# taz.de -- Parteitag der SPD: Die Reifung des Sigmar Gabriel | |
> Der SPD-Vorsitzende leidet an seiner Partei. Sie ist ihm zu unbeweglich. | |
> Und sie leidet an ihm: bei seiner Wiederwahl bekommt er weniger Stimmen. | |
Bild: Sigmar Gabriel kann Rampensau. Aber auch skeptisch. | |
LEIPZIG taz | Peer Steinbrück, der Exkanzlerkandidat, spricht nur ein paar | |
Minuten beim Parteitag in Leipzig. Wie im Wahlkampf redet er gerne über | |
sich. „Der Hauptverantwortliche für die Wahlniederlage ist der | |
Spitzenkandidat“, sagt Steinbrück. Es ist ein farbloser Abschied, der | |
Applaus pflichtschuldig. „Sigmar Gabriel hat die Partei glänzend geführt“, | |
sagt Steinbrück. | |
Sigmar Gabriel sitzt ein paar Meter neben ihm, an dem langen Tisch vorne in | |
der Leipziger Messehalle, vor ein paar hundert GenossInnen. Gabriel nickt. | |
Nachdenklich. Nicht triumphierend. | |
Gabriel kann Rampensau. Er kann aber auch anders, skeptischer. Heute redet | |
er lang, eineinhalb Stunden. Mal wird er laut, aber nur selten. Es ist | |
nicht die Zeit, um laut zu werden. Das zeigt später auch das | |
Abstimmungergebnis. Nur 83,6 Prozent der Delegierten stimmen für Gabriel | |
als SPD-Chef. Vor zwei Jahren hatte er noch 91,6 Prozent bekommen. Das ist | |
eine Warnung an ihn, bloß nicht zu weich mit der Union zu verhandeln. | |
Die SPD befindet sich mental noch im Melancholie-Modus. Die Niederlage, | |
25,7 Prozent bei der Bundestagswahl, das zweitschlechteste Ergebnis seit | |
1949. Nur wenige hatten das erwartet. Verlieren ja, aber so drastisch? Das | |
Programm war doch gut, präzise, auf die eigene Klientel zugeschnitten. Und | |
jetzt die Große Koalition. Die Genossen fremdeln mit dieser Vorstellung, | |
nicht nur der linke Flügel. | |
## Die Große Koalition ist sein Projekt | |
Gabriels Rede ist ein Balanceakt: aufmunternd, aber auch selbstkritisch. | |
„Wir haben Wahlkampf für soziale Gerechtigkeit gemacht, für die, die | |
Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt haben“, sagt der SPD-Chef. „Aber was haben | |
wir denen angeboten, denen es gut geht?“, fragt er. Sogar unter | |
Gewerkschaftsmitgliedern habe man Wähler an die Union verloren. Es ist | |
still im dem kühl-modernen Messesaal. | |
Gabriel will die Große Koalition. Es ist sein Projekt. Die Genossen werden | |
darüber Anfang Dezember abstimmen. Geht das schief, ist er gescheitert. Der | |
rhetorische Doppelschritt zur Vizekanzlerschaft lautet: erst die Zweifel | |
verstehen, dann Gewissheiten fixieren. | |
„Wir werden kein zweites Mal eine Politik betreiben, bei der die SPD wieder | |
gegen ihr eigenes Selbstverständnis verstößt“, sagt Gabriel. So wie 2005, | |
als die Müntefering-SPD die Rente mit 67 beschloss und die Mehrwertsteuer | |
erhöhte. Das soll nun anders werden. Eine Regierung mit der SPD werde es | |
nur mit dem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro geben, mit gleichem Lohn | |
für gleiche Arbeit und früherer Rente für Leute, die 45 Jahre eingezahlt | |
haben. Das ist die Messlatte. Von höheren Steuern ist keine Rede mehr. | |
Sigmar Gabriel hat ein kompliziertes Verhältnis zur SPD. Er kann über seine | |
Partei herziehen wie kaum sonst ein Sozialdemokrat, und das will etwas | |
heißen. Aber sie war für ihn vielleicht mal eine Art Ersatzheimat, damals, | |
als er bei den „Falken“ in Goslar war. Sein Vater war ein Tyrann, die | |
Familienlage wirr. Als er zehn Jahre alt war, bekam seine Mutter das | |
Sorgerecht. Die SPD bedeutet ihm etwas, mehr als anderen. Es ist eine Art | |
Hassliebe. | |
## Die SPD ist wie die „Lindenstraße“ | |
Wenn die Sozialdemokratie eine Fernsehserie wäre, wäre sie nichts Gewagtes, | |
Innovatives wie „The Wire“. Sondern die „Lindenstraße“. Ein bisschen | |
langweilig, sehr routiniert. Gemütlich. | |
Gabriel leidet wirklich an der SPD – an ihrer Selbstgenügsamkeit, ihrem | |
guten Gewissen, dem etwas Ältlichen. Die SPD ist ihm zu langsam, zu alt, zu | |
unbeweglich. Die Partei, sagt Gabriel in Leipzig, habe zu wenig | |
„Nervenenden“ in die Gesellschaft. Sie müsse lebendiger werden, weiblicher, | |
migrantischer, offener. | |
Viele an der Basis würden „denen da oben misstrauen, die für | |
Regierungsposten die Seele der Partei verkaufen“. Weil die Genossen lange | |
mit der Basta-Politik diszipliniert wurden. Und deshalb dürfe die Basis | |
jetzt über die Große Koalition abstimmen. Vorbildhaft sei das, in der Union | |
würden manche fragen, warum Christdemokraten das nicht auch dürfen. Niemand | |
kann das so wie er: direkt, fast schonungslos die Schwächen der alten, | |
müden SPD zur Sprache bringen, und die Lösung gleich dazu. | |
Das öffentliche Bild von Sigmar Gabriel ist so etwas wie ein unvollendeter | |
Bildungsroman. Es ist die Geschichte von einem talentierten, gescheiten | |
Politiker, der nach oben will und nach oben kommt. Aber er reißt immer | |
wieder ein, was er geschaffen hat. Ihm fehlt die Tugend der Mäßigung, die | |
Abteilung Attacke hat nie Dienstschluss. | |
## Ihm fehlt der innere Pol | |
Auch als er 2005 Umweltminister wurde, formten ihn Amt und Verantwortung | |
nur halb. Die Ungeduld, die Launenhaftigkeit, die legendäre | |
Sprunghaftigkeit blieben. Ein konservativer Journalist hat vor ein paar | |
Jahren mal einen bösen Satz über ihn geschrieben: Hoffentlich werde es der | |
SPD nie so schlecht gehen, dass sie Gabriel nötig hat. Weil er ein | |
Unzuverlässiger ist, egozentrisch, aufbrausend, ohne inneren Pol. | |
Im letzten Jahr zog er sich drei Monate zurück, um sich um seine | |
neugeborene Tochter zu kümmern. Er ließ sich mit einem Kinderwagen | |
fotografieren, der nicht seiner war. Trotz Babypause war er medial | |
omnipräsent, per Twitter, Chat, Interviews. In den ersten vier Wochen gab | |
es kaum einen Tag ohne Gabriel-News in den Nachrichtenagenturen. | |
Gabriel kann brillant sein. Der Brite Colin Crouch, der den Begriff | |
Postdemokratie prägte, war vor zwei Jahren in Berlin und beeindruckt von | |
dem SPD-Chef. An der Spitze der Labour-Party gebe es kaum jemand, der so | |
intellektuell, schlagfertig und gescheit ist. Aus der Ferne ist Sigmar | |
Gabriel leichter zu bewundern als aus der Nähe. | |
Er galt mal als Linker, weil er sich früh traute, die Agenda 2010 zu | |
kritisieren. Im Bundestag ist er Mitglied bei Netzwerkern und den | |
konservativen Seeheimern. Er kann wahlweise viel sein: Niemand kann in | |
Bierzelten so überzeugend den Linkspopulisten geben wie er. Aber er kann | |
problemlos in den Modus des illusionslosen Pragmatikers wechseln, | |
wirtschaftsnah, dem die sozialdemokratischen Sentimentalitäten nur noch auf | |
die Nerven gehen. | |
## Nur Gerechtigkeit reicht nicht | |
Seine Rede in Leipzig ist energisch, geschliffen, intensiv. So was schafft | |
nicht mal Hannelore Kraft. Gabriel will viel von der Partei, zu viel | |
wahrscheinlich. Die Sozialdemokratie soll die FDP beerben. Sie soll wieder | |
Basispartei sein, die bei den kleinen Leuten ist. Sie soll selbstbewusst | |
wie die Konservativen sein und nebenbei der Union die Wirtschaftskompetenz | |
streitig machen. Wirtschaftskompetenz ist das neue Schlüsselwort. Das ist | |
im Kern Gabriels Deutung der Wahlniederlage: Nur Gerechtigkeit reicht | |
nicht. Die SPD braucht Wirtschaftskompetenz. Was das konkret in der | |
Regierungspolitik heißen wird, ist noch offen. | |
Gabriel ist ideologisch biegsam. Er ist ein Aufsteiger und in vielem | |
Gerhard Schröder nicht unähnlich. Auch habituell, in dem Rauen, | |
Proletarischen, mitunter etwas Rüpeligen. | |
Der SPD-Chef sagt über sich selbst: „Ich bin Zentrist.“ So wie August | |
Bebel. Das stimmt sogar, auch. Von 2005 bis 2009 hatte die SPD vier | |
Parteivorsitzende, es gab Intrigen, Rücktritte, Schlammschlachten. Seit | |
Gabriel Parteichef ist, herrscht Ruhe. Dass er die müde Partei | |
zusammenhält, darauf hätten 2009 nicht sehr viele gewettet. Kontinuität, | |
ausgerechnet mit ihm, dem Flippigen, Nervösen. | |
Ist er noch der große Junge, der immer ein neues Spielzeug sucht, der im | |
Kopf fixer, im Denken schärfer ist – und wankelmütiger als alle anderen? | |
Seit dem 22. September hat Gabriel seine Medienpräsenz gedrosselt. Nicht so | |
wie Merkel, die seit den Koalitionsverhandlungen unsichtbar geworden ist. | |
Aber so ähnlich. Das ist ein Zeichen: Er ist anders geworden. Reifer. | |
Wieder mal. | |
14 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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