Bochum, an die Arbeiter in Athen. Das
häufigste Wort, das auf dem Alex fällt, ist „Solidarität“.
## Die Politik interessiert der Protest nicht mehr
Das Problem ist nur: Die Politik interessiert der Protest nicht mehr. Das
komme wieder, sagt Hans Haase. Er verweist auf Niedriglöhne, Zeitarbeit,
Hartz-IV-Sanktionen. „Ich verspreche euch“, sagt Haase ins Demo-Rund, „wir
werden wieder mehr.“
Gleiches sagen sie sich auch unter der Weltzeituhr. Und, betont Gerecke,
man habe doch etwas erreicht. „Wir sind das soziale Gewissen, weshalb Hartz
IV weiter so verhasst ist.“
Nach einer Stunde verabschieden sich die Montagsdemonstranten. Einige
laufen am Fernsehturm vorbei. Den Protestgeschwistern schenken sie keinen
Gruß. Hans Haase redet dort noch immer, seine Mitdemonstranten werden
ungeduldig. „Schon achte?“, bemerkt Haase irgendwann. „Ist ja irre!“ Da…
mache man jetzt mal Schluss. „Sehen uns ja nächste Woche wieder.“
4 Nov 2013
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Schwerpunkt Stuttgart 21
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