# taz.de -- Bürgerkrieg in Damaskus: Wenn Gewalt zum Alltag wird | |
> Die Fronten in der syrischen Hauptstadt ändern sich täglich, die Angst | |
> bleibt allgegenwärtig. Fast jeder kennt Menschen, die getötet wurden. | |
Bild: Militärpatrouille im Norden von Damaskus | |
DAMASKUS taz | Die militärische Lage in Damaskus ändert sich fast täglich | |
und könnte verworrener kaum sein. Die Peripherie wird weitgehend von den | |
Regimegegnern kontrolliert, das Zentrum noch von den Regierungstruppen | |
gehalten. Dies hindert die Aufständischen jedoch nicht daran, immer wieder | |
einzelne Viertel innerhalb der Stadt zu infiltrieren. | |
Sich in Damaskus zu bewegen ist riskant, in die Vororte zu fahren schlicht | |
lebensgefährlich. Oft wissen selbst die erfahrensten Taxifahrer nicht, | |
welche Straßen gerade sicher sind. Der Frontverlauf ändert sich ständig. | |
Ein Gebiet, das gestern noch als sicher galt, kann heute schon stark | |
umkämpft sein. Ostmuhajerin zum Beispiel gilt gemeinhin als sicher. Dennoch | |
hat sich dort am Montagnachmittag plötzlich eine Front aufgetan. Die | |
Gefechte waren heftig und noch bis nach Afif zu hören. | |
Gekämpft wird derzeit in vielen Orten in Damaskus: etwa in Jobar, Barze, | |
Assali Midan, Daria, Sbeina, al-Hajar al-Aswad, dem palästinensischen | |
Flüchtlingslager al-Jarmuk, Harasta und in Qabun. Mokhtar Lamani, der | |
UN-Gesandte für Syrien, sagte am Dienstag bei einem Gespräch in seinem Büro | |
im Sheraton-Hotel, er gehe davon aus, dass derzeit mindestens 20.000 | |
Kämpfer Damaskus angreifen. | |
Die Kämpfer kämen aus allen Teilen Syriens und aus dem Ausland, um die | |
Hauptstadt zu Fall zu bringen, so Lamani. Der ehemalige UN-Gesandte für den | |
Irak, der dort auf dem Höhepunkt der Gewalt zwischen 2006 und 2007 lebte, | |
als sich ein Massaker nach dem anderen abspielte, sagt: „Ich habe schon | |
viele Tote gesehen in meinem Leben. Als ich in Bagdad war, waren es jeden | |
Tag mindestens tausend. Ich neige nicht zum Dramatisieren. Aber ich | |
befürchte, dass wir hier vor Ort alle Zutaten beisammenhaben, die einen | |
Genozid ermöglichen könnten.“ | |
## Furcht vor den Rebellen | |
Lamani spricht es nicht direkt aus, aber er spielt darauf an, dass, wenn | |
Damaskus fällt, die 20.000 oder mehr Kämpfer, die unter anderem al-Qaida | |
und salafistischen Kampftruppen angehören, über die Minderheiten wie | |
Alawiten, Drusen, Christen, Aramäer oder Ismaeliten herfallen könnten, also | |
über die Ethnien, die das Regime stützen. Aber auch das Gegenteil sei | |
denkbar, deutet Lamani vorsichtig an. Bewaffnete Verbände des Regimes | |
könnten sich bei Gebietsrückeroberungen an Teilen der Bevölkerung rächen. | |
Ohnehin liege die Brisanz dieses Konflikts nicht allein in dem Umstand, | |
dass die eine Seite über Chemiewaffen verfüge, so Lamani. Konventionelle | |
Waffen hätten schon weit über 100.000 Menschen getötet, während die Zahl | |
der von chemischen Kampfstoffen Getöteten bei etwa 1.400 liege. | |
Doch nicht nur die Armee, auch die Rebellen verfügen inzwischen über ein | |
erstaunlich breit gefächertes Arsenal an konventionellen Waffen, von dem | |
sie reichlich Gebrauch machen – darunter Artilleriegeschütze, | |
Boden-Boden-Raketen und Panzerfäuste. Bei Tag und Nacht feuern die | |
Regimegegner Granaten und Raketen diverser Typen auf das Zentrum ab. | |
Kollateralschäden bleiben bei solchem Vorgehen nach dem | |
„Trial-and-Error“-Prinzip naturgemäß nicht aus. | |
An einem einzigen Tag in diesem Monat gingen allein in den christlichen | |
Innenstadtvierteln Tijara, Kasaa und Bab Tuma 80 Raketen nieder. Anwälte, | |
Hausfrauen, Schulkinder und Taxifahrer starben. So gut wie jeder in | |
Damaskus hat inzwischen einen Angehörigen verloren oder kennt einen Freund, | |
aus dessen Familie jemand bei Kampfhandlungen getötet wurde. Der donnernde | |
Lärm der Raketen- und Granateneinschläge gehört inzwischen ebenso zum | |
vertrauten Klangteppich der Stadt wie das Hupen der Taxis und die lauten | |
Rufe der Straßenverkäufer. | |
## Explodierende Bomben mitten am Tag | |
Auch positionieren die Aufständischen zahlreiche Scharfschützen, die vom | |
Randgebiet aus auf Soldaten zielen und in deren Fadenkreuz ebenfalls | |
Zivilisten geraten können. Immer häufiger kommt es an stark frequentierten | |
Orten zu Selbstmordattentaten. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass eine | |
Autobombe explodiert. Zuletzt wurden etwa Wohnblöcke von Alawiten in Maze | |
86, die Polizeiwache in Reken al-Din und die Wache der Kriminalpolizei in | |
Bab Mussala Ziel von Autobomben. | |
Aber auch in Sahet Rais, einem Platz mit vielen Restaurants, und in Sahet | |
Siuf, der Haupteinkaufsmeile von Jaramana, explodierten Bomben mitten am | |
Tag, wenn die Straßen am vollsten sind, zuletzt vor einem Monat. Es ist | |
natürlich kein Zufall, dass dort Drusen wohnen, die hinter dem Regime | |
stehen. | |
„Warum hat euer Außenminister Guido Westerwelle niemals auch nur einen | |
dieser Autobombenanschläge oder eins der Selbstmordattentate, bei denen bis | |
zu Dutzende Zivilisten getötet werden, verurteilt?“, fragt ein wütender | |
Anwohner nach einem Anschlag in al-Marjah. | |
Weltweite Bekanntheit hat dieser Tage ein weiterer Schauplatz der Fronten | |
erlangt: Maalula, eine Ortschaft im Nordosten von Damaskus. Omar Khattab, | |
ein Freund, der in Maalula wohnt, schreibt auf Facebook: „Unsere Gegend ist | |
umstellt von bewaffneten Kämpfern, die die Zufahrtstraßen ins Zentrum | |
blockieren. Es gibt keinen öffentlichen Nahverkehr mehr.“ Er habe gehört, | |
dass es in der Nähe zu Massakern an Christen gekommen sein soll, aber | |
gesehen habe er die Opfer nicht mit eigenen Augen, weil er sich nicht | |
traue, das Haus zu verlassen. | |
## Verschanzte Rebellen im Nachbarhaus | |
Modar al-A., Medizinstudent aus Abbassyn im Nordosten von Damaskus, lebt | |
hundert Meter von der Front entfernt, an der jeden Tag Menschen sterben. | |
„In einem Nachbarhaus von mir verschanzen sich Angehörige der Freien | |
Syrischen Armee (FSA). Es ist nur eine Frage der Zeit, dass wir bombardiert | |
werden.“ Auf die Frage, weshalb er nicht wegzieht, entgegnet er: „Ich habe | |
kein Geld, ich komme aus einer armen Familie, wo soll ich hinziehen? | |
Damaskus ist teuer geworden, es gibt keine bezahlbaren freien Wohnungen.“ | |
Al-A. lebt in einem Haus mit zehn Wohnungen, die vor etwa einem Jahr noch | |
alle bewohnt waren. Heute sind nur noch sein Apartment und das eines | |
Nachbarn bewohnt, ein Geisterhaus entsteht. „Ich bin sehr sensibel, ich | |
hasse diesen Lärm der Geschosse. Ich möchte einfach nur ein ruhiges und | |
geordnetes Leben führen. Meine derzeitige Situation macht mich krank.“ | |
Adam, ein Einwohner von Harasta im Nordosten von Damaskus, hatte sich den | |
Aufständischen angeschlossen, bis er verletzt wurde. Nun ist er aus Harasta | |
geflohen und schläft in Parks oder bei Bekannten. Alles, was er hat, trägt | |
er in einer kleinen braunen Plastiktüte mit sich herum. Adam umgeht die | |
Checkpoints, so gut er kann, und ist nachts nicht viel auf den Beinen. „Ich | |
habe kein Haus mehr, in das ich zurückkehren kann. Mein Viertel in Harasta | |
ist komplett zerstört“, berichtet Adam. | |
Bei all diesem Leid wundert es kaum, dass die Syrer resignieren, kriegsmüde | |
geworden sind, die Lust am Leben verlieren. Auch das zivile Leben wird | |
zunehmend militarisiert, der Alltag immer gewalttätiger. Einige | |
Beobachtungen aus dem Zentrum von Damaskus, vielleicht zufällig, aber doch | |
ungewöhnlich genug, um erwähnt zu werden: Ein Knabe schlägt seine kleine | |
Schwester auf der Straße mit seinem Ledergürtel. Diese schreit, aber keiner | |
der Passanten schreitet ein und maßregelt den Jungen. Ein beliebtes | |
Kaffeehaus an einer belebten Kreuzung: Ohne jegliche Vorwarnung springen | |
zwei Teenager von ihren Stühlen auf, packen einander am Hals und stoßen den | |
Tisch um. | |
## Kinder spielen Krieg | |
Im Christenviertel der Altstadt von Damaskus: Fünf Jungen spielen | |
gegenseitiges Erschießen mit Spielzeuggewehren aus Plastik. Zwei Jungen | |
tragen Funkgeräte bei sich und geben einander Kommandos durch, bevor sie | |
ihre Spielkameraden erschießen. Es sieht aus wie im richtigen Leben. Sie | |
haben die Kunst des Häuserkampfes schon in jungen Jahren perfekt | |
einstudiert. Die Szene spielt sich ausgerechnet in einer engen Gasse ab, an | |
deren Wände Plakate mit Damaszener Bürgern kleben, die Todesopfer dieses | |
Krieges geworden sind. | |
Solche Szenen hat es auf den Straßen von Damaskus vor ein paar Jahren noch | |
nicht gegeben. Die Brutalität, die die Kinder sehen, vor Ort oder in den | |
Medien, adaptieren sie spielerisch, bis es bitterer Ernst wird wie im Fall | |
des Knaben, der seine kleine Schwester peinigt. Doch die Kinder sind die | |
Zukunft dieses Landes, wie überall, „und was soll aus Syrien einmal werden, | |
wenn sie von klein auf nur Gewalt kennen?“, fragt ein Beobachter, den das | |
Kriegsspiel der Kinder angesichts der Erinnerung an so viele Tote mit Sorge | |
erfüllt. | |
Aber es gibt auch vereinzelt Waffenstillstände, nämlich dort, wo ein | |
militärisches Patt herrscht, Aufständische und Regierungstruppen sich | |
kräftemäßig seit zwei Jahren ausgewogen gegenüberstehen. So haben die FSA | |
und die Regierungsarmee vereinbart, sich in Mleha, Deir al-Asafir und | |
Zebdin nicht mehr gegenseitig anzugreifen. Die FSA verpflichtete sich, den | |
Luftwaffenstützpunkt in Mleha nicht mehr zu attackieren, die Armee sicherte | |
im Gegenzug den Bewohnern von Mleha, Deir al-Asafir und Zebdin freies | |
Geleit zu durch einen Checkpoint nach Damaskus zu. | |
12 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Martin Lejeune | |
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