# taz.de -- Diskussion um Mindestlohn: Sie wär' gern wieder Unterschicht | |
> Union und SPD debattieren über die Höhe des Mindestlohns. Es hängt | |
> allerdings nicht vom Geld allein ab, wie arm sich jemand fühlt. Sondern? | |
Bild: Kann man seine Wohnung immer richtig heizen? Danach fragt das Konzept der… | |
Auf ihrem Parteitag in Leipzig hat Sigmar Gabriel für die SPD noch einmal | |
klargestellt, worum es ihr in einer großen Koalition geht. Es müsse | |
„gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ und einen flächendeckenden Mindestlohn | |
von 8,50 Euro geben, wenn das Bündnis mit der Union funktionieren soll. Der | |
„massenhafte Missbrauch von Werkverträgen“ müsse beendet werden, forderte | |
der Vorsitzende der Sozialdemokraten. Außerdem verlangte er einen fairen | |
Anstieg der Rente. | |
Wenn in diesen Tagen über die Bedingungen der Koalition verhandelt wird, | |
geht es oft um Zahlen. 8,50 Euro etwa ist so eine Zahl, beim Mindestlohn. | |
Die Verhandlungen vermitteln den Eindruck, dass man diesen einen Schalter | |
umlegen muss, damit es vielen Menschen besser geht. Flächendeckend. | |
Die Wirtschaftsweisen haben in dieser Woche dann eine Gegenzahl | |
demonstriert: Jeden fünften Job könne ein solcher flächendeckender | |
Mindestlohn bedrohen, sagte der Vorsitzender Christoph Schmidt. | |
Die Gewerkschaft IG Metall wiederum fordert nicht einen Mindestlohn allein, | |
sondern tiefergehende Reformen auf dem Arbeitsmarkt. | |
## Kann man die Wohnung angemessen heizen? | |
sonntaz-Reporterin Steffi Unsleber hat sich angesichts dieser Debatten mit | |
der Frage beschäftigt, was Armut eigentlich für die Menschen ausmacht, die | |
arm sind oder als arm gelten. Ab wann fühlt sich jemand in Deutschland arm? | |
Wie stark hängt dieses Gefühl von Geld ab, von den Freunden, der Umgebung? | |
Davon ob jemand Kinder hat oder nicht? Ob man mit Mitte 20 gerade noch | |
studiert oder mit Anfang 40 längst gesettelt sein wollte? | |
Es gibt unterschiedliche Arten, Armut zu messen. Eine ist das Konzept der | |
"materiellen Deprivation". Sind drei von neun Kriterien erfüllt, dann gilt | |
ein Mensch oder eine Familie als arm. | |
Die Kriterien bilden eine Checkliste, die jeder für sich abhaken kann: Kann | |
man die Miete oder die Rechnungen für Strom, Gas oder Heizung rechtzeitig | |
bezahlen? Die Wohnung angemessen heizen? Unerwartete Ausgaben selbst | |
bestreiten? Jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine gleichwertige | |
vegetarische Mahlzeit essen? Jährlich eine Woche Urlaub außerhalb der | |
eigenen Wohnung machen? | |
Weitere Kriterien: Fehlen eines Autos. Einer Waschmaschine. Eines Telefons. | |
Eines „Farbfernsehgeräts“. | |
Man verwendet dieses Konzept, um die Länder der EU miteinander zu | |
vergleichen. 2009 war in Deutschland jeder Achte materiell depriviert, in | |
Bulgarien und Rumänien war es beispielsweise jeder Zweite. | |
## Angst vor Ansteckung | |
Wahrscheinlich würde Jutta Oel nicht dazu zählen. Dennoch schrieb die | |
taz-Leserin uns: „Ich wünsche wieder als Unterschicht bezeichnet zu werden. | |
Nicht weil ich das gerne wäre, sondern weil es der Wahrheit entspricht. Ich | |
komme gerade so über den Monat. Ich kann keine Rücklagen bilden. Ich kann | |
nicht für mich sorgen. Der verlorene Zahn bleibt leider unersetzt.“ | |
Ist Jutta Oel Mittelschicht? Oder arm? | |
Steffi Unsleber hat sie für die Titelgeschichte der taz.am wochenende | |
besucht. Und grundsätzlich festgestellt: Die Grenze verwischt. Die | |
Mittelschicht ist in den vergangenen Jahren dünner geworden, ein Teil von | |
ihr ist in die Unterschicht abgerutscht. Deshalb versucht sich die | |
bürgerliche Mitte jetzt nach unten abzugrenzen. Wegen der | |
Ansteckungsgefahr. „Ja, komisch, nicht?“, sagt Silke Borgstedt. Sie leitet | |
die Sozialforschung des Berliner Sinus-Instituts, in dem man versucht, | |
gesellschaftliche Milieus in Diagrammen abzubilden. „Das ist wie bei einer | |
Grippe.“ | |
Interessant ist, sagt sie, dass dasselbe Milieu in den Neunzigern noch | |
einen anderen Namen hatte: aufstiegsorientiertes Milieu. Heute geht der | |
Blick eher in die entgegengesetzte Richtung: Man weiß vor allem, wo man | |
nicht hinwill. | |
## Neue Zähne? Oder nicht? | |
Die Angst beginnt, wenn man sich bestimmte Dinge nicht mehr leisten kann: | |
Neue Zähne beispielsweise – oder auch nur Kronen. | |
Aber macht das Armut aus? Sind Hartz-IV-Empfänger arm? Menschen mit | |
Wohnung, Heizung, Essen und Trinken, Kleidern? Ein Leben, das beschwerlich | |
ist und manchmal auch entwürdigend, aber in dem die Grundbedürfnisse doch | |
erfüllt werden - ist es arm? Und falls ja: arm an was? | |
Es gibt Menschen, die von wenig Geld leben, aber sich nicht arm fühlen – | |
weil sie es aus Überzeugung tun, vielleicht. Weil sie relativ zu ihrem | |
Umfeld gesehen nicht arm sind, oder weil ihr Leben nicht teuer ist - auf | |
dem Dorf, auf dem Bauwagenplatz oder im Kloster. | |
Wo fängt Armut für Sie an? Haben Sie sich auch schon einmal arm gefühlt, | |
obwohl sie allen gängigen Definitionen zufolge der Mittelschicht angehören? | |
Oder geht es Ihnen ganz anders: Sie haben kaum Geld, aber fühlen sich | |
trotzdem nicht arm? Welche Hoffnungen kann man auf den Mindestlohn setzen? | |
Und schafft es die SPD überhaupt, sich mit ihren 8,50 Euro durchzusetzen? | |
Diskutieren Sie mit! | |
Die Titelgeschichte „Wo fängt Armut an?“ lesen Sie in der [1][taz.am | |
wochenende vom 16./17. November 2013]. | |
15 Nov 2013 | |
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[1] /!127511/ | |
## AUTOREN | |
Johannes Gernert | |
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